75. Todestag Atatürks - heute hält die Türkei inne!
Heute jährt sich der Todestag Mustafa Kemal Atatürk zum 75. Mal, seit er am 10. November 1938 um fünf nach neun verstarb.
So wiederholt sich auch das jährlich morgens um fünf nach neun stattfindende Ritual zum Gedenken an seinen Todeszeitpunkt: die Sirenen heulen, der Verkehr kommt zum erliegen, viele Menschen halten inne. Allerdings sind es längst nicht mehr so viele begeisterte Anhänger Atatürks wie es schon waren.
Mit dem Ausrufen der Republik Türkei im Jahr 1923 wurde gleichzeitig ein bedeutsamer Satz von Atatürk zur prägenden Leitidee der nun folgenden Epoche: "Das Kalifat ist ein Märchen der Vergangenheit, das in unserer Zeit keinen Platz mehr hat. Religion und Staat müssen getrennt werden". Einen modernen Nationalstaat wollte Atatürk schaffen, das Osmanische Reich und damit die Vorherrschaft des Islam sollen der Vergangenheit angehören. Vorbilder, die von besonderer Bedeutung für Atatürk sind, sind die demokratischen Staaten Europas, in denen Wohlstand und Fortschritt herrschen.
Und die Umsetzung seines neuen Türkeibildes beginnt unmittelbar und für viele Muslime kaum tragbar, was sich allein schon in den Straßen an Veränderungen ergibt: Atatürk verbietet den traditionellen Fes, der immer die typisch türkische Kopfbedeckung der Männer war. Rückständig und altmodisch sei die Kopfbedeckung Fes, besser sei der westliche Hut. Atatürk selbst trägt immer Anzug, Krawatte, eine Weste und seinen geliebten Panamahut. Er schafft das religiöse Rechtssystem der Scharia genau so ab, wie den Religionsunterricht an den Schulen. Islamischer Kalender weg, Maßeinheiten und Schriftzeichen werden aus Europa übernommen. Die Pilgerfahrt nach Mekka wird verboten, der vormals arabische Aufruf zum Gebet wird durch den türkischsprachigen Aufruf ersetzt.
"Unsere Inspiration beziehen wir nicht aus dem Himmel ... sondern aus dem Leben", sagt Atatürk. Gleichberechtigung von Männer und Frauen wird festgeschrieben, Frauen erhalten das Wahlrecht, kurz: eine Vielzahl von Neuerungen und Reformen, die durchaus mit heutigen demokratischen Grundrechten in moderner Staaten mithalten können, auch wenn sie in autoritärer Form umgesetzt wurden. Denn Atatürk nutzte auch die Macht des Militärs zur Umsetzung seiner Ideologien.
"Die Reformen gipfelten meines Erachtens in der Entscheidung, die arabische Schrift durch das lateinische Alphabet zu ersetzen", erklärt der Islamwissenschaftler Professor Udo Steinbach aus Berlin.
Sind die Aufhebungen einiger der Verbote Atatürks nun ein Rückschritt oder eher als ein Fortschritt in Richtung Demokratie zu verstehen?
In den kommenden Jahrzehnten werden vielfältige Veränderungen vorgenommen. Seit Jahren erklingt der Gebetsaufruf wieder auf Arabisch, der Sprache der Prediger des Islam, die von den türkischen Bürgern in der Regel nicht verstanden werden. So wird auch der Religionsunterricht wieder eingeführt und die Pilgerfahrt nach Mekka wieder erlaubt.
Im Zuge der Reformen wurde auch der Schulschwur auf die Republik und Atatürk abgeschafft. "Ich bin ein Türke" musste jeder Schüler allmorgendlich beim Schulappell sagen, auch wenn er Kurde war oder einer anderen Volksgruppe angehörte. Ist damit aber ein Schritt Richtung Demokratisierung erreicht? Haben Volksgruppen damit wirklich Gleichberechtigung und Gleichbehandlung vor dem Gesetz erhalten?
Mittlerweile gibt es im türkischen Parlament Abgeordnete, die das Kopftuch tragen, nachdem kürzlich das Kopftuch an Schulen und Universitäten offiziell erlaubt wurde. Die vier Abgeordneten im Parlament wurden bei ihrem ersten Auftritt mit viel Beifall bedacht. Aber ist es nicht als Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam auch gleichzeitig als Aussage zu einer bestimmten Gruppe zugehörig zu sein, ein Zeichen seiner eigenen, privaten politischen Einstellung, der zu Beeinflussungen führen kann? Ist das noch Trennung von privatem Glauben und Staat?
Türkei-Experte Günter Seufert vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit
"Es gab natürlich Widerstand gegen diesen Schritt. Dass er trotzdem getan werden konnte, zeigt, wie sehr sich die türkische Gesellschaft vom Kemalismus als Staatsideologie emanzipiert hat", sagt der Türkei-Experte Günter Seufert vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit.
Aber wohin führt diese Emanzipation, wenn jetzt der Kemalismus wieder Schritt für Schritt durch Islamismus ersetzt wird? Wenn demokratische Proteste und damit die Meinungsfreiheit niedergeknüppelt werden, Teilnehmer nach den Anti-Terrorgesetzen bis zu fünf Jahre in Untersuchungshaft gesteckt werden, Journalisten trotz Pressefreiheit aufgrund ihrer Berichterstattung im Gefängnis sitzen oder einfach ihren Job verlieren. Studenten aus gemischten Wohneinheiten pauschal als verdächtig gelten. Ist das tatsächlich mit Demokratisierung und Fortschritt zu bezeichnen?
Atatürk würde die heutige Türkei nicht verstehen: "Sollte ich eines Tages großen Einfluss oder Macht besitzen, halte ich es für das Beste, unsere Gesellschaft schlagartig – sofort und in kürzester Zeit – zu verändern. Denn im Gegensatz zu anderen glaube ich nicht, dass sich die Veränderung erreichen lässt, indem die Ungebildeten nur schrittweise auf ein höheres Niveau geführt werden ... Nicht ich darf mich ihnen, sondern sie müssen sich mir annähern."