Träume deinen eigenen Traum - Werner Koschan
Wird das Sehen ausgeschaltet,
so bedeutet das nicht,
dass man nichts sieht,
sondern,
dass man beliebig - unendlich viel - sieht.
Bertolt Brecht
STATT EINES VORWORTS
Dies ist eine Geschichte für junge Leute von 9 bis 99 Jahren.
Eine muntere ältere Dame, der man ihre Lebenserfahrung ohne Mühe ansah, zwinkerte verschmitzt und sagte zu mir in leicht rheinischem Dialekt: »Na ja, bis achtzig macht de Jugend wirklich Spaß - dann wird et ernst.«
Ob der sogenannte Ernst des Lebens tatsächlich so ungeheuer wichtig ist, wie man uns vom ersten Schultag an weiszumachen versucht - oder ob nicht das Leben viel mehr Facetten mit sich bringt, muss jeder selbst herausfinden.
Dieses Buch richtet sich an all diejenigen, für die Spaß am Leben nicht nur eine leere Redensart bedeutet.
DOCH EIN VORWORT
Geschichtenerzähler ist ein sonderbarer Beruf, bei dem man ganz erheblich vom Zufall abhängt. Denn nur durch Zufall erfahren wir von Begebenheiten, die wir weitererzählen möchten. Und zwar so wahrhaftig es eben geht, weil lügen nicht viel Sinn macht. Wir erfinden bloß manchmal etwas hinzu wenn es nötig erscheint.
Gelogene Geschehnisse machen deshalb wenig Spaß, weil man laufend über die Unwahrheiten stolpert und sich mühen muss, das Ganze wieder geradezubiegen.
Die Geschichte, die ich erzählen möchte, ist in sämtlichen Details wahr. Eine nette ältere Dame, die noch sehr jugendlich wirkte, hat sie mir anvertraut.
Die Namen habe sie selbstverständlich verändert. Aber der Rest stimme aufs Wort - darauf beharrte die freundliche Dame in den vielen Stunden, die wir gemeinsam im Dunkeln verbracht hatten.
Was wir im Dunkeln gemacht haben? Gesessen und gewartet. Das heißt, gehockt und gewartet. Wir saßen nämlich fest. In einer Seilbahn. In einer Gondelbahn zwischen Himmel und Erde. Sprich, zwischen Berg- und Talstation.
Wir hatten, ohne voneinander Notiz zu nehmen, in unseren Sonnenstühlen gelegen und die Sonne so lange wie möglich auf der Holzterrasse der Bergstation genossen, bis der Wirt mahnend darauf hinwies, dass die letzte Talfahrt um halb sechs Uhr anstünde. Außerdem hätte er gerne kassiert. Und es sei sonst kein anderer Gast mehr heroben.
Wir beide waren tatsächlich die einzigen Fahrgäste der letzten Talfahrt. Auf halbem Weg stoppte die Gondel und blieb schaukelnd hängen. Zunächst nickten wir uns gegenseitig Mut zu, denn es handelte sich sicher nur um eine kurze Unterbrechung.
Die Sonne versank langsam majestätisch hinter den Bergspitzen. Wenn man so hoch in der Luft ist, wirkt ein Sonnenuntergang noch romantischer als vom Boden aus betrachtet.
Bloß wenn es dunkel und kalt wird, ist die Romantik schnell dahin.
Bei mir zumindest. Von der Dame weiß ich es nicht. Wir nannten vor lauter Ungemütlichkeit nicht einmal gegenseitig unsere Namen, sondern schwiegen vorerst. Ich besonders. Bis sie mich ansprach, ob ich ihr eine Zigarette geben könne.
»Leider nicht, ich rauche nicht, höchstens mein Kopf beim Denken. Und selbst das ist in Gondelbahnen selten.«
Wir bekamen Durst und Hunger und sie erzählte mir von selbst gebackenen Brötchen.
Aber davon habe ich nur bedingt Ahnung. Meine Zeit ist knapp. Sollte man ihr deswegen einen Vorwurf machen?
Die nette Dame fragte, ob sie mir zur Ablenkung von unserer ›Hängepartie‹ eine Geschichte erzählen dürfe, die vom Wünschen handelt. Wir hatten uns nämlich zu Boden gewünscht. Das heißt, wir wollten beide zu Boden ... nein, wir wollten runter. Ins Tal.
Die Geschichte von Vanessa, dem Traumbaum und den Brötchen, wie sie mir die liebenswürdige Dame in der Gondel erzählt hat, werde ich hier aufschreiben. Und sollte ich auch nur irgendetwas hinzu lügen, soll mir der Bleistift abbrechen. (Ich habe genügend in Reserve.)
Teil I
1
Die ersten zaghaften Sonnenstrahlen drangen durch das Fenster in Vanessa Fabers Schlafzimmer. Die lange feuerrote Lockenmähne rahmte das schmale Gesicht des Mädchens und bedeckte beinahe völlig das Kopfkissen. Vanessa kuschelte sich in ihr weiches Bettzeug mit der Füllung aus echten Daunenfedern. Auf den himmelblauen Bettbezug waren lustige Wolken gedruckt. Ab und zu schimmerte ein bunter Regenbogen dazwischen. Die Wolken ähnelten kleinen Schafen, die auf dem Bezug übermütig umherzuspringen schienen.
Tagsüber saß Vanessa häufig auf dem Bett und las, das fand sie gemütlicher als am Schreibtisch. Ab und zu schaute sie dabei vom Buch auf und betrachtete die hüpfenden Wolkenschäfchen, bis sie das Gefühl hatte, mitzuschweben. Sie flog dann mit den Wolken und hatte den Eindruck, dass weit unter ihr die Erde vorbeizog mit Bächen, Wiesen und Wäldern. Dann und wann flatterte ein Vogel an Vanessa vorbei und nickte ihr zum Gruß zu.
Obwohl Vanessas Bett ein idealer Ort zum Träumen war, hatte sie trotzdem in der vergangenen Nacht sehr unruhig geschlafen. Mehrmals war sie erschrocken aufgewacht, hatte den Kopf vom Kissen gehoben und forschend den Blick durchs Zimmer wandern lassen, obgleich es nicht den geringsten Grund zur Beunruhigung zu geben schien.
Also kroch sie tief zurück in die Federn und versuchte einzuschlafen. Aber wie es so ist, wenn man unbedingt einschlafen möchte, funktioniert es einfach nicht. Vanessa hatte allmählich das Gefühl, nicht mehr einschlafen zu können, je mehr sie sich bemühte. Darüber ärgerte sie sich maßlos. Und deswegen gelang es ihr auch nicht, zumindest ein wenig die Gedanken treiben zu lassen und zu träumen, um so langsam wieder einzuduseln.
Im Display des Radioweckers auf dem Nachttisch leuchtete neben den Leuchtziffern, die die genaue Zeit anzeigten, eine winzige rote Lampe auf, und im gleichen Augenblick erklang aus dem Lautsprecher Musik. Eine bekannte Band trällerte ihren aktuellsten Tophit in die Welt hinaus. Wie es sich gehört, handelte der Song von Liebe.
Vanessa legte einen Arm über die müden Augen, denn sie war natürlich trotz ihrer Unruhe - ohne es selbst zu merken - eingeschlafen. Und die Musik störte sie nun. Erst will man schlafen und kann nicht, dann schläft man endlich, aber der dämliche Wecker macht einem prompt einen Strich durch die Rechnung. Jeden Morgen das gleiche Theater mit dem Aufstehen. Immer aufstehen, wenn man ganz besonders müde ist.
Vanessa rieb den Kopf auf dem Kissen und überlegte, ob die Musik nicht vielleicht von Traumgeistern zu ihr geschickt worden sein könnte, um sie ein letztes Mal zu ärgern. Sie hob den Arm ein wenig und blinzelte zu den feinen Sonnenstrahlen, die durch die Jalousie drangen.
Komisch, dachte Vanessa, eben war es doch noch tiefdüstere Nacht gewesen. Die Musik trug nicht gerade zu ihrer Aufmunterung bei.
Denn weder die Band noch deren Titel, der gerade im Radio gespielt wurde, gefielen ihr. Allein schon der Refrain ging ihr gegen des Strich. »Boom boom boom boom, I want you in my room ...«
»Ich euch aber nicht! Das ist ja nicht zum Aushalten«, stöhnte Vanessa, legte einen Arm über die Augen und versuchte gleichzeitig mit der anderen Hand das Radio abzuschalten. Nichts zu machen. Sie drehte sich auf die Seite und zog die Bettdecke energisch bis weit über den Kopf.
Das Decke-über-den-Kopf-Ziehen nützte leider nichts. Vanessas Mutter war mittlerweile ins Zimmer getreten und hatte laut und schwungvoll die Jalousie vor dem Fenster hochgezogen.
»Guten Morgen, Prinzessin! Es ist herrliches Wetter heute.«
Das glänzende Sonnenlicht fiel nun direkt aufs Bett und strahlte scheinbar sogar durch die Bettwäsche. Vorsichtig blinzelte Vanessa unter dem überhaupt nicht schweren Berg aus Gänsefedern hervor. Sie seufzte tief. Zum einen mochte sie es absolut nicht, Prinzessin genannt zu werden, und zum anderen war ihr völlig gleichgültig, wie das Wetter draußen war. Soll gefälligst draußen bleiben, dachte sie und kroch wieder tiefer unter die Decke.
Die Mutter versuchte die Decke wegzuziehen.
»Es ist bereits halb durch, Vanessa. Du weißt doch, was heute alles ansteht, oder hast du etwa deinen Wandertag vergessen?«
Die Mutter hob einige Wäschestücke vom Boden auf und legte sie über die Lehne des Stuhls vor Vanessas Schreibtisch. Seit Jahren blieben ihre Bemühungen, ihre Tochter dazu zu bringen, abends die Wäsche ordentlich auf den Stuhl zu legen, erfolglos. Dem Vater hatte sie die allmorgendliche Enttäuschung über die Unordnung in Vanessas Zimmer schon längst nicht mehr mitgeteilt. Seine Auffassung von Erziehung stimmte mit ihrer absolut nicht überein.
Vanessa zwinkerte mit einem Auge und schüttelte den Kopf.
»Nein.«
Die Mutter war inzwischen zum Kleiderschrank getreten und inspizierte dessen Inhalt.
»Was - nein?«, fragte sie.
»Habe ich nicht vergessen«, antwortete Vanessa und beobachtete die Mutter unmutig, die in ihrer Kleidung stöberte. »Suchst du irgendetwas Bestimmtes?«
»Du hattest gestern versprochen, am Abend wetterfeste Kleidung und Schuhe bereitzulegen. Wo hast du die Sachen denn hingeräumt?«
»Hab ich gar nicht versprochen! Außerdem scheint die Sonne, wie du gerade selbst treffend bemerkt hast. Was soll ich denn da mit dem albernen Wetterzeug?«
Vanessa betrachtete die Ziffern des Weckers und stutzte.
»Ich muss doch heute erst um neun da sein. Zu blöd, dass ich vergessen habe, den Wecker umzustellen. Wenn du mich jetzt in Ruhe lassen würdest, könnte ich noch ein wenig liegen bleiben und dösen.« Und schwupp zog sie die Decke wieder bis zum Kinn.
Die Mutter blickte kurz in Richtung Flur und schloss sachte die Zimmertür.
»Sei bloß froh, dass dein Vater das nicht gehört hat, sonst wäre hier augenblicklich ein Mordskrach.«
Vanessa lugte unter der Decke hervor und verzog den Mund.
»Peng.«
»Was heißt peng?« Die Mutter verschränkte die Arme vor der Brust.
»Haaach«, pustete Vanessa in ihr Federbettzeug. »Peng heißt peng, von wegen Krach. Sonst nichts. Ach, vergiss es. Wieso überhaupt Krach? Nur weil ich ausschlafen möchte?«
Statt einer Antwort zog die Mutter der Tochter die Bettdecke endgültig weg.
»Schluss jetzt, Prinzessin!«
Vanessa setzte sich auf und ließ die Beine über den Bettrand baumeln. Sie trug T-Shirt und Höschen. Das verstieß ebenfalls streng gegen die Vorschrift des Vaters. »Im Bett trägt man ein Nachthemd oder einen Pyjama, wenn man ein anständiges junges Mädchen ist!«, hatte er erklärt. Und gerade, weil er dies vorschrieb, machte es Vanessa doppelt Spaß, nicht im Pyjama zu schlafen. Was war daran unanständig?!
Die Übertretung der verschiedenen Verbote blieb letzten Endes denn auch ziemlich ungefährlich - der Vater kontrollierte die Einhaltung seiner Vorschriften meist doch nicht mehr. Der Gedanke, von seiner Tochter in den Flegeljahren möglicherweise nicht den nötigen Gehorsam entgegengebracht zu bekommen, behagte ihm ganz und gar nicht. Seit sich die Anzeichen mehrten, dass Vanessa einen eigenen Willen entwickelte, fühlte er sich zudem irgendwie sonderbar. Er spielte lieber schweigende Autorität. Zumindest offiziell. Vor sich selbst.
Er war schließlich seit vielen Jahren der Chef in seiner Firma und betrachtete sich ebenso als das Familienoberhaupt. Aber so, wie es zu seiner Zeit als Sohn im Hause der Eltern gewesen war, liefen die Alltäglichkeiten in seiner eigenen Familie nicht ab. Früher hatte man auf den Vater gehört und widerspruchslos gehorcht.
Heutzutage verdrehte sogar die Ehefrau die Augen und wandte sich ab, wenn er von früher zu erzählen begann. Selbst der beeindruckendste Satz guter Erziehung, der von seinem Vater stammte, verpuffte bei der Mutter-Tochter-Allianz ins Leere. »So lange du deine Füße unter meinen Tisch stellst ...«
Eines Tages hatte Vanessa nämlich daraufhin die Sitzstellung geändert und sich quer zum Tisch gesetzt.
»Nu stehn se nicht mehr unterm Tisch, und jetzt?«, hatte sie lässig gefragt und herausfordernd die Augenbrauen gehoben.
Der Vater hatte zunächst wütend von der Tochter zur Ehefrau geblickt. Diese hatte kurz laut aufgelacht und dann die Hand vor den Mund gehalten und ein, wie er fand, albernes Gesicht gemacht. Verärgert hatte er den Raum verlassen und sich sehr verletzt gefühlt. Dies hätte er selbstverständlich niemals zugegeben. Solch ein Verhalten hätte es in seinem Elternhaus wirklich niemals gegeben.
Seitdem hatte er das Zimmer seiner Tochter nur ganz selten betreten - wer weiß, hatte er gedacht, welche Frechheiten sie ihm noch an den Kopf werfen würde. So kam es, dass er nicht nur das morgendliche Wecken seiner Frau überließ.
2
»Wandertag, oh Schreck und Graus«, klagte Vanessa und schaute die Mutter listig an. »Kannst du mir nicht eine Entschuldigung schreiben? Wandertag ist die blödste Erfindung, die es gibt.«
Eine Tradition, die die Klasse 9a des Gymnasiums heute in den nahen Wald führen sollte - nach mütterlichem Wunsch zudem in wetterfester Kleidung. An die schweren Wanderstiefel mochte Vanessa erst gar nicht denken.
