EU ermahnt Türkei: mehr Respekt gegenüber Bürgern
Erst wenige Tage ist der EU-Erweiterungskommisar Stefan Füle von seiner Dienstreise in die Türkei zurück, da erfolgt schon die offizielle Aufforderung der EU, die Rechte der türkischen Bürger zu respektieren.
"Mehr Demokratie in der Türkei bedeute mehr Respekt und Anerkennung der Vielfalt der türkischen Gesellschaft", sagte EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle nach seinem Besuch in Ankara. "Dies bedeutet auch mehr Respekt für die privaten Entscheidungen und Lebensformen der Bürger", so der EU-Kommissar weiter. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte die komplette Abschaffung gemischter Studentenwohnheime bis Anfang 2014 angekündigt.
Längst sind drei Viertel der staatlichen Studentenwohnheime in der Türkei nach Geschlechtern getrennt. Die islamisch geprägte Regierung AKP will in den restlichen Wohnheimen "unmoralisches Treiben" unterbinden. „Es ist unklar, was genau an diesen Orten vor sich geht“, sagte der Premier. „Alle wohnen dort durcheinander, alles Mögliche kann passieren. Als konservativ-demokratische Regierung müssen wir eingreifen. “Jetzt wendet sich selbst Vizepremier Bülent Arınç gegen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan – ein Riss geht durch die Partei. Arınç hatte bereits während der Gezipark-Proteste auf Diskussion statt Diktat mit den Protestlern gesetzt, so hatte er sich bei den Demonstranten für die Brutalität der Polizei entschuldigt. Jetzt wendet er sich offen gegen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan .
"Wenn Erdoğan es erlaubt und meine Entscheidung respektiert", werde er bei den nächsten Wahlen nicht mehr für die Regierungspartei AKP zur Verfügung stehen, sagte Arınç am Freitag. Vorangegangen war ein chaotisches Hin und Her zwischen Arınç und Erdoğan . Zuerst wurde Erdoğan mit den Worten zitiert, er wolle gegen unehelich zusammenwohnende Studenten vorgehen, aber Arınç sagte dann, das sei ein Missverständnis – nur um tags darauf von Erdoğan selbst korrigiert zu werden: Doch, er habe genau das gesagt und auch so gemeint. Nun gab Arınç zu Protokoll, Erdoğan sei verantwortlich für den Konflikt, letztlich sei er, Arınç, nicht verantwortlich für Erdoğans Worte. Er forderte den Ministerpräsidenten laut Medienberichten auf, die Sache zu klären. Er wolle nicht mehr die Verantwortung für die Ausschweifungen Erdoğans übernehmen. Das sei ihm alles zu viel geworden.
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Die Hürriyet zitiert Arınç:
„Meine Freunde in der Opposition haben das Recht, mich erbarmungslos zu kritisieren. Doch, wenn sie mir vorab sagen, dass sie mir vertrauen, dann empfinde ich das als eine symbolische Ehrenmedaille (…) Natürlich ist auch der Premierminister eine starke Persönlichkeit. Er ist ein guter Familienvater, ein frommer Mann und er hält sein Wort – soweit ich das betrachten kann (…) Der Job des Regierungssprechers ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Deshalb müssen meine Worte sehr genau ausgewählt sein (…) Manchmal mache ich offizielle und abgestimmte Erklärungen, die 12 Stunden später vom Premier dementiert werden. Auch den Journalisten sind diese Widersprüche nicht entgangen. Einige missbrauchen diese Widersprüche, um uns beide zu attackieren. Doch andere wiederum haben absolut recht mit ihrer Kritik.“
Der öffentliche Konflikt mit Arınç könnte Erdoğans Prestige bei der Parteibasis schwer beschädigen. Arınç war immer das Gesicht der frommen, konservativen, aber "human" denkenden und fühlenden Basis der AKP. Sein Verbleiben in der Partei war die Gewähr dafür, dass die AKP den Weg der islamischen Rechtschaffenheit nicht verlassen hat. Er gilt als einer von Erdoğans engsten und längsten Weggefährten.
Erdoğan hatte auch angekündigt, Studenten, die in Privatwohnungen gemischtgeschlechtlich zusammen wohnen, mit Polizeigewalt und unter Strafe zu trennen. Arınç wies den Ministerpräsidenten nun zurecht: "Es gebe nichts in den EU-Regeln, was einen Wohnungseigentümer daran hindern könne, seine Wohnung zu vermieten, an wen er wolle". Als nun auch noch Erdogans neueste Idee dazukam, das Volk dazu aufzurufen, Studenten zu denunzieren, war wohl der Bogen überspannt. Doch die Drohung eine Geschlechtertrennung per Verordnung durchsetzen zu wollen, sei völlig Fehl am Platz. Es sei auch falsch, dass sich ein „ganz besonders eifriger“ Gouverneur der Sache angenommen habe und die Forderung sofort durchsetzen wolle.
