Jenseits Integrationsdebatte und deutscher Leitkultur
Der türkische Schriftsteller Zafer Senocak beschäftigt sich mit der deutschen Identität - Zafer Senocak wurde 1963 als Sohn eines Lehrerehepaars in Istanbul geboren, kam im Alter von acht Jahren nach Deutschland und widmete sich bereits als Jugendlicher intensiv der Lyrik und dem Schreiben.
Dieser erste Satz deutet schon, dass diese Biographie noch einiges zu bieten hat. Heute könnte man sagen: Zafer Senocak ist mit Sicherheit ein Mann, dem Thilo Sarrazin nicht begegnen möchte, damit dieser Wahl-Berliner nicht sein Weltbild vom ungebildeten Migranten und sein herbeigeschriebenes Untergangszenario fürDeutschland in Wanken bringen soll.
Senocak, der in München Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie studierte, ist auch ein Mann, dem Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer wohl noch nicht begegnet ist, denn sonst hätte man schon längst in den Medien ein Schwärmen darüber vernommen, wie sehr Senocak mit seiner „story of success“ dem von Seehofer geforderten Bekenntnis zur deutschen Sprache nachgekommen ist.
Senocaks literarisches Werk umfaßt mittlerweile mehr als zwei Dutzend Bücher mit Gedichten, Romanen, Essays und Übersetzungen. Keine Frage, Senocak ist sicher der klügste Kopf unter den Schriftstellern türkischer Herkunft in Deutschland und ein scharfsinniger Beobachter der hiesigen Zustände. Er ist zudem ein profunder Kenner der deutschen Philosophie und Literaturgeschichte ebenso wie der islamischen Geschichte, der zu beachtlichen Analysen fähig ist. Jetzt kommt noch das Sahnehäubchen: Senocak, der für seine Literatur mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde, kann schreiben, kann herrlich präzise und unaufgeregt formulieren. Seine Ansichten sind differenziert, seine Sprache geschliffen, der Aufbaus seiner Essays wohl durchdacht. Das macht sein Buch „Deutschsein“ neben einem verblüffenden Erkenntnisgewinn zu einer sehr angenehmen Lektüre inmitten all der marktschreierischen Bücher zum Thema „Migranten in Deutschland“.
Was heißt eigentlich „Deutschsein“? Um auf diese Frage eine überzeugende Antwort zu finden, blickt Senocak in die deutsche ebenso wie in die türkische Geistes- und Gefühlsgeschichte zurück. Dabei analysiert er auch Thomas Manns wichtigen Kulturbegriff mit seiner Unterscheidung zwischen deutscher Kultur und westlicher Zivilisation und spürt dem Geist und Seelenzustand der deutschen Nation vor und nach dem Zweiten Weltkrieg nach. Hier widmet er sich auch dem Wirken von Walther Rathenau und Konrad Adenauer, der mit der erfolgreichen Anbindung an den Westen schließlich Rathenaus Traum verwirklichte.
Senocak attestiert den Deutschen einen Mangel an Selbstbewußtsein und auch an Offenheit. Vielleicht ist es dadurch zu erklären, dass sie sich selbst nur über die Abgrenzung vom anderen definieren und zudem auf die nicht nur an Stammtischen viel beschworene „deutsche Leitkultur“ pochen. „Dieser tumbe Identitätsentwurf eines christlich-jüdischen Abendlandes bezweckt nur eines: die Abgrenzung gegenüber dem Islam“, so Senocak. Doch statt einer wie auch immer gearteten Nationalkultur sollte man sich an den grenzüberschreitenden Werten der Zivilisation richten, die aus der Aufklärung entstanden ist, plädiert Senocak in seiner „Aufklärunsschrift“. Sie sollten der universelle Maßstab sein, an der sich alle Menschen orientieren, ganz gleich ob Einwanderer und Deutsche.
Für Senocak ist eines der Grundprobleme im Umgang mit dem muslimischen Migranten in Deutschland, dass sie alle in einen Topf geworfen werden. Er rät dringend dazu, die Biografien von Muslimen als Individuen zu betrachten, statt wie bisher über die Muslime als Kollektiv zu sprechen. Gegen dieses Kollektivbild schreibt Senocak schon seit längerem beharrlich an, nicht nur in diesem Buch. Hier belässt er es nicht bei Beobachtung und Analyse, sondern bringt auch viel Autobiographisches ein. So belegt er auch, dass man wohl in der deutschen Sprache sich heimisch fühlen kann ohne die türkische komplett abzustreifen. Wenn also Sprache Heimat ist, so hat Senocak diese längst gefunden. Denn man spürt in „Deutschsein“ aus jeder Zeile die Liebe zur deutschen Sprache heraus.
Inmitten der „Deutschland-schafft-sich-ab-Panikmache“ und der unsachlich geführten Integrationsdebatte hierzulande ist Senocak „Aufklärungsschrift“ ein nicht zu unterschätzender ruhiger Beitrag. „Deutschsein“ ist das Buch eines Autors mit differenzierenden Ansichten, dem man eine große Leserschaft und rege Diskussionen wünscht.
Nevfel Cumart
Zafer Senocak: Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Edition Körber Stiftung, 190 Seiten, 16,00 Euro. ISBN 978-3-896-84083-7.
Zafer Senocak, geboren im Jahr 1961 in Ankara, lebt seit 1970 in Deutschland und wuchs inIstanbul und München auf. Sein neuestes Buch ist "Deutschsein - Eine Aufklärungsschrift". Als Kind lernt er die Metropole Istanbul kennen, als er neun Jahre alt ist, wandert seine Familie nach München aus. Dort studiert er Germanistik, Politik und Philosophie.
Schon als junger Mann veröffentlicht er erste Gedichte, Essays und Prosa in deutsch. Heute lebt Zafer Senocak als freier Schriftsteller in Berlin und schreibt für verschiedene Zeitungen, zum Beispiel auch für die "tageszeitung".
In seinem neuestes Buch "Deutschsein - Eine Aufklärungsschrift" denkt Zafer Senocak über die deutsche Identität nach: Einerseits ist man stolz auf die multikulturelle Fußball-Nationalmannschaft, andererseits führt man erbitterte Debatten über den Islam im Feuilleton und auf der Straße.
Senocaks These: Es gibt viele biografische Wege, ein Deutscher zu werden.