»Von wegen, meine liebe Prinzessin. Lass dir ruhig mal ein wenig den Wind um die Ohren pusten, dann vergehen dir vielleicht sogar die Flausen. Da du ja anscheinend unser Gespräch von gestern Abend vergessen haben willst, möchte ich dich daran erinnern, dass dein Vater ausdrücklich darum gebeten hat, dass du heute mal frische Frühstücksbrötchen holst. Ich habe dich jetzt schon geweckt, damit wir wenigstens ab und zu gemeinsam frühstücken können. Wasch dich, zieh dich an und erfülle den Wunsch deines Vaters!«
»Puh«, nörgelte Vanessa. »Klingt ja ziemlich salbungsvoll. Brötchen vom Bäcker - Massenware. Darauf könnte ich prima verzichten!«
»Darum essen wir ja auch keine einfachen Brötchen, sondern die tollen Öko-Körner-Brötchen, die sind gesund.«
Vanessa fuhr mit beiden Händen durchs Haar.
»Wer das glaubt, der glaubt ebenfalls, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Warum backen wir nicht mal Brötchen selber? Da wüsste man zumindest, was drin ist.«
»Weil ich dafür keine Zeit habe, Vanessa. Ich habe ohnehin genug am Hals. Das weißt du doch ganz genau.«
Vanessa hatte nicht zugehört und lächelte in Gedanken versunken.
»Weißt du, letztes Jahr hatte Dominik selbst gebackene Brötchen mitgebracht. Die waren toll, sage ich dir.« Vanessa roch den Duft dieser Brötchen förmlich.
»Hör mit deinen Jungs auf, und sieh endlich zu, dass du Vaters Wunsch erfüllst, sonst zieht er dir nachher die Ohren lang. Ich bereite das Frühstück vor, und danach richten wir die Sachen, die du für den Wandertag brauchst. Beeile dich gefälligst, du weißt, wie ungehalten Vater sein kann.«
Frau Faber verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Vanessa seufzte und dachte an Dominik und seine leckeren Brötchen.
Dominiks Vater backte für seinen Sohn und sich immer Brot und Brötchen selbst. Zum einen natürlich, weil Backwaren in Eigenproduktion sehr viel billiger sind. Aber noch wichtiger war eigentlich, dass die Brötchen, die Herr Mittenzwey selbst herstellte, sehr abwechslungsreiche Rezepte hatten und zudem wesentlich leckerer schmeckten als die gekauften.
Zum Wandertag im vergangenen Jahr hatte Dominik diese Köstlichkeiten zum ersten Mal mitgebracht. Diese Brötchen sahen verständlicherweise nicht alle gleich aus, und einige Klassenkameraden rümpften sofort die verwöhnten Nasen. Dominik bot sie den Mitschülern dennoch großzügig an.
»Niemand wird schließlich gezwungen, davon zu kosten«, meinte er freundlich.
Um Dominik nicht zu kränken, hatten einige Schüler zunächst skeptisch zugegriffen und ein halbes Brötchen probiert. Notfalls konnte man ja den Rest heimlich wegschmeißen, hatte der eine oder andere überlegt. Zaghaft bissen die Schüler in die kleinen Brötchenhälften und kauten vorsichtig.
»Hm, gar nicht übel«, staunte Lukas, bat um eine weitere Hälfte und zog ein Stück Käse nebst Messer aus dem eigenen Rucksack. »Wer von euch ein Stück Käse mag, soll sich bedienen. Schmeckt sicher noch besser.«
Und plötzlich wollten auch diejenigen Dominiks Brötchen essen, die sich bisher vornehm zurückgehalten hatten. Ein Mädchen zog ein Geschirrtuch aus der Tasche, breitete es auf einem dicken Baumstumpf aus und stellte eine Plastikdose darauf ab, in der sich Scheiben von gekochtem Schinken befanden.
Andere boten Wurst oder sogar Bockwürstchen aus ihren Vorräten an. Kathrin und Johanna, die in der Klasse ausschließlich Die Schwestern genannt wurden, steuerten Marmelade, Honig und Nusscreme bei. Jede dieser Köstlichkeiten war separat in kleinen Plastikdosen verpackt. Die Eltern der Schwestern führten eine Pension und hatten aus dem Grund diese Einzelportionen vorrätig.
Wegen der unerwartet großen Nachfrage waren Dominiks Brötchen viel schneller als erwartet aufgegessen. Weil aber alle ihre Frühstücksvorräte miteinander teilten, blieb keiner hungrig.
Nicht mal Lukas, und das war an sich schon höchst ungewöhnlich.
»Prima Sache, Dominik«, lobte Lukas und schlug ihm kraftvoll auf die Schulter.
Dominik schämte sich fast, so stolz war er, als nach dem Gelage besonders seine Brötchen von den anderen gelobt wurden. Er lächelte bescheiden.
»Ja, es hat ganz toll geschmeckt. Vor allem, weil jeder mit jedem geteilt hat. Das war mal ein ganz leckeresFrühstück.«
»Kannst du nicht jeden Tag Brötchen für uns mitbringen?«, fragte Lukas. »Und zwar für mich immer vier! Die sind so lecker, wie, ja wie ... vielleicht wie Karamellpudding oder sogar noch besser - wie Nudeln mit Soße.«
»Das sind Sachen, die kannst du nicht miteinander vergleichen«, meinten die Schwestern. »Außerdem würde das viel zu teuer für seinen Vater werden, ihr wisst doch ...«
Ja, sie wussten. Alle wussten, dass Dominik mit seinem Vater in ziemlich einfachen Verhältnissen lebte.
Dominik war auf einmal überhaupt nicht mehr stolz zumute. Er fand es recht gemein von den Schwestern, die aus der Pension der Eltern jedes Mal Marmelade und Honig in Miniportionen hätten mitbringen können, ihm jetzt die gute Stimmung zu verderben. Was konnte er schließlich dafür, dass er und sein Vater nur sehr wenig Geld zur Verfügung hatten.
3
So hatte Vanessa also während des letzten Wandertags zum ersten Mal selbst gebackene Brötchen gekostet und rieb sich, in Erinnerung daran, auf dem Bettrand sitzend, mit den Händen den krümeligen Schlaf aus den Augen. Sie ließ die Beine weiter in den warmen Sonnenstrahlen baumeln und betrachtete ihre Zehen. Sämtliche konnte sie einzeln, von den anderen unabhängig, bewegen, bloß den mittleren am linken Fuß nicht. Am rechten Fuß klappte dies wenigstens halbwegs.
Na, was soll es?, dachte sie, sprang aus dem Bett und ging zum Fenster. Hoffentlich bleibt das Wetter heute wirklich so schön!
Beim letzten Wandertag hatte es zuletzt noch so fürchterlich geregnet, dass nicht einmal der bunte Regenschirm die Fluten von Vanessas Kleidung fernhalten konnte. Und trotz der angeblich wetterfesten, aber genau genommen nur sehr unbequemen Wanderkleidung war sie nachmittags patschnass zu Hause angekommen und hatte sich eine heftige Erkältung eingefangen. Heute war zum Glück kaum eine Wolke am Himmel zu sehen. Nur ein paar wenige Schäfchen, beinahe wie auf dem Bettzeug.
»Von wegen«, murmelte Vanessa beim Gedanken, die Wetterklamotten anzuziehen. »Beim letzten Mal hatte es auch nichts geholfen. Notfalls verstaue ich das Zeug in der Garage, wenn Mutter mich partout nicht in Frieden lässt. Ich werde diesmal auf gar keinen Fall das schwere Gelumpe anziehen«, schwor sich Vanessa. »Nicht ein zweites Mal lasse ich mich von den anderen derart hochnehmen, weil ich wie ein Gebirgsjäger aussehe - Regenjacke mit Teddypelz innen und Wanderstiefel, schwer wie Blei. Alte Leute brauchen so etwas vielleicht, aber ich doch nicht«, meinte sie und rekelte sich ausgiebig im Sonnenschein.
Die Erinnerung, wie man sie im vergangenen Jahr wegen der Bergsteigerkluft gehänselt hatte, ließ Vanessa wütend werden. Nicht nur die Freundinnen hatten gelästert. Selbst Leute, denen sie begegnet waren, schauten sehr belustigt.
Darüber hinaus hatte sie ohnehin ständig das Gefühl, dass die Leute über sie lachen würden.
Hierzu muss erklärt werden, dass Vanessa sehr unter ihrem feuerroten Haar litt, das lockig bis über ihre Schultern reichte. Jeder, der ihr begegnete, bewunderte das schöne Haar. Sie verstand hingegen diese Blicke falsch und bildete sich ein, ausgelacht zu werden. Und weil sie, wenn sie in den Spiegel schaute, in ihrem Gesicht zu allem Überfluss einige Sommersprossen nicht übersehen konnte, redete sie sich ein, nur wenig hübsch zu sein. Überhaupt fühlte sie sich gar nicht so üppig mit weiblichen Reizen ausgestattet wie manches andere Mädchen. Vanessa war mit ihrem Aussehen keineswegs zufrieden.
Natürlich lachten manche Jungs einige Mädchen tatsächlich aus. Als Vanessa darüber einmal mit ihrer Mutter gesprochen hatte, meinte die bloß lakonisch, dass die Jungs damit nur über ihre eigene Unsicherheit hinwegtäuschen wollen.
»Jungs sind nun mal ein bisschen komisch. Damit muss man sich als Frau einfach abfinden. Meist gibt sich das irgendwann - bei manchen zumindest.«
»Was meinst du mit komisch?«
»Jungs sind genauso unsicher wie Mädchen. Das war schon immer so und wird wohl auch so bleiben. Deswegen müssen sie voreinander so tun, als ob sie ganz toll wären.«
»Du meinst cool?«
Die Mutter verzog die Lippen.
»Nenne es meinetwegen cool. Im Grunde sind Jungs gar nicht cool, sondern sie spielen nur irgend-welche Helden nach, die sie im Fernsehen bewundern. Glaube mir, Vanessa, die wenigsten von ihnen sind wirklich selbstbewusst. Selbstbewusstsein muss man lernen. Mancher lernt das leider nie und bleibt Zeit seines Lebens ein Nachäffer.«
»Somit macht es keinen Sinn, dass sie andere Leute auslachen.«
»Na ja, für sie schon. Dann fühlen sie sich überlegen.«
»Und sind in Wahrheit doof wie Brot?«
»Genau das, und lachen nur deshalb andere aus, weil die irgendwie anders sind als sie selbst.«
»Meinst du jetzt die Glatzen in Springerstiefeln?«
»Ja, zum Beispiel die. Sobald sie in ihrer Gruppe von gleichgeschalteten Hohlköpfen geborgen scheinen, fühlen sie sich besonders stark.«
»Aber wir sind doch alle anders als die. Zumindest die meisten, die ich kenne.«
»Das ist es ja eben, die sind eigentlich aus lauter Komplexen gewalttätig. Wenn sie nicht schnell genug zuschlagen, könnten wir anderen nämlich rasch merken, dass in den kahl geschorenen Schädeln Luftleere herrscht.«
»Was soll man denn als Einzelner gegen so ein Rudel Dummköpfe machen?«
»Hinsehen! Aufstehen und andere Leute aufmerksam machen. Gemeinsam Widerstand leisten.«
»Na, du bist gut. Wenn solch eine Glatze samt Keule vor mir steht, fühle ich mich gar nicht mehr gut.«
»Das geht mir genauso, Vanessa. Angst habe ich auch, bloß ›Hilfe!‹ zu schreien nützt nicht viel. Am besten ist, wenn du so laut wie du kannst ›Feuer, Feuer!‹ brüllst. Dann entsteht ein seltsamer Reflex, denn Feuer könnte ebenso für alle anderen gefährlich werden. Da wird mancher sofort aktiv und beobachtet genau. Und sobald einige Leute hinschauen - glaub mir - werden die Krawallbrüder nervös. Und je mehr Menschen hinschauen, desto schneller vergeht diesen Herrschaften das Lachen!«
»Klingt zwar schön, aber Bammel habe ich vor denen trotzdem.«
»Selbstverständlich. Eben weil solche Typen sich in ihrer Gruppe aufspielen wie Filmhelden, können sie Angst verbreiten. Dazu trägt natürlich auch die Kleidung bei, die sie tragen. Aber es sind nur Maulhelden, die nicht einmal wissen, ob Martin Luther gekreuzigt wurde oder mit der Titanic abgesoffen ist.«
»Manchmal bist du richtig gut, Mutti, weißt du das?«
4
Als Vanessa einige Tage später mit zwei Freundinnen durch die Einkaufspassage der Hauptstraße geschlendert war, trafen sie auf genau eine solche Gruppe. Vier stadtbekannte Chaoten in Kampfanzügen pöbelten lautstark Passanten an und schwenkten dabei selbstzufrieden ihre Bierflaschen.
Die Mädchen mussten entweder an den Rabauken vorbei oder umkehren. Vanessas Freundinnen machten instinktiv Anstalten zur Umkehr.
»He«, widersprach Vanessa laut vernehmlich. »Wollt ihr etwa vor denen kneifen?«
Die Mädchen blieben stehen und schauten zuerst erschreckt Vanessa und dann entsetzt die Kahlköpfe an. Der martialischste wies mit dem Kinn zu ihnen, trennte sich von seiner Gruppe und baute sich direkt vor den Freundinnen auf.
»Na?«, grunzte er mit glasigem Heldenblick und nahm einen tiefen Zug aus der Bierflasche. »Hast du etwa uns damit gemeint, Rotfuchs? Dann lass dir mal ganz schnell eine gute Entschuldigung einfallen, bevor ich es dir besorge.«
»Feuer, Feuer!«, schrie Vanessa aus Leibeskräften. »Zu Hilfe, es brennt! Feuer!!!«
Der Bierflaschenheld wich ein, zwei Schritte zurück und wirkte ratlos. Die Freundinnen stellten sich beinahe automatisch dicht neben Vanessa, um diesen Vorteil zu nutzen. Die gemeinsamen Hilferufe »Feuer, Feuer!« ließen ihr Blut scheinbar schneller fließen. Es heißt zwar ›eiskalter Mut‹, aber wenn man friert, ist ein Mensch nur wenig mutig. Sofort betrachteten mehrere Passanten aufmerksam die Szene. Einige von ihnen gesellten sich zu den Mädchen, und auf einmal spürten sie, dass die geschlossene Gruppe und ihr Widerstand als Mehrheit die militante Schlägertruppe gewaltig verunsicherte. Dass hinter den Rowdys zudem drei Feuerwehrleute auftauchten, hatten die vier nicht bemerkt.
Das machte Mut.
»Ach sieh mal an!«, tönte Laura lauthals. »Na, Heini, wolltest du was von uns?« Sie wandte sich an die Umstehenden. »Das ist unser Straßentrottel. Heini Schlegel, Bergerstraße 33 B. Er bevorzugt saufen statt zu arbeiten.«
Die Leute stimmten ein Gelächter an.
Heini spannte die Schultern. »Ich heiße nicht Heini!«
Wenn Menschen sich von seinem Auftreten nicht einschüchtern ließen, schwand seine Überheblichkeit im Nu. Und da zu allem Überfluss jetzt jemand seinen Namen und die Adresse nannte, war er sprachlos und zog sich lieber schnell zurück. Ärger mit Behörden hatte er ohnehin genügend.
Lena gab den Passanten laut und deutlich - angespornt durch Lauras Mut - weitere Details bekannt.
