Die Welt hinter dem Schleier - Zorngebete
- Geschrieben von Portal Editor
Die französisch-marokkanische Saphia Azzeddine präsentiert eine verstörende Emanzipationsgeschichte: Von der Landhirtin zur Hure!
Saphia Azzedine macht ihren Leserinnen und Lesern eine klare Ansage und lässt ihre Heldin Jbara gleich am Anfang des Romans „Zorngebete“ folgende Worte sagen:: „Sie brauchen gar nicht ,bäh!’ zu sagen. Ich werde keine Poesie hineinlegen, wo keine ist.“ Und es liegt wahrlich keine Poesie in dem Auftakt dieses verstörenden Entwicklungsromans: Jbara ist sechzehn Jahre alt und wird gevögelt. Von hinten. Von dem Hirten Milioud. Er stinkt. Weil Jbara aber auch stinkt, hebt sich das am Ende auf. Milioud grunzt wie ein Schwein und vögelt „wie ein Kamel, mit schwitzenden Eiern“. Das Elend stinkt nach Arsch. „Und Miliouds Arsch hat nie Wasser gesehen“. In einer schmutzigen Plastiktüte lässt Milioud jedes Mal einen Granatapfeljoghurt und einige Schokoladenkekse für Jbara zurück. Für sie „das Maximum an Genuss“. So schnörkellos und hart lassen sich auch Leser in den Bann ziehen.
Ständig hört der Vater auf die Worte des „fkih“
Ständig hört der Vater auf die Worte des „fkih“, dem Geistlichen in der benachbarten Siedlung, dem „größten Idioten des Dorfes“. Der auf „Kosten der Armen und Unwissenden“ lebt. Der ständig predigt, dass die größte aller Sünden für junge Frauen darin bestehe, keine Jungfrau mehr zu sein. Pech für Jbara, dass Milioud sie schwängert. Der Vater verstößt sie und jagt sie aus dem Dorf. Glück für Jbara, dass aus einem vorbeifahrenden Bus ein rosaroter Rollenkoffer mit dem Aufdruck „J’taime d’Dior“ herunterfällt. Darin ein Bündel Geld und eine Ausstattung an gewagter Unterwäsche, die dem schönen Hirtenmädchen die Zukunft weisen wird.
Sie bricht auf in die Stadt und arbeitet zunächst als Küchenhilfe. Sie bezahlt mit abendlichen Blowjobs für ein kleines Zimmer über dem versifften Restaurant. Ihr Kind gebärt sie im Straßenstaub und lässt es zurück. Ein Schmerz und Elend „bis zum Gehtnichtmehr“. Danach der nächste Job. Ein kleiner Aufstieg als Hausmädchen in einer reichen Familie.
Dort wird sie vom Hausherrn, dem Sidi, regelmäßig vergewaltigt. „Ich weiß nicht, was ich machen soll, weinen ist so altmodisch“. Doch Jbara zerbricht auch hier nicht, bewahrt ihre innere Freiheit. Und als der Sidi aus einer Laune heraus ihr die eigene Lust vor Augen führt, trifft sie eine Entscheidung: Sie wird eine Prostituierte, tanzt in einem edlen Nachtclub, verdient so viel, dass sie ihren Vater mit einem Fernseher gnädig stimmt, vor dem die arme Sippe eintönige Stunden verbringt. Das Ziegenlederzelt bekommt eine Satellitenschüssel, während aus Jbara die schöne „Scheherazade“ wird, die Gespielin eines reichen Scheichs, der seine sexuellen Gelüste und Perversionen an ihr austobt. Ein hoher Preis, den das Hirtenmädchen auf dem Weg zur Prostituierten zahlt.
Bekannt war sie in erster Linie als Schauspielerin und Drehbuchautorin
Während all dieser Zeit hat Jbara einen Vertrauten: Allah. Zu ihm spricht sie ständig, zu ihm betet sie manchmal. Manchmal klagt sie auch. Mal ist sie wütend, mal dankbar. Oft aufgebracht. Doch niemals macht sie ihn schuldig für ihr Schicksal. Manchmal fragt sie ihn auch und bettelt um Verständnis: „Kann man seinem Schicksal entgehen? Hat ein Mädchen wie ich überhaupt ein Schicksal? Kannst Du mir im Ernst zum Vorwurf machen, dass ich ein Dach überm Kopf der Straße vorgezogen habe, ein bisschen Wärme der Kälte und ein Bett dem Bordstein?“
Wer solch ein drastisches Buch in solch zorniger Sprache schreibt, tut gut daran, sich vom literarischen Ich zu distanzieren. Die 1979 in Agadir geborene Saphia Azzeddine betont in Interviews, selbst „behütet“ aufgewachsen zu sein. Mit neun Jahren kam sie mit ihrer Familie nach Frankreich, wo sie später Soziologie studierte. Bekannt war sie in erster Linie als Schauspielerin und Drehbuchautorin gewesen bevor sie mit „Zorngebete“ in 2008 ihr Romandebüt vorlegte. Mittlerweile folgten drei weitere Romane der attraktiven Autorin, die von Kritikern und Fans als „moderne Scheherazade“ bezeichnet wird. In Deutschland wurde man zunächst 2011 als Regisseurin auf sie aufmerksam, als sie ihren zweiten Roman „Mein Vater ist Putzfrau“ verfilmte.
Mit „Zorngebete“ ist Azzeddine eine sehr eigenwillige Emanzipationsgeschichte aus der Welt jenseits des Schleiers gelungen. Jbaras verstörende Direktheit, ihre stellenweise vulgäre Sprache, die Tabubrüche, mit denen sie mit Allah ins Gericht geht, täuschen nicht darüber hinweg, dass diese eigenwillige junge Frau ohne Larmoyanz Entscheidungen trifft. Und die Konsequenzen daraus trägt. Bis sie schließlich ihren inneren Frieden findet.
Nevfel Cumart
Saphia Azzeddine: Zorngebete. Roman. Wagenbach Verlag, Berlin. 121 S., 16,90 Euro.
Saphia Azzeddine - Stationen Ihres Lebens
Später studierte Saphia Azzeddine Soziologie und veröffentlichte bereits im Alter von 29 Jahren ihren ersten Roman in französischer Sprache, der 5 Jahre später auch in deutscher Übersetzung erschien. Heute lebt Saphia Azzedine in Genf und arbeitet dort als Journalistin.
Veröffentlichungen
2008: Confidences à Allah. Éditions Léo Scheer, Paris, ISBN 978-2-7561-0119-4.
2013: deutsch: Zorngebete. übersetzt von Sabine Heymann. Wagenbach, Berlin, ISBN 978-3-8031-3248-2.
2009: Mon père est femme de ménage. Éditions Léo Scheer, Paris, ISBN 978-2-7561-0195-8.
2010: La Mecque-Phuket. Éditions Léo Scheer, Paris, ISBN 978-2-7561-0263-4.
2011: Héros anonymes. Éditions Léo Scheer, Paris, ISBN 978-2-7561-0337-2.
2013: Combien veux-tu m'épouser? Grasset, Paris, ISBN 978-2-246-80437-6.
Filme als Schauspielerin
2010: Fasten auf Italienisch (L'Italien) von Olivier Baroux.
Filme als Produzentin und Regisseurin
2011: Mon père est femme de ménage. Der Film erhielt 2011 den Prix du public Europe I beim Festival international du film de comédie de l'Alpe d'Huez.
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