Die Insel der Vertriebenen - Der Sturm der Gazellen
Yasar Kemals epischer Roman vom Neuanfang nach dem Krieg - Es gäbe Hunderte von Zitaten über das Werk des türkischen Schriftstellers Yasar Kemal, mit dem sich eine Rezension beginnen ließe.
Die französische Zeitung „Le Figaro“ bringt es auf den Punkt: „Fast alle unsere Romanschriftsteller wirken wie Zimmerpflanzen neben diesem Dichter!“ Anders gesagt: Der Mann kann schreiben. Und wie! Mitreißend, wortmächtig, magisch, farbenprächtig und ausgesprochen versöhnend. So auch in seinem neuesten Buch „Der Sturm der Gazellen“, dem zweiten Teil der „Ameiseninsel-Trilogie“.
Kemal thematisiert eines der tragischsten Ereignisse in der jüngeren Geschichte der Türkei: Den so genannten „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Griechenland und der Türkei nach Beendigung des Nationalen Befreiungskampfes. Im Zuge dieser 1923 im Vertrag von Lausanne vereinbarten „ethnischen Säuberung“ erfolgte die unfreiwillige Umsiedlung von rund 1,5 Millionen Griechen aus der Türkei nach Griechenland und 500 000 Türken in die entgegen gesetzte Richtung. Eine Tragödie unmenschlichen Ausmaßes, deren Schmerzen bis zum heutigen Tag noch reichen und deren literarische Verarbeitung in der Türkei bislang ein Tabu gewesen ist!
In „Der Sturm der Gazellen“ erzählt Kemal von der friedlichen Besiedlung einer kleinen Insel in der Ägäis, die früher von zumeist wohlhabenden Griechen bewohnt wurde. Zum Auftakt des Romans leben lediglich drei Menschen auf der Insel, die im ersten Band der Trilogie („Die Ameiseninsel“, 2001) die Insel entdeckten und sich dort niederließen: der ehemalige Offizier Musa, genannt „der Nordwind“, die Mutter Lena und der junge Vasili. Nach und nach treffen aus allen Teilen des untergegangenen osmanischen Reiches geschundene Menschen auf der Insel ein und versuchen einen Neuanfang. So unterschiedlich auch die Herkunft der Flüchtlinge ist, egal, ob sie aus den Bergen, aus der Steppe oder von anderen Inseln kommen, vereint werden sie von demselben Schicksal: Sie alle sind unfreiwillig Entwurzelte, aus der Heimat vertrieben und Opfer eines Krieges, dessen Leid sie ertragen müssen, dessen Sinn sie nicht verstehen. Ein jeder bringt seine Geschichte mit, die Kemal geschickt zu einem literarischen Mikrokosmos zu vermischen vermag.
Ganz gleich ob sie früher Fischer, Offiziere, Barden, Bauern oder Großgrundbesitzer waren, ganz gleich ob sie Muslime, Christen, Aleviten, Armenier, Jeziden oder Kurden sind, hier auf der Insel müssen sie zusammenhalten, um einen Neuanfang zu schaffen. Diese „multikulturelle“ Gemeinschaft der Vertriebenen, die bereitwillig ein friedliches Geben und Nehmen praktiziert, muss sich aber auch gegen das wieder erwachte Profit- und Machtdenken von Parteibonzen und Geschäftsleuten vom Festland zur Wehr setzen. Auch auf dieser paradiesischen Insel ist der Friede sehr zerbrechlich, werden christliche Kirchen zerstört, Häuser beschlagnahmt und Zwietracht gesät.
Dass gute Übersetzer aus dem Türkischen rar sind, beweisen einige Bücher, die aufgrund ihrer schlechten Übertragung die ihnen gebührende Gunst der Leser in Deutschland nicht erhielten. In dieser Hinsicht kann sich Yasar Kemal glücklich schätzen, denn er wird von einem der besten seiner Zunft übersetzt. Cornelius Bischoff hat sich zu Recht einen Ruf als „die deutsche Stimme Yasar Kemals“ erworben. Bischoff, der seine Kindheit und Jugend in der Türkei verbrachte, verbindet eine langjährige Freundschaft mit Yasar Kemal, dessen Stil, Erzählimpetus und Ausdrucksweise er im Laufe der Jahre verinnerlichte. So macht denn auch seine kongeniale Übersetzung die Lektüre von „Der Sturm der Gazellen“ zu einem literarischen Genuss.
Bleibt nur noch die Frage nach dem Literatur-Nobelpreis, zu dessen engstem Anwärterkreis Kemal seit Jahren gehört. Wenn die Jury so viel Leichtsinn an den Tag legt und Elfriede Jelinek und Harold Pinter auszeichnet, wird sie hoffentlich soviel Mut haben, einen echten Großmeister der Literatur auszuzeichnen. Für die war doch der Nobelpreis gedacht, oder?
Nevfel Cumart
Yasar Kemal: „Der Sturm der Gazellen“. Unionsverlag Verlag, Zürich. 2008. 448 Seiten. 12,90 Euro.