»Heini Schlegel war zwei Klassen über mir in der Grundschule, die hat er nicht einmal geschafft. Na, Heini, wie viel ist zwei mal sechs? Weißt du wahrscheinlich bis heute nicht!«
»Lass ihn«, fiel Vanessa ihr ins Wort. »Er kann das doch nur an den Fingern abzählen. Zu dumm, dass bloß fünf Finger an jeder Hand sind.«
»Das ist nicht ganz korrekt«, lachte Lena zurück. »Jeder hat höchstens vier Finger an einer Hand - und einen Daumen! Aber stimmt, es reicht nicht für Heini Schlegel, um die Rechenaufgabe zu lösen!«
Die Freundinnen hatten gelacht. Vielleicht eine Spur zu laut. Das männliche Opfer ihrer Belustigung hatte sich schnellstens zu seiner Gang zurückgezogen. Mit Mädchen kam er partout nicht zurecht, schon gar nicht, wenn sie lästerten. Höchstens wenn es sich um ein einzelnes handelte, das man gemeinsam mit der Heldengruppe zu packen kriegte.
Heini befahl seiner Bande, Bierflaschen auf die Leute zu werfen.
»Und dann die Knüppel raus und drauf, Männer! Schnappt euch die Weiber!«
Allerdings erlebten sie eine böse Überraschung, denn die drei Feuerwehrleute hatten kurzerhand Heini und zwei seiner Clique die Flaschen aus den Händen und dieselben auf den Rücken gedreht. Nun knieten drei Feuerwehrmänner auf Heini und Konsorten. Der vierte Maulheld hatte Fersengeld gegeben, wie es bei denen so üblich ist.
Wenig später hielt ein Polizeiwagen mit Blaulicht am Ort des Geschehens. Der Rädelsführer und seine Mitläufer vergossen bittere Tränen über die Ungerechtigkeit, die ihnen geschah. Sie hätten doch nur ...
5
Vanessa fand es unerfreulich, wenn Dominik Mittenzwey sie angrinste. Das erschien ihr sogar noch verletzender als bei allen anderen Leuten.
Dabei lachte er gar nicht wirklich irgendjemanden aus. Dafür war er zu klug. Er lächelte nur immer sehr zurückhaltend. Und er schaute zudem jedes Mal besonders schüchtern, sobald er Vanessa begegnete. Er bemühte sich zwar, sie möglichst freundlich anzulächeln, aber meist brachte er eben nur ein Grinsen zustande.
Vanessa bemerkte diesen feinen Unterschied leider nicht. Dazu war sie nun wiederum selbst viel zu unsicher - gerade Dominik gegenüber. Eigentlich handelte es sich bloß um ein Missverständnis, und das aufgrund jeweils eigener Unsicherheit.
Und wenn man sich die Welt ansieht, geschehen andauernd irgendwelche unnötigen Dinge, weil Menschen sich missverstehen.
Dominik Mittenzwey hatte große dunkle Augen und schwarzes Haar, das so wild von seinem Kopf abstand, als wäre es niemals im Leben gekämmt worden.
Nur ihrer Freundin Aynur hatte Vanessa verraten, dass sie Dominik mochte. Genau genommen mochte sie ihn sogar außerordentlich gern. Doch das zeigte sie den anderen natürlich mit keiner Miene.
»Wie findest du Dominik?«, hatte sie Aynur gefragt.
»Welcher Dominik?«
»Dominik Mittenzwey.«
»Ach der. Was ist mit dem?«
»Der hat total wuscheliges Haar.«
»Das weiß ich, finde ich süß. Wuschelig wie der Struwwelpeter.«
»Genau«, schwärmte Vanessa. »Man müsste mal versuchen, seine Struwwelpeterfrisur zu bändigen.«
»Warum tust du es nicht?«, fragte Aynur.
»Spinnst du?«, hatte sich Vanessa entrüstet.
»Nein, wieso? Du magst ihn doch.«
»Hm.«
»Und dass er dich mag, sieht ein Blinder mit einem Krückstock. Würde mich wundern, wenn er was dagegen hätte.«
Vanessas Augen wurden groß und größer.
»Aber warum lacht er mich dann ständig aus? Es regt mich auf, wenn er mich angrinst.«
»Das bildest du dir ein.«
»Nein. Der grinst wirklich immer ganz eigen.«
»Was soll er denn machen?« Aynur zuckte die Schultern. »Dein Vater ist sehr reich, seiner sehr arm. Du hast andauernd das neueste Handy, er hat kaum Geld, um aus einer Telefonzelle anzurufen. Du weißt ja, wie still er wird, weil manche von uns zu ihm ›Asi‹ sagen. Ja, du und ich nicht, dafür andere, weil er keine Markenkleidung trägt und nicht mithalten kann. Wenn man nun allerdings bedenkt, wie schnell manch einer andere Menschen so bezeichnet, kann man darüber allenfalls den Kopf schütteln. Gelegentlich treffen wir uns im Waschsalon.«
»Wer?«
»Dominik und ich. Die haben keine eigene Waschmaschine, Waschsalon ist billiger. Der hat Sachen drauf, da schnallst du ab. Und eine arme Sau ist er außerdem.«
»Wieso? Was hat er dir erzählt?«, wollte Vanessa wissen und wurde eifersüchtig auf die Treffen im Waschsalon.
»Natürlich reden wir miteinander. Ich habe oftmals zwei Maschinen, die durchlaufen müssen. Das dauert. Und ich glaube, er ist ganz froh, wenn er mit jemandem reden kann. Was weißt du eigentlich von ihm, Vanessa?«
»Na, er hat keine Mutter mehr und lebt allein mit seinem Vater in einer kleinen Wohnung.«
»Das stimmt, früher war das nicht so gewesen. Manchmal geschehen nun mal Dinge ganz plötzlich und unerwartet im Leben, die auf tragische Weise Leute ins Unglück stürzen. So war es zumindest bei Dominik und seinen Eltern. Und jetzt sind selbst einfache Wünsche unerschwinglich für sie und werden demzufolge unerfüllt bleiben. Warst du mal bei ihm zu Hause?«
»Nein, du etwa?«
»Nein, und ich glaube, Dominik möchte das auch nicht, aber er hat mir davon erzählt. Die Wohnung, in der die beiden leben, muss selbst für zwei Personen viel zu klein sein. Und sie teilen sich die Hausarbeit. Dominik saugt den Teppichboden und spült das benutzte Geschirr. Was tust du zu Hause?«
»Ich ...«
»Siehst du, deine Mutter besorgt den Haushalt und die Wäsche. Ihr habt sogar eine Putzfrau. Das würde wahrscheinlich jedem gefallen. Meine Mutter geht putzen - werde ich sicher selbst bald machen müssen. Bei uns ist es genauso knapp mit dem Geld. Wir sparen, wo wir können. Und wenn wir die schmutzige Wäsche im Waschsalon in der Hochstraße um die Ecke waschen, träume ich, wie Dominik, von der Anschaffung einer Waschmaschine - die gehört leider bei uns zu den unerfüllbaren Wünschen. Manchmal spielen wir Karten oder unterhalten uns mit anderen Kunden, die wie wir auf das Klingeln warten, mit dem das Ende des Waschgangs angekündigt wird. Ist oft ganz lustig. Komm doch einfach mal mit.«
6
Aynur Ünal war Vanessas beste Freundin. Sie ging in dieselbe Klasse am Kleist-Gymnasium wie Dominik und Vanessa. Aynur trug lange schwarze Haare, hatte leicht getönte Haut und große schwarze Augen. Obwohl Aynur oft gehänselt wurde, machte sie sich nichts daraus.
Sie half daheim im Haushalt und besorgte die Wäsche. Aynur lebte mit zwei erwachsenen Brüdern und den Eltern in einer Wohnung in der Siemensstraße. Ihre Brüder arbeiteten in einer Autofabrik im Westen der Stadt. Der Vater war dort als Pförtner beschäftigt.
Aynurs Brüder und der Vater legten stets die monatlich verdienten Löhne zusammen. Davon wurden die Kosten für Miete, Nebenkosten, Lebensmittel und Sonstiges bestritten. Der nicht verbrauchte Rest wurde auf ein Sparbuch eingezahlt. Von dem gesparten Geld wollte die Familie Ünal im Heimatort an der Schwarzmeerküste eine kleine Pension einrichten. Die Wohnung in der Siemensstraße war beengt und deswegen recht preiswert. Man besuchte niemals ein Restaurant, verfügte über kein eigenes Auto und sparte, wo immer es nur ging. Und wenn die Ünals weiterhin so genügsam blieben, würde der Traum von der eigenen Pension in Erfüllung gehen.
Dominik plauderte gerne mit Aynur, wenn sie sich im Waschsalon trafen, denn er bewunderte ihre Sprachkenntnisse. Mit ihrer Familie unterhielt sie sich zu Hause in Türkisch. In der Schule redete sie Deutsch. Dominik beneidete Aynur darum, dass sie sich perfekt in zwei Sprachen verständigen konnte. Aber Aynurs Hobby lag im Erlernen der englischen Sprache. Und da sie nicht nur fleißig Vokabeln auswendig lernte, sondern auch in ihrem kleinen Radio oft englische Sender zu empfangen versuchte, machte sie im Englischunterricht große Fortschritte. Ihr konnte in diesem Fach so leicht keiner etwas vormachen. Außer natürlich Mr. Hoddle, der Englischlehrer. Der unterstützte Aynurs Interesse, borgte ihr englische Lektüre und erklärte die umgangssprachlichen Ausdrücke und Redewendungen.
In der beengten Wohnung in der Siemensstraße teilten sich Aynurs Brüder ein Zimmer. Die Eltern schliefen im Wohnzimmer auf einer Couchgarnitur, die rechtwinklig aufgestellt war und den Eltern nachts als Schlafgelegenheit diente.
Aynur teilte sich bis zu ihrem zwölften Geburtstag den Schlafraum mit ihren Brüdern.
An jenem zwölften Geburtstag musste Aynur entsetzt mit ansehen, wie ihre Liege in die klitzekleine Vorratskammer, die neben dem Bad lag, geräumt wurde. In das Regal, in dem bis dahin Vorräte und Kleinzeug verstaut gewesen waren, musste sie ihre Sachen einräumen. Aynurs Mutter hatte einen Vorhang aus buntem Stoff genäht, der vor das Regal gehängt wurde. Für einen Schreibtisch oder Stuhl war kein Platz.
Aynur verfolgte den Vorgang zunächst völlig fassungslos. Sie empfand den Umzug als Strafe, als nicht zu erklärende Ungerechtigkeit und beschwerte sich mit Tränen in den Augen über die vermeintliche Bestrafung. Die Begründung, dass sie nun eben kein kleines Mädchen mehr sei, sondern langsam eine Frau werden würde, konnte sie keineswegs beruhigen.
»Wenn so das Frauwerden aussieht, kann ich bestens darauf verzichten!«, begehrte sie auf und verkroch sich für den Rest des Geburtstages hinter ihren Schularbeiten, die sie wie stets am Küchentisch erledigte.
Nach dem Abendessen hatte Aynur ohne ein Wort zu verlieren die Küche verlassen und sich in die Strafkammer, wie sie ihren künftigen Schlafraum insgeheim nannte, zurückgezogen.
Sie hatte durch das winzige Fenster, das zur Belüftung diente, die Abenddämmerung betrachtet und schweigend auf die Dunkelheit gewartet. Schließlich war sie in ihr Bett gekrochen, hatte unter der Decke die Knie bis zum Kinn gezogen und geweint.
Weil sie ihr Leben lang mit den Brüdern in einem Zimmer geschlafen hatte, weinte sie leise, damit niemand sie hörte und sich gestört fühlte. Denn Rücksichtnahme galt in ihrer Familie als ungeschriebenes Gesetz.
Niemand konnte ihr unterdrücktes Schluchzen vernommen haben und deswegen wunderte sich Aynur, als verhalten an ihre Kerkertür geklopft wurde. Was sollte sie nun bloß tun? Einfach liegen zu bleiben wäre auf jeden Fall unhöflich gewesen. Schnell wischte sie die Tränen ab, stand im faden Mondlicht auf und öffnete die Tür. Die Mutter stand davor und schaute Aynur nachdenklich und bedrückt an.
»Ich habe befürchtet, dass du weinen würdest. Aber das solltest du nicht«, sagte sie auf Türkisch. »Darf ich eintreten?«
Das Mädchen senkte den Blick. Die Mutter legte den Arm um Aynurs Schultern, trat in die Kammer, schaltete das Licht an, schloss die Tür und lenkte die Tochter zum Bett. Beide setzten sich.
»Wir, Vater und ich, hatten lange überlegt, ob wir dir vorher sagen sollen, dass dies hier dein Zimmer werden würde, aber wir wollten dich überraschen.«
Aynurs dunkle Augen blitzten.
»Das ist euch auch prächtig gelungen. Vielen Dank.«
»Es ist für dich ungewohnt und deswegen vielleicht zunächst ein wenig unangenehm in diesem - zugegeben - kleinen Raum zu schlafen.«
»Das ist kein Raum, das ist ein Kerker! Und ich weiß nicht, was ich verbrochen haben soll. Bloß weil ich jetzt einen Busen kriege? Erstens will ich so Dinger nicht, zweitens ist es mir egal! Ich will keine Frau werden und hier alleine in dem Loch hocken. Und drittens, drittens ...« Aynur zögerte und schaute der Mutter ins Gesicht. »Drittens weiß ich jetzt noch nicht!«
Die Mutter lächelte und strich der Tochter tröstend übers Haar.
»Deine Meinung zu erstens wird sich sehr bald ändern, genau wie zu zweitens, wenn du feststellst, dass du eine hübsche Frau und stolz darauf sein wirst, wenn bewundernde Blicke dich wahrnehmen. Wenn nette junge Männer dir hinterherschauen.«
Aynur hielt eine Hand vor den Mund der Mutter und blickte zur Tür.
»Wenn Vater das hört.«
»Das darf er ruhig hören. Was meinst du, wie stolz ich war, dass gerade er mich hübsch fand. Hübscher als alle anderen Mädchen, und mich haben wollte. Glaubst du, ich weiß nicht, wovon ich rede? Außerdem hast du gerade etwas sehr Wesentliches gesagt.«
»Was?«
»Dass du alleine in diesem Zimmer sein darfst. Ich hatte in meinem ganzen Leben kein Zimmer für mich allein - bis heute nicht. Ich hätte mich wie eine Königin gefühlt, wenn ich einen Raum gehabt hätte, in dem ich ganz für mich allein hätte sein dürfen. Wenn du jetzt nicht nur Brüder, sondern auch eine Schwester hättest, würden wir zwar gezwungenermaßen in einer etwas größeren Wohnung leben, dafür würdest du dir dann mit deiner Schwester ein Zimmer teilen müssen. Aber du, Aynur Ünal, hast einen Raum ganz für dich. Du bist die einzige Person in unserer Familie, die über solch einen Luxus verfügt, und wir alle beneiden dich darum.«
Aynur schwieg eine Weile.
»So habe ich das noch gar nicht gesehen.«
7
Herr Mittenzwey arbeitete in einer Brotfabrik. Er bediente dort mehrere Teigknetmaschinen, die er nach stets gleichbleibenden Rezepten befüllen und die Konsistenz des Brotteigs genau kontrollieren musste. In der Brotfabrik wurde an fünf Tagen in der Woche in zwei Schichten gearbeitet. Die Nachtschicht erstreckte sich von 21 Uhr bis 5 Uhr, die Frühschicht von 5 Uhr bis 13 Uhr. Dann reinigte eine Firma die Geräte und Anlagen.