Kritiker glauben, Erdogan ziele in Wahrheit auf die Koedukation in Schulen und Universitäten, eine der wichtigsten Errungenschaften der türkischen Republik. Der Vizechef der kemalistischen CHP, Umut Oran, fragte im Parlament sarkastisch: „Wird eine Moralpolizei nun Wohnungen durchsuchen wie im Iran?“
Wer aber, so fragen Juristen, kann erwachsene Menschen überhaupt daran hindern zu leben, wie und mit wem sie wollen? Auch dafür hat die Regierung eine Lösung parat: die fragwürdigen Terrorismusparagrafen des Strafrechts. Innenminister Muammer Güler erklärte das Zusammenleben gemischter Geschlechter zur „Keimzelle für Terrorismus, Prostitution und Kriminalität“. Auch von „Marodeuren“ ist wieder die Rede, wie im Sommer, als die Jugend auf dem Istanbuler Taksim-Platz rebellierte. Offenbar glaubt der Premier, den „untürkischen Lebensstil“ der Studenten mit harter Hand bekämpfen zu können.
In Istanbul ist nun überall zu hören, Arınç habe bereits im Sommer zurücktreten wollen, auf dem Höhepunkt der Gezi-Proteste, und sei aber entweder von Erdoğan oder von Gül davon abgebracht worden.
Ein junges Mädchen meint:
“Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich kann meine Freunde, meinen Cousin oder meine Familie einladen, um mich zu besuchen. Meinen Mietvertrag habe ich selbst unterschrieben. Die Polizei hat kein Recht dazu, mich hier zu kontrollieren.”
Ein junger Mann ergänzt:
“Unsere Gesellschaft, die für sich geltend macht, konservativ und islamisch zu sein, sieht religiöse Eheschließungen als rechtmäßig an. Aber sie glauben, es ist unethisch, wenn Freunde miteinander in ihren Wohnungen reden? Diese Mentalität kann ich weder verstehen noch akzeptieren.”
Hunderte Menschen haben deshalb in Istanbul erneut gegen die Pläne des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan protestiert.
Eine Demonstrantin sagte: “Ich studiere an der Universität. Ich bin eine junge Frau. Ich bin hier, weil die Regierungspartei AKP erklärt hat, dass männliche und weibliche Studenten nicht mehr zusammenleben dürfen. Das ist gegen uns gerichtet. Ich protestiere als Frau und als Studentin.”
Der Politologe Dr. Cengiz Aktar vom Istanbuler Politikzentrum sagte: “Ich glaube nicht mal, dass das durch eine gesetzliche Regelung oder ein Urteil durchgesetzt werden kann. Aber ich kann Ihnen sagen, was passieren wird. Einige Leute, die bereit dazu sind, die “Ethik-Polizei” zu spielen, werden junge Leute und ihre Familien drangsalieren und sich dabei auf die Aussagen des Ministerpräsidenten berufen. Es hat bereits angefangen.”
Politisch ist der öffentliche Streit eine Katastrophe für die Partei. Im nächsten Jahr stehen Wahlen an. Erdoğan hatte im Juni ganz auf Polarisierung gesetzt, um angesichts der liberalen Protestbewegung gegen ihn zumindest die fromme Kern-Gefolgschaft bei der Stange zu halten. Doch vielleicht liebäugelt Arınç auch damit, sowohl der neue AKP-Vorsitzender als auch der nächste Premierminister der Türkei zu werden.
Die EU hatte am Dienstag nach einer Unterbrechung von fast drei Jahren mit Gesprächen über den Bereich der Regionalpolitik ein neues Verhandlungskapitel mit der Türkei eröffnet. Füle sagte, der Ausgang der Debatte jetzt sei "sehr wichtig". Viele weitere Bereiche sind wegen des Zypern-Konflikts und wegen des Widerstandes von EU-Ländern gesperrt.
Štefan Füle, geboren am 24. Mai 1962 in Sokolov, ist ein tschechischer Diplomat, ehemaliger parteiloser Minister für europäische Angelegenheiten in der Regierung Fischer und Mitglied der Europäischen Kommission Barroso II.
Bülent Arınç, geboren 1948 in Bursa, ist ein türkischer Politiker der Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP), zu deren Gründern er 2001 gehörte. Von 2002 bis 2007 der 22. Parlamentspräsident der Türkei, ist Arınç seit Mai 2009 Mitglied des Kabinett Erdoğan II und ein Stellvertreter des Ministerpräsidenten.