Durch das zivile Kurdistan - Der Traum vom Film
Malatya: Eine türkische Stadt, nicht kleiner als Düsseldorf. Näher an der syrischen Grenze als an Ankara. Mit Uli Gellermann in Anatolien.
Vor dem Kino des modernen Einkaufszentrums: Drei kleine Jungen lösen sich aus dem Pulk ihrer Klasse, kommen auf den Ausländer zu, verbeugen sich und sagen fast synchron: “Welcome in Turkey”. So lässt es sich gut fremd sein. In dem Ort, dessen einzige deutsche Schlagzeile vor drei Jahren vom Mord an drei christlichen Missionaren geprägt war. Kaum jemand in Deutschlandmachte sich die Mühe, die Nachricht zu verfolgen: Nein, die Mörder waren eben keine Islamisten, wie der bedingte deutsche Reflex es eigentlich erforderte. Und Ja: Alle Täter wurden festgenommen und es waren Ultranationalisten, Leute, die sich gegen die gegenwärtige Regierung, getragen von einer islamisch geprägten Partei, verschworen hatten. Malatya will neue, andere Schlagzeilen machen. Diesmal mit einem Filmfestival.
Zwei Armenier sind Gäste des Festivals. Wer die Geschichte der beiden Länder kennt, der weiß: Das wäre noch vor fünf Jahren unmöglich gewesen. Eigentlich sollte das Filmfest in Malatya “Golden Apricot” heißen. Denn rund neunzig Prozent der Weltproduktion an getrockneten Aprikosen kommt aus der Umgebung der Stadt. Aber die armenischen Nachbarn, deren Filmfestival seit langem den selben Namen trägt, protestierten: Der Gouverneur der Provinz Malatya zog den Namen zurück. Das wäre sogar noch vor zwei Jahren unwahrscheinlich gewesen. Der Gouverneur gehört der selben Partei an, der islamisch orientierten AKP, die seit acht Jahren die türkische Regierung stellt. Die türkische Linke versteht die Welt nicht mehr. Und Angela Merkel, die gerne gegen die Türkeipunktet, wenn es um deren Eintritt in die Europäische Union geht, versteht ohnehin zur Zeit nur Bahnhof.
Der Busfahrer will das Geld nicht. Großzügig winkt er die Ausländer nach hinten durch: Von Gästen nimmt er nichts. Auch nicht der Markt-Händler für seine Trockenfrüchte, die er generös verteilt. Nein, wir sollen nichts kaufen, wir sollen genießen. Das ist schwer für den Deutschen. Auch einen höchst intellektuellen Animations-Film über Scheiße (”Oxidized Waste of Food”) hätte er nicht in einem türkischen Kino erwartet: Sechs Minuten über die physikalische Beschaffenheit von Exkrementen, warum sie so notwendig sind, als Dünger, aber auch nützlich für die Psyche. Na klar, sagen die Festivalmacher aus Istanbul leicht verächtlich, so ein Film kommt natürlich aus unserer Stadt, aber doch nicht von hier, aus der Provinz. Und wer die Aghas, die Grundbesitzer, auf den überfüllten Basar-Straßen sieht, in ihren Pluderhosen, den altmodischen langen Jacketts, aus deren Westen die schweren, goldenen Uhrketten heraushängen, der will das gern glauben. Aber die modernen Häuser schießen nebenan aus dem Boden der Stadt, dem kleinen König Auto werden neue Straßen und Brücken gebaut, Malatya ist Boom-Town. Und wer die türkischen businessmen nach dem Beitritt zur EU fragt, der kann mit einer Gegenfrage rechnen: Ob denn die EU noch liquide sei. Von der Höhe der zweistelligen türkischen Wachstumsrate aus lässt sich gut runtergucken.
Der Traum vom Kino soll auch auf dem Dorf wahr werden, erzählt der Regisseur Ahmet Uluçay in seinem Film “Boote aus Wassermelonen”. Zwei Jungen entwickeln unermüdlich eigene, hölzerne Projektionsapparate, erfinden für sich den Film-Projektor neu, weil das ihr Ausstieg aus dem Dorf sein könnte und der Aufstieg in eine andere, eine bessere Welt. Diesen Aufstiegswillen scheint die komplette Türkei zu atmen. Wie sonst wäre ein Filmfestival in Malatya denkbar, einer Stadt, in der mindestens die Hälfte der Einwohner Kurden sind. Nach Jahren der Ignoranz gegenüber den Kurden, nach der faktischen Leugnung dieser großen Minderheit in der Türkei, sind die wichtigen Schritte zur Lösung des Kurdenproblems ausgerechnet von der konservativen Regierung Erdogan unternommen worden. Das einst als “wild” apostrophierte Kurdistan beginnt sich zu zivilisieren. Dem kleinen Mann, ob Türke oder Kurde, geht es deutlich besser als in den Jahrzehnten zuvor. Der kleine Mann im Film heißt Güven Kiraç (”Gegen die Wand”, “Takva”). In “The Crossing” gibt er den Angestellten, der klaglos seine Pflichten erfüllt und, nach dem Tod seiner Frau auf dem Weg zur Entbindung, ein falsches Leben im richtigen führt. Überzeugend spielt er den Vater einer kleinen Familie, deren größere Hälfte längst auf dem Friedhof liegt und setzt so, in einer Tragödie mit mindestens fünf glücklichen Enden, eine der Zielmarken für die neue Türkei: Kleine Familien, größere soziale Sprünge.
Aus Malatya kommen auch große Männer: Torgut Özal, ein ehemaliger Ministerpräsident der Türkei wurde hier geboren. Nach ihm ist die längste Straße der Stadt benannt. Hrant Dink, dem armenischen Journalisten und Verleger, ist noch keine Straße in Malatya gewidmet. Er, der hier geboren wurde, fand seinen Mörder in Istanbul. Die Entwicklung des Vielvölker-Staates Türkei verlangt einen langen Atem. “Hush dar dam” - seinem “Atem Aufmerksamkeit schenken” - ist eine der Regeln des religiösen Sufi-Ordens, dem Torgut Özal angehörte. Er war es, der nach dem zweiten Golfkrieg den Dialog mit den Kurden begann. Mit Recep Erdogan, dem aktuellen Ministerpräsidenten, der auch ein Mitglied der selben, spirituellen Sufi-Gemeinschaft ist, wurde immerhin ein kurdischer TV-Sender möglich. Ob es die dritte Sufi-Regel, genannt die “innere mystische Reise” war, die ihn zu diesem Schritt führte, ist unbekannt. Sicher ist, dass es einen Film ausgerechnet aus Malatya gibt, in dem ausschließlich gelacht wird: Zwanzig Minuten lang schaut einer nach der anderen aus der Leinwand - der Händler, die Lehrerin, der Bäcker, an die dreißig Leute - und lacht und lacht. Auf den Fotos der fünf Mädchen mit den Fremden wir auch viel gelacht. Mit Grund: Sie hatten zuvor noch nie einen richtigen Ausländer gesehen. In Malatyaändert sich mehr als ein Festival alleine leisten kann.
Quelle: Readers Edition