Wenn Herr Mittenzwey von der Nachtschicht nach Hause kam, backte er meist frische Brötchen zum Frühstück, nach einem alten Familienrezept. Dominik stand stets um 6 Uhr auf und sie frühstückten dann gemeinsam. Sobald Dominik auf dem Weg zur Schule war, ruhte sich Herr Mittenzwey aus. Nachmittags begab er sich zu verschiedenen Wohnungen, um zu putzen - jeden Tag in der Woche woanders. Um ein wenig Geld nebenher zu verdienen, hatte er die Jobs als Putzmann angenommen. Erst gegen 19 Uhr hatte er endlich Feierabend. Und immer umgab ihn eine Wolke Putzmittel- und Salmiakduft. Unter der heißen Dusche entspannten sich zwar die Muskeln wieder, aber es fiel ihm trotzdem nicht leicht, sich Dominiks Sorgen konzentriert anzuhören. Lediglich an den Wochenenden hatten sie Zeit füreinander.
Sie wohnten in der vierten Etage des Mietshauses in einer kleinen Wohnung. Zwei Zimmer, Küche, Diele und Duschbad mit WC. Der Vater hatte darauf bestanden, dass Dominik ein Zimmer für sich allein haben sollte.
»Es ist einfach besser so. Ein Junge in deinem Alter muss sich ab und zu in seine Höhle zurückziehen können. Und außerdem würde ich dich nur wecken, wenn ich Spät- oder Frühschicht habe.«
Er selbst schlief im Wohnzimmer auf der Schlafcouch.
Manchmal bekam Herr Mittenzwey von Frau Übeleis, bei der er in der Mommsenstraße putzte, sogar ein Stück Fleisch oder etwas Wurst geschenkt. Zwar war Chouchou, ihr Zwergschnauzer, immer an Futter interessiert, aber das Frauchen übertrieb die Einkäufe gelegentlich. Und das gute Fleisch wegzuwerfen, nur weil das Haltbarkeitsdatum fast abgelaufen war, sah sie auch nicht ein - da tat sie schon lieber ein gutes Werk.
Wenn Dominik in der Küche einen Beutel mit Zwiebeln sah, selbst gebackenes Baguette und frisches Gemüse, wusste er sofort, dass am Abend ein Festschmaus dank Frau Übeleis zu erwarten war.
Er grübelte häufig über die Ungerechtigkeit nach, dass manche Leute viel mehr einkaufen, als sie verbrauchen können, sie selbst dagegen konnten sich in der Regel nur das unbedingt Notwendige leisten.
Die unzähligen Dosen im Supermarkt mit Katzen- und Hundefutter, auf denen auf dem Etikett stand, dass nur bestes Fleisch darin verarbeitet war, ärgerten ihn sogar maßlos.
»Wie kann es denn sein, dass bestes Fleisch zu Hundefutter verarbeitet wird - und wir müssen froh sein, wenn wir ein Stück geschenkt bekommen, weil Fleisch für uns zu teuer ist?«, fragte er den Vater. »Wenn ich die ganzen Verpackungen sehe, stelle ich mir vor, das müssen doch wahre Fleischberge sein, die dabei draufgehen.«
Herr Mittenzwey hatte gerade das Stück Rinderschmorbraten von Frau Übeleis gesalzen und mit Senf eingestrichen. Er zuckte mit den Schultern.
»Es werden täglich auf der Welt ganze Herden geschlachtet. Millionen Tiere jeden Tag, und ein großer Teil davon wird nun mal zu Tierfutter verarbeitet. Ist ein prima Geschäft.«
»Aus welchem Grund wird das Fleisch denn nicht billiger verkauft? Dann gäbe es bei uns sicher öfter mal so etwas wie heute.«
»Ganz einfach, weil dann die Preise sinken würden.«
»Das wäre doch toll!«
»Ja, für uns, nicht für den Handel. Ich will es dir erklären. Gib mir bitte mal das Schmalz, danke. Nehmen wir an, ein Rind wiegt eine Tonne, tausend Kilo.«
»In echt?«
»Weiß ich nicht, es lässt sich nur leichter rechnen. Kalkulieren wir 30 Prozent des Fleisches ist sehr gut, 50 Prozent ist gut, 10 Prozent Innereien und 10 Prozent Knochen. Die Preise kennst du selber, von 8 bis 30 Euro pro Kilo, je nach Qualität. Rechne dir das mal aus. Ich brate inzwischen das Fleisch an.«
Dominik nahm ein Blatt und während er schrieb, überlegte er: 300 zu 30 sind 9.000 Euro, 500 zu, na, sagen wir 15, macht 7.500 und 100 zu 8 sind 800. Knochen rechne ich nicht, obwohl man Leim daraus kochen könnte. Egal.
»Sind in etwa zusammen 17.300 Euro.«
»Okay, wenn wir annehmen, ein Drittel ist zu den Preisen nicht zu verkaufen, müsste man den Preis zumindest im mittleren Segment um ein Drittel kürzen. Dann aber im oberen auch, weil es sonst liegen bliebe. Die meisten Verbraucher schauen auf den Preis. Nach deiner Rechnung käme wie viel weniger dabei rum?«
»Nun ja, sagen wir 5.000.«
»Siehst du, dann lieber wegschmeißen oder besser: Dosenfutter daraus machen. Man kalkuliert mit dem höchsten Ertrag, weil der Preis hoch ist. Was die Verbraucher zum Hochpreis nicht kaufen, wird für einen viel geringeren Preis an die weiterverarbeitende Industrie verkauft, unter anderem zu Tiernahrung. Das ist Business.«
»Ich finde es blödsinnig, dass ein Haufen Tiere umgebracht wird, obwohl man weiß ... Was meinst du, ob ich Herrn Otterbein mal dazu befragen soll?«
»Das finde ich eine gute Idee. Willst du Kartoffeln schälen oder soll ich das übernehmen? Okay, mach du. Es wäre auch interessant zu erfahren, was deine Klassenkameraden dazu meinen.«
8
Biologielehrer Otterbein betrat am nächsten Tag die Klasse, stellte sich wie üblich ans Fenster, schaute hinaus und begrüßte die Schüler wie immer, ihnen den Rücken zugewandt.
»Morjen, junges Volk. Alles im grünen Bereich?«
»Klar!«, antworteten die meisten wie gewohnt.
»Überhaupt nicht!«, reagierte Dominik prompt.
Der Lehrer wandte sich abrupt um und hob die Augenbrauen.
»Da bin ich aber mal gespannt, Dominik. Was gibt es?«
»Darf ich Sie mal was fragen?«
»Natürlich, dafür bin ich ja hier. Außerdem wollen wir es heute bei dem schönen Wetter mal gemütlich angehen lassen.«
»Wieso bekommen bei uns Haustiere prima Fleisch zu fressen und viele Menschen, besonders Kinder in Afrika und was weiß ich wo, müssen verhungern?«
Der Lehrer strich mit dem Zeigefingerrücken nachdenklich seinen Schnauzer erst bis zur Spitze nach rechts, dann nach links.
»Wenn ich es recht bedenke, wäre dies eher eine Frage für den Philosophieunterricht. Ja, in der Tat. Aber wie ich den Kollegen Reimke kenne ... schön, lasst uns darüber reden. Immerhin geht es um Ernährung, und das zumindest gehört zur Biologie. Jeder Mensch muss sich ernähren. Wer zu wenig isst, verhungert und wer zu viel isst, wird krank.«
»Wie der Lukas, der platzt irgendwann!«, rief eine Mädchenstimme aus dem hinteren Bereich der Klasse dazwischen.
»Niemals!« Lukas schaute mit erschrecktem Blick nach hinten.
»Bei dir dauert es nicht mehr lang, dann wirst du es wissen«, spottete Johanna.
»Du bist so gemein«, beschwerte sich Lukas. »Muss ja nicht jeder so eine halb verhungerte Bohnenstange im Wind sein wie du, Schneewittchen.«
Gelächter.
»Schneewittchen, keinen Arsch und keine Titt ...«, johlte Max, den Johanna überhaupt nicht leiden konnte.
»Stopp, Leute!«, mahnte Herr Otterbein. »Mit gegenseitigen Beleidigungen kommen wir nicht weiter. Der eine ist mager, der andere korpulent. Mancher ist groß, mancher eben weniger, aber im Prinzip sind wir Menschen ja alle gleich.«
»Ich nicht«, ereiferte sich Kalle.
»Ich habe eine ganz sachliche Frage gestellt«, warf Dominik gereizt ein. »Ihr seid echt blöd.«
»Ich nicht!«, wiederholte Kalle entrüstet.
»Stimmt, du bist blöder«, tönte es aus der letzten Reihe.
»Hallo!«, ging Herr Otterbein schlichtend dazwischen, schwang sich auf das Lehrerpult und ließ die Beine baumeln. Vanessa betrachtete sie und machte sich Gedanken, wie Otterbeine eigentlich normalerweise aussehen.
»Lasst uns einfach mal mit der Frage anfangen, ob man als Mensch überhaupt Fleisch verzehren muss?«, fragte Dominik.
»Selbstverständlich!«, behauptete Lukas mit großem Nachdruck.
»Quatsch, Menschen können alles konsumieren«, meinte Lena.
»Genau wie Schweine!«, bemerkte Johanna mit einem giftigen Seitenblick auf Lukas.
»Der Magen von einem Schwein ist dem des Menschen sehr ähnlich, das ist richtig«, erklärte Herr Otterbein. »Aber auch ohne Fleisch zu essen, können wir leben. Es gibt tatsächlich sogar recht viele Menschen, die gar kein Fleisch zu sich nehmen.«
»Vor allem in Indien!«, platzte Malte heraus.
»Idiot, die dürfen bloß kein Rindfleisch mampfen«, berichtigte Tim.
»Und Türken und so dürfen auch kein Schwein, stimmt es, Aynur?«
»Unsere Religion verbietet uns Schweinefleisch zu essen, weil die Tiere als unrein gelten.« Sie schmunzelte. »Dass Currywurst nicht nur aus Curry besteht, dürfte klar sein. Ich liebe Currywurst. Und wenn ich nicht weiß, was in einer Wurst ist, habe ich kein Problem damit.«
»Würdest du denn deinem Hund zum Beispiel Schweinefleisch zu fressen geben?«, wollte Dominik wissen. Er hatte das Gefühl, dass seine Frage fast an den Rand der Diskussion geriet.
Aynur blickte für Sekunden ins Leere.
»Darüber habe ich bisher nie nachgedacht, weil ich keinen Hund habe.«
Franziska stand von ihrem Stuhl auf.
»Meine Eltern haben Freunde aus Japan. Japaner. Die haben einen Schäferhund. Einen richtig normalen Deutschen Schäferhund.«
»Klar, Japsen fressen Köter!« Hans-Josef rückte die rote Rennfahrerkappe auf seinem Schädel zurecht. »Deutsche täten so was nie tun.«
»Davon bin ich gar nicht überzeugt. Ich sehe dich nämlich jeden Tag dicke Hamburger verschlingen. Weißt du so genau, was da drin ist? Vielleicht sogar Ratten!«, provozierte ihn Malte.
»Du spinnst, wird doch alles geprüft«, winkte Hans-Josef ab, der allgemein nur Ha-Jott genannt wurde. »In den Ausländerbuden kann so was höchstens passieren, aber da geht man ja auch nicht hin!«
»Kann ja nicht jeder deutsch sein«, meinte Aynur mit sanftmütigem Blick.
Ha-Jott lehnte sich zurück. »Das tun wir euch schon noch beibringen!«
»Schwachsinn! Schau mich an. Selbst wenn ich die deutsche Staatsangehörigkeit annähme, bleibe ich weiterhin geborene Türkin. Deutsch kann man nicht nachträglich werden«, gab Aynur zu bedenken.
»Stimmt!«, ergänzte Vanessa. »So blöd muss man geboren sein! Und manche sind besonders blöde geboren, wie man an dir sieht, Ha-Jott!«
Dessen Kopf nahm die Farbe seiner Kappe an. Er ballte die Hände zu Fäusten und schob die Schulbank ein wenig von sich, um aufzustehen.
»Sitzen bleiben, Ha-Jott, sonst kannst du dich sofort wieder beim Direx melden. Hinsetzen! Also, Franziska, was ist nun mit dem japanischen Schäferhund?«
»Der bekommt seit Jahren nur Reis und Gemüse zu fressen.«
»Mahlzeit«, sagte Lukas mitleidig.
»Wirklich ein gutes Beispiel, Franziska«, lobte Herr Otterbein. »Es ist sowieso hauptsächlich Gewohnheitssache, wovon man sich ernährt. In Asien ist Reis nun mal das Hauptnahrungsmittel. Jeden Tag gibt es Reis zum Sattwerden. Mit verschiedenen Soßen natürlich, wegen der geschmacklichen Abwechslung. Da hat nicht jeder jeden Tag Fleisch auf dem Tisch. Ich selbst habe in Bangkok sogar einmal Jellyfish probiert.«
»Was soll denn das sein? Geleefisch?«, wollte Aynur wissen.
»So gesehen ja, Aynur. Wir nennen das hier allerdings anders - Qualle.«
»Igitt!«, schüttelte sich Johanna.
»Wieso?«, fragte Vanessa. »Hast du es jemals probiert? Erst wenn du etwas kostest, kannst du dir ein Urteil erlauben. Unprobiert schmeckt nach nichts, dann ist es bloß«, sie wies mit dem Kinn zu Ha-Jott, »Gewäsch.«
Der beherrschte sich mühsam.
»Ich würde mich lieber erschießen«, behauptete er auch sofort.
»Gute Idee!«, jubelte Laura. »Uns würde das sicherlich sehr gefallen. Wenigstens ein Armleuchter weniger.«
»Das wird euch noch leid tun!«, drohte Hans-Josef und kratzte sich die Stirn unter der Kappe.
»Ich will auf etwas ganz anderes hinaus«, erklärte Dominik. »Ha-Jott ist ja nicht der Einzige von uns, der zum Ami geht.«
»Zu welchem Ami?«, fragte eine Stimme aus dem Hintergrund.
»McDödel, du Blödel!«, antwortete eine andere.
»Na, wieso denn nicht!«, intonierte die Klasse nahezu im Chor.
»Wenn wir nun einfach mal glauben, dass die wirklich nur Rindfleisch verarbeiten, muss man sich vorstellen, wie viele Rinder wohl jeden Tag geschlachtet und zerhackt werden müssen, um diese unglaubliche Menge Hamburger herstellen zu können.«
»Kann so viel gar nicht sein«, meinte Lukas. »Ist ja nicht viel Fleisch drin.«
»Hamburgerläden gibt es in allen Städten auf der ganzen Welt«, sagte Dominik. »Und in vielen davon gibt es nicht nur einen Laden, sondern Dutzende. Da kommen Tonnen an Fleisch zusammen. Habt ihr euch eigentlich schon einmal überlegt, welch riesige Flächen fruchtbarstes Weideland diese Rinderherden täglich zertrampeln und zerfressen? Um ein Kilo Rindfleisch durch den Fleischwolf drehen zu können, müssen gut zwanzig Kilo Nahrung an diese Tiere verfüttert werden, habe ich gelesen. Und es gibt deswegen nicht genügend Getreide, um Brot zu backen.«
»Blödsinn, es gibt doch jede Menge Brot.«
»Ja, bei uns. Woanders müssen jeden Tag Menschen verhungern, weil sie nichts zu futtern haben. Wenn man nun weniger Rinder züchten würde, um auf dem Boden stattdessen mehr Roggen, Weizen und was weiß ich anzubauen, dann könnte man daraus ausreichend viel Mehl herstellen. Dann würde vielleicht für jeden Menschen genügend Brot da sein, oder? Nur weil jeder bei uns, und dazu noch die halbe Welt, Rinderhack liebt, zwischen Pappbrötchen gequetscht und mit Kunstkäse belegt, wird eben kein Getreide angebaut, sondern Weideland verfüttert. Und wenn man sich vorstellt, das restliche Fleisch wird nicht etwa in Dosen gepappt und mit Brot an Hungernde verteilt - Gott bewahre.«
»Wo soll man denn auch das Brot hernehmen, wenn du sagst, dass sowieso kein Getreide dafür angebaut wird?«
»Weiß ich nicht so genau, aber wenn man das Zeug, was sowieso zu viel ist, ich meine Fleisch, gar nicht erst produzieren würde, bliebe mehr Platz für Landwirtschaft. Was wollte ich denn jetzt damit sagen?«
»Stuss«, winkte Lukas ab.
»Wenn ich dich richtig verstanden habe, wolltest du dich zu den Resten äußern, die in ungeheurer Menge bei der Fleisch produzierenden Industrie übrig bleiben«, bemerkte Herr Otterbein.
»Genau. Das Zeug wird zu unglaublichen Mengen Dosenfutter verarbeitet und bei uns an Tiere verfüttert!«
»Und das stört dich, weil ihr zu Hause nix Anständiges zu fressen habt«, ließ Lisa mit gering schätzendem Blick auf Dominik verlauten.
»Ich finde das in der Tat störend«, verkündete Anna, die im Haus neben Lisa wohnte. »Und du brauchst dir überhaupt nichts einzubilden. Euch geht es doch nur so gut, weil deine Alte alles drüber lässt, was genügend Geld hat und einen dicken Schlitten fährt.«
»Du mieses Stückchen Dreck!«, brauste Lisa auf. »Was glaubst du eigentlich ...«
»Ich glaube, dass alle naselang ein neuer ›Onkel‹ auch nicht der wahre Jakob ist! Und wie ich dich einschätze, machst du deiner Mutter sogar ordentlich Konkurrenz.«
Bevor die Mädchen mit langen Fingernägeln übereinander herfallen konnten, mischte sich Herr Otterbein ein. »Könnten die Damen ihre Zwistigkeiten vielleicht auf dem Schulhof austragen? Oder besser noch auf der Straße!«
Die Klasse lachte.
»Einige von uns - ich nehme mich da gar nicht aus - gehen regelmäßig in die eine oder andere Imbissbude«, kam Herr Otterbein zum Thema zurück. »Mir schmeckt zum Beispiel der Hähnchendöner am Bahnhof am besten. Meine Frau schimpft zwar stets, wenn ich mit einer Knoblauchfahne zu Hause erscheine, aber manchmal kann ich einfach nicht drauf verzichten.«
»Ich gehe am liebsten zum Schorse an der Tanke beim Stadion«, verkündete Lukas. »Der macht prima Wiener Schnitzel mit einer Riesenportion Pommes dazu.«
»Weißt du eigentlich«, fragte Vanessa ihn, »dass echte Wiener Schnitzel genau genommen aus Kuheutern zubereitet werden?«
Nicht nur Lukas schaute Vanessa zweifelnd an.
»Wie kommst du denn auf die Schweinerei?«
»Gar nix Schweinerei. Ich habe eine Tante in Österreich, in Hörsching, das liegt bei Linz, und deren Köchin hat es mir erzählt.«
»Na ja«, winkte Ha-Jott ab, »in Osterreich vielleicht. Ist ja auch ein Sauland!«
»Ach nee, dein großes Vorbild war doch Österreicher! Nun ist er plötzlich für dich ein Saukerl aus einem Sauland? Wie schnell sich deine Meinung ändert«, spottete Dominik.
»Du Sackgesicht! Der Führer war Münchner!«
»Von wegen! Der Scheißkerl wurde in Braunau geboren - und die Stadt liegt bekanntlich in Österreich! Der ist als Obdachloser, als Penner, als Asylant nach München gekommen und stand kurz vor seiner Ausweisung.«
»Da muss ich Dominik recht geben, Hans-Josef«, erklärte Herr Otterbein. »Eine stattliche Anzahl der führenden Nazis waren Österreicher. Komisch, hättet ihr längst im Geschichtsunterricht durchnehmen müssen. Wer gibt bei euch Geschichte?«
»Grundmann.«
»Ach so, ja dann ... Der Herr Kollege liebt geschichtliche Daten. Wer wann wo vor fünftausend Jahren geboren und gestorben ist. Bloß diese tausend Jahre berührt er lieber nicht.«
»Welche?«, fragte Johanna.
»Dussel«, antwortete Tobias. »1933 bis 1945.«
»Selber Dussel, das sind keine ... ach so.«
»Genau«, schmunzelte Herr Otterbein. »Also mache ich heute auch noch Geschichtsunterricht - selbst auf die Gefahr hin, wieder Ärger zu bekommen. Aber ich finde, ihr solltet das wissen. Ein recht bedeutender österreichischer Historiker, ein gewisser Friedrich Heer hat bewiesen - unwiderleglich bewiesen! -, dass der Nationalsozialismus ein absolut und zutiefst österreichisches Produkt war, samt der damit zwangsläufig verbundenen puren Mordlust aus Sadismus, Lüge, Verschlagenheit, Neid, Missgunst und Hass. Wir stets willfährigen Deutschen haben dieses Grundprinzip lediglich perfektioniert. Und ob nun Stiernacken, Glatzen oder Kapuzenträger Gewalt anwenden und bejohlen - glaube mir, Ha-Jott, du wärst der Erste, den sie vorsorglich erschlagen würden, sofern du dich nicht sofort unterwerfen und bis zum Stiefelküssen anpassen würdest.«
»Ihr seid eine blöde Bande von Holzköpfen«, gab Hans-Josef beleidigt von sich und schwieg.
»Beati pauperes spiritu«, brachte es Franziska auf den Punkt.
»Was?«, fragte Vanessa.
»Selig sind die geistig Armen«, übersetzte Franziska. »Lasst ihn in Ruhe, außer Fußball und Autorennen hat der nichts im Kopf. Mein Vater sagt, wer nur von alten Zeiten träumt, wird keine besseren erleben. Aber zurück zum Thema, Dominik hat recht, finde ich. Wieso kriegen Hunde und Katzen, die ja nun wirklich zu überhaupt nichts nütze sind, bestes Zeug zu fressen und die halbe Welt verreckt vor Hunger?«
»Katzen sind nicht unnütz. Mit meiner Katze kann ich prima schmusen und die hört aufs Wort. Wenn ich Maunzi rufe, kommt sie sofort«, stellte Lisa richtig.
»Natürlich«, spottete Kathi. »Wer heißt denn sonst bei dir zu Hause Maunzi? Selbstverständlich sind in den Städten Katzen und ganz besonders Hunde unnütz. In Berlin zum Beispiel müssen jedes Jahr über 60 Tonnen Hundescheiße von Gehwegen gekehrt und entsorgt werden. Toll nützlich, ja.«
Herr Otterbein nahm diesen Gedanken auf.
»Das habe ich ebenfalls gelesen. Und demzufolge muss ja auch, und zwar nur in Berlin, mindestens genauso viel verfüttert werden. Hunde und Katzen auf einem Bauernhof sehe ich ja ein ...«
»Im dritten Stock eines Wohnhauses ist das purer Schwachsinn«, dachte Lukas laut weiter.
»Sechzigtausend Kilogramm Hundescheiße, oha.«
»Und das nur in Berlin. Was glaubt ihr, wie viel Scheiße da in Deutschland zusammenkommt. Von Europa mal ganz zu schweigen.«
»In Island sind Hunde verboten«, merkte Max an.
»Zumindest in Reykjavik«, ergänzte Herr Otterbein. »Und jetzt stellt euch mal vor, wie viele Rindviecher gefüttert, geschlachtet, zerhackt und in Dosen verpackt werden müssen, um all diese Hunde und Katzen - nur bei uns in Europa - satt zu bekommen.«
»Genau das meine ich«, stieß Dominik hervor. »Wie viel Getreide, Gemüse und Obst könnte man anbauen, wenn nicht solch unermesslich riesige Viehherden unbegreiflich viel fruchtbares Weideland auf der ganzen Welt kahl fressen würden, um im Hundefutter zu landen?« Dominik war während seiner Worte aufgestanden und schaute sich nun in der Klasse um.
Niemand antwortete, bis Herr Otterbein schließlich nickte.
»Wie ich schon sagte, ein Fall für den Kollegen Reimke und seinen unverwechselbar fesselnden Philosophieunterricht.«
Die Klasse lachte begeistert.
»Diejenigen, die einsam und allein sind und niemand anderes haben als ihren Hund oder ihre Katze, werden sich sicherlich kaum von ihrem Vierbeiner trennen, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten«, warf Vanessa ein.
»Denke ich auch. Selbstverständlich könnten wir nun hier und heute feierlich beschließen, künftig weder Hund noch Katze als Haustier zu halten. Aber so lange es chic ist, solch ein Tier zu halten, werden wir paar Männeken nix dran ändern können«, folgerte Herr Otterbein.
»Ich denke, man soll nicht ›nix‹ sagen«, grinste Ha-Jott.
»Bah, bist du ein Armleuchter«, kritisierte Dominik und winkte ab. »Meinen Sie, dass wir mal an die Herrschaften im Bundestag in Berlin schreiben könnten, Herr Otterbein?«
»Können könnten wir schon. Aber weil auf der Welt eine ganze Stange Geld mit Tierdosenfutter verdient wird, wird dies wohl nicht viel nützen. Die Produzenten von Tiernahrung sind schließlich nicht zu unterschätzende Lobbyisten.«
»Lobbiwas?«
»Sobald mit irgendeiner Sache irgendeine Gruppe sehr viel Geld verdienen kann, bezeichnet man eine solche Interessengruppe als Lobby oder auf deutsch Organisation, Clique, Clan, Syndikat, was immer ihr wollt.«
»Wie die Mafia?«, wollte Kalle wissen.
»In gewissem Sinne ja - ob das Augenmerk nun auf dem Drogenhandel liegt, der Rüstung, dem Erdöl, den Autos, dem Atomstrom oder auf unserem Thema Tiernahrung, ist unerheblich. Bedeutend ist, dass solche Interessengruppen nicht nur national, sondern weltweit operieren, als multinationale Gesellschaften. Und Politiker können nicht umhin, auf die Interessen der einzelnen Gruppen Rücksicht zu nehmen. Die multinationalen Gesellschaften können ein Land spielend zugrunde richten.«
»Was ist das, multinationale Gesellschaften?«, wollte Kathi wissen.
Die anderen nickten neugierig.
Herr Otterbein schmunzelte. »Heute bin ich interdisziplinär aktiv, habe ich das Gefühl. Also gut. Das sind Unternehmen, die in allen Ländern Niederlassungen haben und somit nirgendwo als Ausländer behandelt werden - ohne denjenigen Ländern verpflichtet zu sein. Aber hofiert werden sie von sämtlichen Regierungen, wegen der Arbeitsplätze, die sie versprechen. Das verleiht diesen Gruppen unglaublich viel Macht über Regierungen und außerdem verdienen sie an jeder Krise Geld ohne Ende - weltweit. Wir haben gerade eine Bankenkrise, Automobilkrise, Wirtschaftskrise und so weiter. Die multinationalen Gesellschaften kratzt das nicht, denn sie haben keinerlei Risiko bei allem, was sie tun.«
»Und warum muss der Staat so viele Milliarden in die Krisenabwehr stecken, damit nicht alles kaputtgeht?« Dominik stand noch immer.
»Weil die weltweit operierenden Unternehmen hieran kräftig verdienen. Ich will es euch an einem Beispiel erklären. Nehmen wir irgendeinen Automobilkonzern, der hier in Deutschland, Frankreich oder sonstwo Tochtergesellschaften hat, die sehr viele Autos bauen und verkaufen. Die machen somit viele Milliarden Euro Gewinn. Müssten demzufolge auch Milliarden an Steuern zahlen, okay? Und das will kein Konzern der Welt. Also wählt man irgendein Land aus, in dem die Menschen für extrem wenig Geld zu arbeiten bereit sind, um überhaupt eine Arbeit zu haben. Dort gründet man eine Tochtergesellschaft und die bietet an, in diesem Land Autofabriken zu bauen.«
»Was ist daran schlecht?«
»Bislang nichts, Kalle. Aber diese Fabriken wird der Konzern nur bauen, wenn das jeweilige Land garantiert, dass die Tochtergesellschaft in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren keinerlei Steuern oder sonstige Abgaben dort zahlen muss. Diese Tochtergesellschaft ist nun - wegen der entstandenen Arbeitsplätze - in dem Land eine Lobby und die Politiker versprechen alles. Allerdings werden die neuen Fabriken mit Geldern der Tochtergesellschaften inDeutschland, Frankreich und so weiter finanziert. Demzufolge machen diese in den Ländern keine Riesengewinne mehr, sondern wegen der Abschreibungen für Finanzierungen dieser Fabriken woanders plötzlich Riesenverluste. Und zahlen natürlich nicht einen Euro an Steuern hier oder in Frankreich oder sonst wo. Im Gegenteil, sie häufen Schuldenberge an, die bis in den Himmel und höher reichen. Und mit der Drohung, wegen dieser Überschuldung - leider, leider - Arbeitsplätze abbauen zu müssen, erpressen sie Unterstützungszahlungen in Milliardenhöhe, zum Beispiel von der deutschen Bundesregierung. Die können sich dem ja nicht entgegenstellen - wegen der Lobby. Und den ganzen Zauber bezahlt der Staat - also wir alle. So in etwa funktioniert Weltwirtschaftspolitik.«
»Das heißt, Politiker müssen tun, was die großen Konzerne wollen?«
»Richtig, Malte. Und wenn der eine oder andere Politiker nicht tun will, was die Lobby verlangt, wird er entweder beseitigt oder erhält viel Geld. In den meisten Fällen erhalten die Herrschaften sehr viel Geld. Dann bleiben sie gefügig.«
»Dann muss man diese Leute abwählen!«
»Du meinst die Politiker?«
»Ja!« Die Klasse war sich einig.
Herr Otterbein schaute in die Runde. Er lächelte.
»Und durch wen wollt ihr Politiker ersetzen?«
»Scheiße!«, entfuhr es Aynur.
9
»Jetzt möchte ich gerne mal etwas von Ihnen wissen«, verlangte Max.
»Bitte!«
»Wieso sollen wir uns denn Gedanken machen, wen wir wählen würden, wenn wir dürfen? Nach dem, was Sie sagen, möchte ich lieber gar nicht wählen gehen, da sowieso alles beim Alten bleibt. Wenn auf einen korrupten Politiker ohnehin wieder ein korrupter folgt.«
»Das wollte ich nicht vermitteln. Denn nur der Umstand, dass sie abgewählt werden könnten, hindert Politiker daran, ausnahmslos das zu tun, was ihnen nützt und unseren Willen von vornherein vollkommen zu ignorieren. Wer nicht wählen geht, darf sich meiner Meinung nach nicht einmal beschweren! Zugegeben, Machtpolitiker verhalten sich wie offene Hosen«, Herr Otterbein lachte, »einige zumindest, beileibe nicht alle.«
»Klar, dass Sie das sagen müssen. Schließlich ist Ihr Bruder selbst Politiker.«
Herr Otterbein schwieg einen Augenblick betreten.
»Das ist er. Und ich schäme mich für ihn und sein Verhalten. Aber er ist nur ein Politiker. Nicht alle sind so eingestellt wie er.«
»Wenn viele Politiker schlichtweg und ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind und vor nichts zurückschrecken, was ihnen persönlich nützt, was soll man denn da tun?«, ließ Vanessa nicht locker.
Herr Otterbein blickte nachdenklich zu Boden.
»Vielleicht gelingt es ja einigen von euch, selbst Politiker zu werden und es einmal besser zu machen als diejenigen, die sich heute nur die Taschen füllen und denen wir und unser Land völlig egal sind. Wie soll ich mich dazu äußern? Ich bin Beamter, soll ich mich öffentlich gegen meine Dienstherren auflehnen? Wenn ich zum Beispiel meinen Bruder - zugegeben ein gefährlicher Lumpenhund - und seine Partei ganz öffentlich zerfleische, bin ich morgen wahrscheinlich meinen Job los. Wem hilft das?«
»Sie meinen, wenn wir stattdessen diskutieren, können wir gemeinsam irgendwann mal diese Parteigauner zum Teufel jagen?«, hakte Vanessa nach.
»Möglicherweise ja«, warf Dominik ein. »Die DDR-Mörder wurden auch von ganz einfachen DDR-Leuten zum Teufel gejagt, hat der Grundmann erzählt, und nicht von Bonzen. Und er hat gesagt, dass Kanzler Kohl mit seiner Clique - als es schon völlig ungefährlich war - nur auf den fahrenden Zug gesprungen ist. Immer mehr Verbrecher aus der Politik werden in der Öffentlichkeit entlarvt, weil Journalisten und Vertreter der Medien sich endlich nicht von Politikern und Dienstvorgesetzten drangsalieren lassen, sondern aufklären. Also, ich werde einmal Journalist, das verspreche ich euch!« Damit setzte sich Dominik.
Biologielehrer Otterbein war zwischen den Tischreihen herummarschiert und erreichte nun wieder das Lehrerpult.
»Ehrliche Öffentlichkeitsarbeit ist ein richtiger Schritt in Richtung Demokratie, Dominik. Haltet den Funken Wachsamkeit vor unkontrollierter staatlicher Überwachung in euch am Leben. Wenn es uns Lehrern gelingt, euch das nahezubringen, bilde ich mir ein, als einfacher kleiner Lehrer verdammt viel für die freiheitliche, demokratische Gesellschaft getan zu haben. Bei aller existenzieller Feigheit, die man uns anerzogen hat und der auch ich leider gehorche.«
Die Klasse schwieg.
»Hat eigentlich jeder Angst, Herr Otterbein?«, fragte Vanessa nach einer Weile.
»Wer keine Angst hat, ist ein Idiot«, platzte Lukas heraus und wunderte sich selbst über seine Antwort.
»Ja, ich glaube schon.« Herr Otterbein nickte.
»Dann haben Politiker wahrscheinlich ebenfalls Angst?« Dominik schaute zu Vanessa.
»Tja, einige bestimmt. Fragt sich aber nur, wovor?«, sagte Herr Otterbein leise.
»Ich bin dafür, einen Brief ans Parlament in Berlin zu schreiben«, meinte Franziska. »Mag ja sein, dass es nichts nützt, schaden wird es in keinem Fall.«
Gemeinsam hatte die Klasse nach weiteren heftigen Diskussionen einen Brief an die Politiker im Bundestag in Berlin formuliert. Die dicke Kathi hatte den Brief geschrieben, weil sie die sauberste Handschrift hatte und alle unterschrieben, sogar Herr Otterbein, obwohl er Beamter war.
Dominik hatte im Schlusssatz Bertolt Brecht zitiert: ›Das Unglück kommt nicht wie der Regen, sondern es wird von denen gemacht, die davon einen Nutzen haben!‹
Dass die Damen und Herren Volksvertreter den Brief womöglich wegen des Schlusssatzes unbeantwortet ließen, gab Anlass zu weiteren Diskussionen. Dann kamen die Schüler zu der Erkenntnis, dass sie den Brief vernünftigerweise im nächsten Jahr hätten schreiben sollen, dann wäre Wahljahr. Und allgemein bekannt ist, dass Politiker sich um die Sorgen und Nöte der Bevölkerung - wenn überhaupt - nur in Wahljahren kümmern.
»Wie soll man denn an die rankommen, um zu erklären, was uns bewegt? Können wir nicht mal eine Klassenfahrt nach Berlin machen und als Besucher das Parlament aufsuchen?«, fragte Aynur.
Herr Otterbein wirkte einen Augenblick lang nachdenklich.
»Deine Idee ist gar nicht mal von der Hand zu weisen«, bestätigte er. »Ich werde das im Kollegium besprechen.«
»Wie wäre es denn«, flachste Birgit, »wie wäre es denn, wenn man statt harmloser Rindviecher diese geistigen Nichtschwimmer in Dosen packen würde?«
»Geistige Nichtschwimmer?« Lukas verstand den Sinn nicht.
»Politiker! Wovon reden wir denn?«, belehrte Birgit ihn.
»Ich finde es nicht sehr klug, wenn wir uns öffentlich in Beleidigungen ergehen. Selbst Politiker waren einst Menschen wie wir«, bemühte sich Herr Otterbein zu beschwichtigen.
»Vergessen Sie das, Herr Otterbein«, lenkte Vanessa ein. Sie warf einen kurzen Seitenblick zu Dominik und gab sich einen Ruck. »Aber ich glaube, wenn Dominik Politiker wäre, könnte ich ihm vertrauen.«
Dominiks Gesichtsfarbe glich von einer Sekunde zur anderen einer sehr reifen Tomate.
10
Seit ein paar Wochen spielte Dominik mit seinem Vater Spiele, bei denen man nicht würfeln muss oder einem sonst wie einfach nur Glück genügt, um zu gewinnen, sondern solche Spiele, bei denen man teuflisch nachdenken muss, Schach zum Beispiel, oder Mühle.
Dominik mochte es genauso gerne, wenn der Vater ihm etwas aus Büchern vorlas. Natürlich konnte Dominik selbst lesen. Doch viel mehr Spaß machte es ihm eben, nur zuzuhören und sich dabei das Geschehen bildlich vorzustellen.
Besonders die Erzählungen, die ein Mann aufgeschrieben hatte, der sehr viel Wert darauf legte, dass alle Menschen - nicht nur Kinder - zunächst einmal nachdenken sollten, bevor sie irgendetwas zu tun beginnen, gefielen Dominik äußerst gut.
Eigentlich, dachte er, sollten alle Erwachsenen sich diese Geschichten gelegentlich mal wieder vornehmen und nicht nur diejenigen, die ihren Kindern daraus vorlesen. Manchmal geschieht dies sogar, nur nicht mehr sehr oft.
In diesen Romanen geht es sehr häufig genau darum, dass Menschen sich gegenseitig helfen sollten, anstatt anderen, die dringend Hilfe benötigen, das Leben zu erschweren.
Leider gibt es scheinbar immer weniger Menschen, die anderen helfen, ohne vorher nachzurechnen, ob sich die Hilfe für sie selbst lohnt, dachte Dominik zuweilen.
Der längst verstorbene Schriftsteller Erich Kästner hatte über solche Themen recht viele Werke geschrieben, und diese interessierten Dominik. Deshalb mochte er es eben besonders gern, wenn der Vater sie ihm vorlas. Nachlesen konnte er selbst. Für den Vater führte das Vorlesen dazu, dass er sich an seine eigenen Träume von früher erinnerte, als er selbst noch gehofft hatte, an einer besseren Welt mitarbeiten zu können. Und sonderbar fand er - die Geschichten waren bis heute aktuell. Nicht nur für Kinder, sondern erst recht für Erwachsene, weil nämlich zuallererst im menschlichen Leben das Denken kommen sollte und das gegenseitige Helfen, erst dann das Geldverdienen. Okay, wichtig ist das auch, aber nicht nur! Geld ist schließlich nicht alles!
Herr Mittenzwey war früher einmal selbstständiger Kaufmann gewesen und hatte im eigenen Geschäft gearbeitet. Er hatte seine Arbeit geliebt und sich im Umgang mit der Kundschaft sehr wohlgefühlt. Dann war seine Frau, Dominiks Mutter, von einem Tag zum anderen, ohne vorheriges Anzeichen, sehr schwer krank geworden und hatte sich nicht mehr um die Familie und ganz besonders nicht mehr um Dominik kümmern können. Dies übernahm nun der Vater. Darunter litt das Geschäft. Die medizinische Behandlung und Versorgung von Frau Mittenzwey verschlangen sehr viel Geld. Geholfen hatte es nichts. Sämtliche Ersparnisse waren schon vor dem Tod von Dominiks Mutter aufgebraucht gewesen. Und schließlich blieben nur noch Schulden. Aber das finanzielle Fiasko betrübte weit weniger als der Verlust der Mutter.
Mittlerweile unternahmen die Mittenzweys wieder mehr miteinander: Pingpong spielen auf der Betontischtennisplatte auf dem Schulhof. Fußball spielen am Baggersee oder darin baden. Und natürlich im Winter auf diesem Baggersee Schlittschuh laufen. Die Sachen, die gar nichts kosten, bringen oft den größten Spaß.
Ganz anders als fernsehen. Das kostet zum einen Geld und zum anderen fanden Dominik und sein Vater, wenn sie mal irgendwo zu Besuch waren und dort ständig die Kiste flimmerte, das Programm ziemlich einfältig und langweilig. Zudem erstickte es jegliche Unterhaltung.
Dominik hörte immer recht verwundert zu, wenn sich die anderen Schüler gegenseitig erzählten, was sie denn am Abend vorher im Fernsehen so alles gesehen hatten. Und er hatte nicht im Geringsten den Eindruck, jemals irgendetwas verpasst zu haben.
Ab und zu wurde er gefragt, ob er dies oder jenes gesehen hätte.
»Nein, wozu?«, fragte er dann zurück und lächelte.
Dominik wirkte stets irgendwie etwas anders als die anderen. Und Vanessa gefiel dieses Anderssein insgeheim sehr. Denn wenn die anderen Jungs rumschrien und sich wichtigtaten, beobachtete Dominik das alberne Treiben meist nur.
Halt, das stimmt nicht ganz, denn neulich hatte sich Dominik sogar in eine Rangelei eingemischt.
Vanessa und Aynur saßen an jenem Tag auf der Brücke beim Ententeich. Sie saßen häufig dort, ließen die Beine über die Brüstung baumeln und verfütterten die Reste der Pausenbrote. Hier waren die Mädchen ungestört und konnten in Ruhe reden. Urplötzlich standen Ha-Jott und zwei seiner Kumpel aus der Parallelklasse hinter ihnen. Ha-Jott hatte noch ein Hühnchen mit den Mädchen zu rupfen. Er hatte den spöttischen Satz: »So blöde muss man geboren sein« von Vanessa nicht vergessen. Und den ironischen Kommentar: »Schwachsinn« von Aynur ebenso wenig. Er hätte die Mädchen zwar lieber einzeln abgefertigt, aber nun gut.
Die Mädchen waren aufgesprungen und von der schmalen Brücke auf die Wiese gerannt, dort hatten die drei Jungs sie gestellt.
Ha-Jott hatte zuerst Aynur an den langen Haaren gepackt, bis sie schrie, ihr die Schultasche von der Schulter gerissen und sie dann wüst beschimpft. Aynur weinte. An den Haaren zerrte er Aynur hinter sich her zu seinen Kameraden, die Vanessa in festem Griff hielten.
»Sollen wir die Schlampen ins Wasser schmeißen?«, fragte er seine Kumpels.
»Lasst die Mädchen in Ruhe!«
Diese fünf Worte hatte Dominik zwar laut, aber dennoch betont ruhig gesprochen. Er stand Ha-Jott Face to Face gegenüber. Der ließ reflexartig Aynurs Haare los. Blitzschnell griff Aynur nach ihrer Tasche und drückte sie an sich, während die Tränen weiter ihre Wangen hinabflossen. Von den drei Rüpeln waren wirklich schlimme Worte gefallen.
Ha-Jott hatte Dominik verblüfft angesehen und sich in seiner vermeintlich männlichsten Pose die Hände in die Hüften gestemmt.
»Was willst du Hanswurst denn? Der Feuermelder kann dir ja wohl egal sein.«
Er trat einen Schritt auf Dominik zu. Die Haare unter der Kappe klebten glänzend am Kopf und ein Goldkettchen blitzte am Hals. Mit einem selbstzufriedenen Grinsen wandte er sich den Kameraden zu. Die schienen mächtig amüsiert. Beide hielten Vanessas Arme fest und tasteten ihren Körper genüsslich ab. Ha-Jott schaute Dominik wieder an und beugte den Kopf ganz nah zu dessen Gesicht.
»Oder bist du vielleicht scharf auf die Türken...«
Mitten im Wort versagte dem Anführer die Stimme, denn da lag er bereits vor Dominik im Staub und glaubte, sein Schädel würde platzen. Dominik hatte ihm kurzerhand die Stirn äußerst kräftig gegen seine Nase gestoßen, die sofort stark blutete und nun entsetzlich wehtat. Ha-Jott ging unverzüglich zu Boden und krümmte sich, die Hände vor dem Gesicht.
»Steh auf, du Jammergestalt!«, befahl Dominik.
Der bislang uneingeschränkte Leithammel entpuppte sich als ein vor Schmerz heulender Junge. Er rappelte sich fassungslos, aber gehorsam auf und betrachtete seine blutbefleckten Hände. Wütend wollte er seinen Spezi befehlen, sich gemeinsam auf Dominik zu stürzen. Seltsamerweise waren diese wie vom Erdboden verschluckt. Auf sich allein gestellt, starrte Hans-Josef seinen Gegner Dominik entsetzt an, weil der ihn kurzerhand am Kragen gepackt hatte und ruhig, jedoch bestimmt zu ihm sprach.
»Wenn ich ein einziges Mal erfahre, dass du mit deinen hirnlosen Freunden die Mädchen belästigst, kriegst du eine Tracht Prügel, die du dein Leben lang nicht mehr vergisst. Hast du mich verstanden?«
Ha-Jott schwitzte und brachte keinen Ton heraus.
»Ob du mich verstanden hast?!«
Ein ersticktes »Ja« war die knappe Antwort.
Dominik hielt den jetzt gar nicht mehr selbstsicher wirkenden Häuptling weiterhin fest und forderte: »Jetzt entschuldigst du dich sowohl bei Aynur, als auch bei Vanessa, dem Feuermelder, wie du so farbig formuliertest. Los, du feige Ratte!«
Dominik stieß den Burschen in Richtung der Mädchen. Aber kaum hatte er ihn losgelassen, war Ha-Jott wie ein geölter Blitz verschwunden - ohne sich zu entschuldigen. Eben ganz ein Großmaul.
Daran konnte Dominik nun nichts mehr ändern. Er erkundigte sich, ob mit den Mädchen alles okay sei. Dann sah er in die Richtung, in die der Kontrahent verschwunden war, und traf eine einfache, sachliche Feststellung.
»Was für eine erbärmliche Null!«
»Der hat uns bisher noch nie aufgelauert. Ich habe Angst, dass die uns jetzt erst recht drangsalieren werden«, vermutete Aynur.
Dominik legte ihr einen Arm um die Schulter.
»Nun lass mal gut sein. Ihr kennt schließlich Ha-Jott. Er hält sich selbst für einen Bullterrier, stattdessen ist er allenfalls ein Pinscher.«
Aynur lachte trotz ihres tränenverschmierten Gesichtes.
Dominik strich über ihre Schulter.
»Wenn es euch beruhigt, knöpfen wir uns die Kerle morgen vor der Schule gründlich vor.«
»Willst du dich etwa mit denen prügeln?«, empörte sich Vanessa. Dass Dominik den Arm immer noch um Aynurs Schulter hielt, machte sie mehr als wütend.
Dominik schüttelte den Kopf.
»Mit der Faust allein beweist man keinen Mut. Man muss den Kopf gebrauchen, das bringt viel mehr. Wir müssen nur Malte, Lukas und Max Bescheid sagen. Wenn wir die drei Flitzpiepen morgen früh in Empfang nehmen, haben die garantiert für alle Zeiten die Hosen voll. Das geht ohne Prügelei vonstatten.«
Das schlanke Mädchen mit den glänzenden schwarzen Haaren lächelte über diesen Einfall und war beruhigt.
»Danke, Dominik.« Aynur gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Vanessa reichte ihm die Hand.
»Auch von mir danke.«
Aynur, die schon einige Schritt vorausgegangen war, blickte verzweifelt zum Himmel.
Seit diesem Tag, an dem er ihnen geholfen hatte, mochte Vanessa Faber Dominik Mittenzwey noch viel mehr, besonders, weil er überhaupt kein Aufsehen von dem Vorfall machte. Böse war sie nur, weil er das Wort Feuermelder wiederholt hatte, obwohl das inzwischen ohnehin gleichgültig war. Denn sie befürchtete, dass Dominik gar nicht ihr, sondern nur Aynur hatte helfen wollen. Auf die Wange geküsst hatte sie ihn und er hatte sie schließlich gewähren lassen.
Mist, schwarze Haare müsste man haben! Nun ja!
Wegen Dominik begann zwischen Aynur und Vanessa nun leider eine Zeit des Misstrauens. Wenn der das bloß geahnt hätte, er wäre Vanessa um den Hals gefallen.
Aynur und Vanessa waren auf dem Nachhauseweg.
»Sag mal ...«, begann Vanessa zögerlich.
»Was?«
»Wieso war Dominik eigentlich vorhin am Ententeich? Dort war er sonst nie.«
»Weil ich ihm erzählt habe, dass wir dort sein würden«, bekannte Aynur.
»Ach so, du wolltest ihm unseren Platz zeigen?«
»Quatsch! Ich dachte, wir sollten mal mit ihm reden. Du.«
»Was ich?«
»Du solltest mal mit ihm reden.«
»Weswegen?«
»Hast du mir nicht tausendmal vorgeschwärmt, dass du ihn magst?«
»Das geht niemanden etwas an. Außerdem habe ich dir das im Vertrauen gesagt!«
»Ja, glaubst du denn etwa, ich hätte das weitererzählt?« Aynur schüttelte den Kopf.
»Das weiß ich nicht, auf jeden Fall war er da, als du ihn brauchtest.«
»Sag mal, spinnst du? Ha-Jott hat uns ja wohl beide gemeint.«
»Schon, aber dich hat Dominik aus der unangenehmeren Situation befreit!« Vanessas Stimme geriet bereits eine Oktave höher.
Aynur lachte nun ganz offen.
»Komm mal wieder auf den Teppich, Vanessa. Ich habe ihn gebeten zu kommen, weil ich weiß, dass du in ihn verknallt bist. Ich will noch keinen Freund - ganz abgesehen davon, dass dann zu Hause die Hölle los wäre. In meinem Kulturkreis sehen diese Dinge ein wenig anders aus. Ich dachte, du hättest das kapiert. Du bist in ihn verschossen und er in dich - ich wollte nur vermitteln. Woher sollte ich denn ahnen, dass dieser doofdeutsche Ha-Jott auftaucht? Oder glaubst du, ich hätte ihn ebenfalls bestellt?«
»Kann durchaus sein. Auf jeden Fall hast du Dominik geküsst!«
»Na, sollte ich ihm etwa die Hand geben? So scheu kannst anscheinend nur du sein - du bist wirklich selten dämlich!«
Dominik seinerseits ärgerte sich maßlos über sich selbst, weil ihm der Begriff ›Feuermelder‹ rausgerutscht war. Er hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt. Denn endlich hatte sich ihm mal die Gelegenheit geboten, nicht nur irgendjemandem echt helfen zu können, sondern besonders Vanessa. Und nun hatte er durch dieses eine blöde Wort wahrscheinlich alles verpatzt!
»Knallkopp!«, schimpfte Dominik leise vor sich hin.
Denn vor allen Dingen war Vanessa nicht so eine dumme Gans wie viele andere Mädchen in der Klasse, die ständig miteinander tuschelten und schnattern oder noch schlimmer, gekünstelt kicherten.
Wie hätte Dominik seine Gefühle für Vanessa zeigen sollen? Er hatte ja nicht einmal genügend Geld zur Verfügung, um sie zu einem Eis einladen zu können, denn sein Taschengeld war reichlich knapp bemessen. Ohne Geld, glaubte er, würde sich sowieso niemals jemand für ihn interessieren. Er nahm sich fest vor, dem Vater das Problem zu schildern. Vielleicht könnte er einen Vorschuss auf das Taschengeld der nächsten Wochen erhalten, um sie mal einzuladen, hatte Dominik erwogen, nachdem er die Karte der Eisdiele geprüft hatte. Wenn er sich dann zurückhielt und behaupten würde, ihm läge nichts am Eis, sollte es reichen, Vanessa etwas - für ihn wirklich Besonderes - bieten zu können.
Vanessas Vater war Juwelier und Goldschmiedemeister. Manchmal brachte er seine Tochter mit einem großen dunklen Auto zur Schule. In diesen Momenten wurde es Dominik ganz besonders bewusst, wie erheblich die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen ihm und Vanessa auseinanderklafften. Ausgerechnet die einzige Chance, ihr zu beweisen, dass ein armer Junge deswegen nicht schlecht sein muss, hatte er vergeigt, ärgerte sich Dominik.
11
An jenem Morgen, an dem unsere Geschichte begonnen hat, war Dominik genauso wie Vanessa von den Sonnenstrahlen geweckt worden. Er war schnell aufgesprungen und hatte Teewasser aufgesetzt. Ein letztes Ei lag noch im Kühlschrank. Prima, dachte Dominik, das koche ich für uns.
Nachdem er den Tee aufgebrüht und die Kanne mit dem Deckel verschlossen hatte, goss er den Rest des kochenden Wassers in zwei kleine feuerfeste Gläser und rührte ein Päckchen Zitronensaftkonzentrat hinein. Mit einer ordentlichen Portion Zucker darin verquirlt, schmeckte dieser herrlich.
Der Duft des Früchtetees hatte Herrn Mittenzwey in die Küche gelockt. Er begrüßte Dominik, griff die Pfanne, die an der Wand hing, und stellte sie auf den Herd.
»Was wird denn das?«, wollte Dominik wissen.
»Regular breakfast«, antwortete der Vater.
Als die Mutter noch lebte, waren sie mehrfach in London gewesen und hatten dort die skurrile Reichhaltigkeit des echt britischen Frühstücks ausgiebig genossen.
»Lass das Ei im Wasser ruhig hart werden. Du kannst es dann nachher mitnehmen.«
Herr Mittenzwey legte derweil Speckstreifen in die Pfanne, schlug Eier, die in einer Tasche im Flur gesteckt hatten, dazu, öffnete eine Dose gebackene Bohnen und fügte den Inhalt hinzu. Würziger Duft verbreitete sich. Als er zusätzlich Würstchen in die Pfanne gab, klatschte Dominik begeistert in die Hände. Vater und Sohn frühstückten ausgiebig. Schließlich lehnte sich Dominik zurück und bekannte, dass er nicht einen einzigen Bissen mehr hinunterbekommen würde.
»Auch kein Brötchen?«
Dominik lächelte zunächst nur. Der Vater präsentierte den gefüllten Brötchenkorb und Dominik strahlte.
»Du hast gebacken? Wann denn? Erst Eier, Bohnen und Speck und außerdem Brötchen. Haben wir im Lotto gewonnen oder so?« Prima Gelegenheit, um über den Vorschuss des Taschengeldes zu reden, überlegte er.
Der Vater schaute Dominik mit gespielt unschuldiger Miene an.
»Wenn ich dich recht verstanden habe, hatten - ich zitiere deinen Bericht vom letzten Wandertag - nicht nur dir alleine meine Brötchen recht gut geschmeckt, oder? Wie hieß doch gleich das Mädchen mit den roten Haaren?«
Dominik hatte versehentlich ab und an von Vanessa erzählt, obwohl es ja eigentlich geheim bleiben sollte, aber andererseits hatte er über seine Gefühle irgendwie sprechen müssen.
»Warum bringst du das Mädchen nicht mal mit her? Ich würde sie gerne kennenlernen«, sagte der Vater.
Dominik ballte automatisch die Hände zu Fäusten.
»Ja, Schei... Vanessa hat nämlich reiche Eltern, weißt du. Die wohnen in einem großen Haus. Ich fühle mich hier wohl mit dir, aber ob sie das verstehen wird, bezweifle ich. Sind schon genug in der Klasse, die glauben, wir hausen wie die Affen im Zoo - entschuldige bitte. Du hast keine Ahnung, wie die über uns reden!«
Herr Mittenzwey senkte kurz den Blick und sah Dominik dann fest in die Augen.
»Ein kleiner Tipp, mein Sohn. Warum magst du diese Vanessa? Weil sie reich ist und in einem großen Haus wohnt?«
»Das ist mir scheißegal!«, bemerkte Dominik barsch.
»Dominik!«
»Sorry, was interessiert mich ihr Haus? Das heißt, es interessiert mich natürlich schon, wie sie lebt, aber mir ist doch das Geld egal, das ihre Eltern haben. Vanessa kann ich einfach nur gut leiden. Und hübsch ist sie, das haut dich glatt um - und sie ist nicht eine von denen, die sich irgendetwas einbilden! Weißt du, was ich am liebsten an ihr mag? Nee, kannste ja nicht wissen. Sie kann sogar denken! So, wie Erich Kästner beschreibt, dass Leute denken können sollten. Und ich traue ihr sogar zu, dass sie auch in echt träumen kann. Apropos träumen. Ich träume davon, Vanessa demnächst mal zum Eis einzuladen - und da wir ja nun ganz offensichtlich im Lotto gewonnen haben, möchte ich um einen Vorschuss auf mein Taschengeld für den nächsten Monat bitten.«
Na, das war raus und der Vater hatte nicht mal gezuckt wie sonst, wenn sie sich über Geld unterhielten.
Dominiks Vater lächelte.
»Wenn dir das so wichtig ist, soll das kein Problem bedeuten. Wenn du sie einladen willst, gebe ich dir selbstverständlich einen Vorschuss, aber ich wiederhole, Dominik, oder besser, ich gebe dir den Tipp: Schäm dich nicht für unsere bescheidene Wohnung und ebenso wenig dafür, dass wir nicht viel Geld haben - gegen Pech gibt es kein Mittel. Seit Mami ...«, sein Blick verlor sich kurz und traf dann erneut die Augen des Sohnes, »seit Mami tot ist, haben uns alle Leute mit Füßen getreten. Wenn wir zusammenhalten, wird es irgendwann einmal besser werden. Hoffe ich zumindest. Die Hoffnung darf man nie aufgeben oder den Mut verlieren. Was wollte ich jetzt sagen? Vergessen. Nein, ja. Dominik, du bist intelligent, gesund und läufst nicht gerade übermäßig dreckig in der Gegend herum. Sei so, wie du bist. Wenn deine Vanessa dich wirklich mag, dann wird es ihr egal sein, wie arm oder reich wir sind. Genauso, wie es dir egal ist, ob sie reich ist. Denk mal darüber nach. Viele Reiche haben sowieso nur viel Geld, weil sie sonst zu kurz gekommen sind.«
»Tja«, seufzte Dominik. Bloß ohne Geld ...
»Dann mache ich dir einen Vorschlag, Dominik. Ruf sie doch einfach an und frage, ob du sie zum Wandertag heute von zu Hause abholen darfst. Wenn sie Nein sagt, vergiss es. Vielleicht freut sich Vanessa sogar über dein Interesse an ihr. Was hast du zu verlieren? Schlimmstenfalls eine Einheit von der Karte für den Anruf aus der Telefonzelle.«
Dominik sah nicht sehr glücklich aus.
»Und wenn sie mich auslacht?«
»Die Telefonzelle?«
»Ach Mann! Vanessa natürlich!«
12
Vanessa huschte schnell ins Bad. Sie beeilte sich wirklich und wollte beim Duschen keine Zeit mehr vertrödeln, um den Vater nicht noch ungeduldiger werden zu lassen. Aber während sie sich abtrocknete, klopfte Herr Faber bereits an die Tür und verlangte erneut eindringlich nach frischen Brötchen.
Vanessa eilte zurück in ihr Zimmer und fuhr geschwind in die enge Hose und den weiten Pulli.
Sie schaute aus dem Fenster und verfolgte mit den Blicken einige der Wolken am Himmel, die ganz langsam an ihrem Fenster vorbeizogen. Irgendwie erinnerten sie Vanessa an die Träume der vergangenen Nacht, und die Gedanken zogen mit den Wolken davon. Sie langte in die Tasche ihrer Jeans, weil irgendetwas darin drückte, und zog ein wenig gedankenverloren eine silberne Geldmünze aus der engen Hose hervor.
Sie drehte die Münze zwischen den Fingern und überlegte, wo sie wohl herkam. Da war doch etwas gewesen, mit einer Silbermünze in meinem Traum, erinnerte sie sich dunkel. Je länger sie das Geld anschaute, desto mehr verschwamm ihr Blick.
Auf der einen Seite war ein Busch zu sehen.
Nein, dachte Vanessa, kein Busch, sondern ... so ein ... Im Wald gab es davon haufenweise. Und wenn diese Pflanzen im Frühling zu wachsen beginnen, sehen die Triebe aus wie Krückstöcke. Farne, genau - Bischofsstab sagt Mama immer dazu, überlegte Vanessa. Weil sie so aussehen wie die Dinger, an denen sich der Papst mit seiner Seniorengruppe festhalten, wenn sie in ihren närrischen Gewändern auftreten. Ein Farn war das. Und Wedel heißen die Triebe, Waldfarnwedel. Und genau so einer war auf der Münze zu erkennen. Vanessa schnippte in Gedanken mit den Fingern. Was war nur mit dieser Münze los? Auf der Vorderseite grüßte der Farnwedel, als zöge er einen Hut.
Vanessa konzentrierte sich, setzte sich an den Schreibtisch und drehte das Geldstück zwischen den Fingern. Ihr Blick blieb gedankenverloren am Lineal hängen.
Teil II
1
Der Feldweg verlief schnurgerade zwischen abgemähten Wiesen. Die Luft duftete nach Heu und Wiesenblumen. Die Sonne schien an diesem Spätsommertag angenehm warm auf Vanessas Haut. Das Mädchen beobachtete die Vögel, die sich vor dem langen Flug in den Süden auf den durchhängenden Überlandleitungen der Strommasten noch ein wenig in der Sonne ausruhten. An welchen fernen Ort der Erde mochten die Vögel wohl fliegen? Wer würde ihnen den gezielten Weg dorthin zeigen? Welches Schicksal würde die possierlichen Tierchen dort erwarten? Flogen sie jedes Jahr in absolut dieselbe Gegend? Lauter Fragen ohne Antworten, dachte Vanessa und wanderte den Feldweg weiter, ohne ihren Blick von den vielen Federknäulchen lösen zu können, die einen solch langen Flug vor sich hatten.
Sie trug die Haare zu einem lustigen Pferdeschwanz gebunden, schaute wieder auf den Weg vor sich und stellte verwundert fest, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie sich befand. Vor ihr tauchte ein Wald auf, der Vanessa ebenso völlig unbekannt war.
Seltsam, dachte sie, wie bin ich bloß auf diesen Feldweg gelangt? Ich kann mich nicht erinnern, schon mal hier gewesen zu sein.
Sie hörte Schritte hinter sich und wandte sich um. Auf dem Weg war ihr Aynur offenbar gefolgt.
»Hallo Aynur. Woher wusstest du, dass ich hier spazieren gehe?«
»Ich will dich warnen, Vanessa. Geh nicht weiter! Das ist ein Traumwald. Wenn du dort hineingehst, könnte es gefährlich für dich werden.«
»Klar, Traumwald. Glaubst du etwa noch an Märchen und Gruselgeschichten? Ich jedenfalls nicht.«
Neugierig spazierte Vanessa noch einige Schritte weiter. Ha, dachte sie, von wegen Traumwald, so ein Quatsch! Das war ja mal wieder typisch für Aynur. So ein Küken. Das hier war ein vollkommen normaler Wald mit hohen Bäumen, deren Kronen die Sonne verdunkelten, sonst war absolut nichts Ungewöhnliches oder gar Bedrohliches daran.
»Von wegen Traumwald, Aynur«, spöttelte Vanessa. Aber als sie sich umblickte, war weit und breit nicht mehr das Geringste von ihrer Freundin zu sehen. »Merkwürdig«, murmelte sie.
Unmengen Farne und Gräser bedeckten den Boden an dieser Stelle. Vanessa griff nach einem Farnwedel, um ihn als Beweis, dass es sich um einen vollkommen normalen Wald handelte, der Freundin mitzunehmen. Damit diese einsähe, dass Geschichten um einen angeblich gruseligen Traumwald purer Blödsinn waren. Einige Schritte weiter stand ein besonders schöner Farn. Vanessa ließ den Wedel los, den sie gerade in der Hand hielt, und griff lieber nach dem anderen. Sie zupfte ihn kraftvoll von der Pflanze ab.
Eine dunkle Flüssigkeit spritzte aus dem Pflanzenstiel und tropfte warm auf Vanessas Hand. Schmerzvolles Stöhnen schien in der Luft zu schwingen.
Das Mädchen ließ den Wedel erschreckt zu Boden fallen und wandte sich schnell ab, um zu verschwinden.
»Ich fange auch schon an zu spinnen! Seit wann kann eine Pflanze stöhnen?«, wunderte sich Vanessa und beschloss dennoch, den Wald lieber gleich wieder zu verlassen. Sie hatte zwar nicht direkt Angst, aber sicher ist sicher, überlegte sie.
Doch weder der Feldweg, auf dem sie hergekommen war, noch die Vögel oder das Sonnenlicht waren zu sehen. Dichtes Gestrüpp hatte sich hinter Vanessa zu einer undurchdringlichen, dornigen Pflanzenmauer verflochten. Die Baumkronen schlossen sich zu einem undurchsichtigen, bedrohlichen Geflecht zusammen und vermittelten ihr den Eindruck, in einer Art Gefängnis zu sein, in das kein Tageslicht mehr Einlass fand. Es herrschte beängstigende Stille und Dämmerlicht. Nicht ein Ton drang mehr an Vanessas Ohren, bis auf das schluchzende Stöhnen.
Das konnte nur der Farn sein, folgerte sie trotz ihrer Angst. Es klang jetzt eher wie ein leises Wimmern.
»Das ist unmöglich!«, sprach sie sich selbst Mut zu.
Beherzt beugte sie sich zu dem Farn hinab. Aus dem abgerissenen Stängel des Wedels tropfte weiterhin die dunkle Flüssigkeit. Vanessa schnupperte daran. Sie roch nach Sommerregen. Vanessa atmete tief ein und tupfte todesmutig mit der Fingerspitze an das abgerissene Ende des Farnwedels. Die Flüssigkeit, die Vanessa zwischen den Fingern rieb, wirkte milchig.
»Fühlt sich an wie Tapetenkleister«, beschwichtigte sie sich selbst. Sie sprach instinktiv beruhigend auf die Pflanze ein, zog ein Tempotaschentuch aus der Hosentasche und zerrupfte es in mehrere schmale Streifen. Vanessa kniete neben dem Farn nieder, fixierte den Wedel an der verletzten Stelle, legte einen etwa gleich langen trockenen Zweig dagegen und verband die Wunde sorgfältig mit den Streifen des Papiertaschentuchs.
Wenn ich das dem Otterbein erzähle, lacht der mich garantiert aus, dachte sie.
Zu ihrem eigenen Erstaunen ließ das Stöhnen sogleich nach, und die Blätter der Pflanze strafften sich ein wenig. Im Augenblick wusste Vanessa nicht, was sie sonst noch tun könnte und stand auf. Sie sah eine Weile zu dem Farn hinab und wollte sich dann wieder zum Feldweg wenden.
Vor ihr stand, wie aus dem Boden geschossen, ein großer und kräftig wirkender Mann, der sie neugierig anschaute. Es war kein einziges Haar auf seinem mächtigen Schädel zu entdecken, der ihm, beinahe so eckig wie ein übergroßer Würfel, ohne Halsansatz auf den muskulösen Schultern saß. Dafür rahmte ein langer zottiger Bart das Gesicht. Jacke und Hose waren abgetragen, die nackten Füße waren schmutzig, die Zehen wirkten mit den überlangen, krallenartig gebogenen Nägeln sehr abstoßend. Er kniff die Augenlider halb zusammen und benetzte die wulstigen Lippen mit der blassen Zunge.
Vanessa wollte sich schnell von ihm abwenden und, egal wohin, davonlaufen. Aber er griff mit seinen rauen schwieligen Händen blitzschnell nach ihrem Arm, zog sie unsanft zu sich und beugte sich ganz nahe zu ihrem Gesicht. Vanessa roch eklig schlechten Atem, der mutmaßlich von den sichtbar ungepflegten und offenbar bereits angefaulten Zähnen in seinem Mund verursacht war.
Der große Mann grinste schief.
»Auf solch ein leckeres Dingelchen habe ich schon lange gewartet. Du kommst mir gerade recht!«
Er warf sich Vanessa wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter, presste mit dem rechten Arm ihre Knie fest vor seine Brust und kümmerte sich nicht weiter um ihr Schreien und die wild hämmernden Fäuste des Mädchens auf seinem Rücken.
»Boom Boom Boom ...«, sang er und Vanessa wusste plötzlich, weshalb sie dieses Lied verabscheute.
Der Mann schleppte seine Beute zu einem feuchten und recht dunklen Erdloch, in dem er hauste. Eine Pechfackel erhellte mit flackerndem Feuerschein nur schwach den gruseligen Raum. Ohne Mitleid warf der Einsiedler das Mädchen in die Ecke neben der Feuerstelle. Vanessa stöhnte vor Schmerzen von dem harten Aufprall und begann zu weinen, weil es zum einen ziemlich wehtat, und zum anderen, weil sie vor dem Alten und der Höhle panische Angst in sich wachsen spürte. Ihre Knie zitterten und Vanessa fror wie im tiefsten Winter. Nicht nur wegen der Kälte war ihr sehr unheimlich zumute.
Der Mann rollte mit bloßen Händen mühsam einen riesigen Felsbrocken vor das Einstiegsloch und versperrte so den einzig möglichen Fluchtweg. Er trat neben die Feuerstelle, nahm ein langes rostiges Messer von einem Haken und schärfte es mit gleichmäßigen Bewegungen an einem grauen Stein. Er grinste Vanessa mit seinem hässlichen breiten Mund an und betrachtete sie dabei abschätzend.
»Deine schönen roten Haare werde ich einem Perückenmacher verkaufen. So ein Pelz ist gesucht, krchhehe. Für deine Klamotten bekomme ich sicher bei einem Lumpensammler auch noch ein paar Münzen. Du wirst mir dafür ein besonderer Genuss sein! In der letzten Woche habe ich nur eine flügellahme Krähe erwischt. Die war ziemlich zäh und hat abscheulich geschmeckt. Und nun fällt mir so ein leckerer Brocken in den Topf! Krchhehe.« Er machte ein gieriges Geräusch mit dem breiten Mund, das sehr unappetitlich wirkte. Dann lachte der Mann keckernd wie eine Ziege.
Vanessa blickte sich ängstlich in dem Erdloch um. Sie hatte irgendwann mal von menschenfressenden Ungeheuern gelesen, aber dass es diese Monster wirklich gibt, hätte sie niemals für möglich gehalten.
»Das ist bestimmt alles nur ein bescheuerter Traum. Und ich möchte jetzt bitte schön ganz schnell wach werden!«, sprach Vanessa ganz leise und schloss die Augen.
Nachdem sie diese vorsichtig wieder geöffnet hatte, befand sie sich leider immer noch in demselben Erdloch. Es roch feucht und muffig. Das Lager des Alten bestand aus Stroh, dem man ansah, dass es schon seit längerer Zeit als Unterlage benutzt wurde. Über der Feuerstelle, in der einige Holzscheite glühten, hing ein ungewöhnlich großer Eisenkessel. Einen Tisch oder Stuhl gab es nicht. Auf der anderen Seite der Feuerstelle entdeckte Vanessa eine ziemlich große Grube im Erdboden. Darin lagen reichlich Knochen verstreut und - wahrhaftig - ein menschlicher Schädel.
»Wenn ich hier jemals rauskomme, werde ich Vegetarier«, schwor sich Vanessa, denn es schien ganz offensichtlich zu sein, was ihr blühte. So ein Mist! Hätte sie bloß vorhin auf Aynur gehört und wäre diesem dreimal verfluchten Wald ferngeblieben! Ach hätte sie doch ... Jetzt, wo die Situation ausweglos schien, wünschte sie sich, sie hätte die gut gemeinte Warnung nicht sorglos und überheblich in den Wind geschlagen. In diesem Augenblick bereute Vanessa ehrlich ihre Leichtfertigkeit.
Andererseits hatte sie sich bis zum heutigen Tag nie in einer solch vertrackten Lage befunden. Natürlich hatte sie manchmal Unsinn angestellt und sich dann und wann leichtfertig über Verbote hinweggesetzt. Aber bisher hatte es höchstens mal Hausarrest dafür gegeben oder eine saftige Standpauke.
»Wenn mir mal jemand gesagt hätte, dass ich gefressen werden soll, wie ein lahme Krähe ... total plemplem. Ach, wie gerne würde ich zwei Wochen lang die Küche schrubben, wenn ich dafür nicht hier wäre ...«, wisperte Vanessa und schloss die Augen.
Wie lautete der Text von dem Lied? Sie dachte angestrengt nach, schon allein um die Umgebung zu verdrängen. Dann begann sie leise zu singen.
»And I’m far, far away
with my head up in the clouds.
And I’m far, far away
with my feet down in the crowds.
And I’m far, far away.
But the sound of home is loud still as loud!«
Sie seufzte. »Ja. Heimweh habe ich, so sehr Heimweh. Könnte ich doch bloß ...«
»Ja, ja, ja ... hätte ... könnte ... würde - immer das gleiche Lied«, vernahm sie eine Stimme, die ganz offenbar nicht dem widerlichen Mann gehörte. Sonst war aber kein Mensch zu sehen.
Vanessa ließ hoffnungslos den Kopf in die Hände sinken und begann wieder zu weinen. Erst ganz leise, dann schluchzte sie lauter, ohne aufzusehen.
Der Mann lachte erneut sein Ziegenkichern.
»Ja, so ist es fein. Ich mag es, wenn Leute weinen, dann macht mir die ganze Sache wesentlich mehr Spaß. So, dann wollen wir mal das Feuer anfachen, nicht wahr, mein Sonntagsbraten?«
»Heute ist nicht Sonntag!«, rief Vanessa verzweifelt.
»Für mich schon, krchhehe.«
Der Alte kümmerte sich nun ausschließlich um das Feuer. Er entfachte die Glut in der Feuerstelle, legte ein paar Strohhalme hinein, pustete aus vollen Lungen und erste Flammen züngelten hoch, die er mit trockenen Zweigen fütterte. Das Mädchen und dessen Sorgen interessierten ihn nicht im geringsten Maß. Entkommen konnte ihm die sichere Beute ohnehin nicht.
Vanessa hielt das Gesicht weiter in den Händen vergraben. Plötzlich spürte sie ein leichtes Stupsen am rechten Arm. Sie erschrak fürchterlich und zuckte zurück, denn sie glaubte, dass der Alte sie gleich packen würde. Sie sah auf und entdeckte zu ihrer Verwunderung einen Farn neben sich, der sie mit einem seiner Wedel anstieß. Und wieder hörte Vanessa die leise Stimme.
»Ja, ja ...«
Der Farn ließ die Wedel schwingen und konnte ganz offenbar mit ihr reden. Er besaß freilich keinen Mund und keine Lippen, die Worte formen konnten, aber trotzdem fand das, was er Vanessa mitzuteilen hatte, den Weg in ihre Gedanken, wie durch eine Rosenhecke in der Nacht geflüsterte Worte.
»Tja, törichtes Menschenkind. Das hast du nun von deiner Neugier. Fang jetzt bloß nicht an zu heulen! Du bist schließlich selbst an allem schuld, ja, ja, ja. Außerdem will ich dir mal ganz deutlich sagen, dass diese Strafe für dich nur mehr als gerecht ist.«
»Wieso denn gerecht? Was soll denn daran gerecht sein, von diesem, diesem ...«
»Wolltest du nicht Saukerl sagen?«
»Ja. Nein!« Vanessa protestierte wütend. »Doch genau, das meine ich! Von diesem Saukerl gefressen zu werden! Was habe ich denn getan?«
»Schrei noch ein bisschen lauter, dann gibt er dir direkt eins mit der Keule! Sei gefälligst still, damit der Alte uns nicht hört. Was du getan hast? Also diese Frage ist wirklich die Höhe! Du hast meinem Bruder einen Arm einfach abgerissen. Wenn der da gleich mit dir anfängt, wirst du schon merken, wie schön das ist.«
Vanessa wischte sich an einem Ärmel die Nase ab.
»Bruder? Welcher Bruder denn?«
»Hast du etwa den Farn vergessen, den du vorhin beinahe umgebracht hättest?«
»Woher zum Kuckuck soll ich denn wissen, dass die Farne bei euch in diesem Scheißwald Schmerzen empfinden?« Vanessa wurde warm. »Bei uns draußen ist es nichts Besonderes, dass man Pflanzen abschneidet, zu einem hübschen Blumenstrauß bindet und zu Hause in eine Vase steckt. Das ist schließlich kein Verbrechen! Ich mag nun mal Blumen!«
»Hat man so etwas jemals gehört?« Der Farn stemmte einen Wedel gegen seinen Stamm, so, wie ein Mensch den Arm anwinkelt und die Hand empört an die Hüfte legt.
»Du magst also Blumen, was? Ja, und wer gibt dir das Recht, eine Blume abzuschneiden? Einfach so, wie es dir gerade Spaß macht? Hast du vielleicht einmal darüber nachgedacht, ob das den Pflanzen Spaß macht?«
Darüber hatte Vanessa bisher tatsächlich nie nachgedacht. Ein Blick zum Feuer überzeugte sie, dass ihr dafür wohl auch nicht mehr allzu viel Zeit bleiben würde, denn das Feuer unter dem Kessel brannte mittlerweile sehr kräftig. Sie schaute erneut zum Farn und zuckte nur hilflos mit den Schultern.
»Das ist bei uns eben so«, sagte sie. »Und wenn ich gewusst hätte, wie es hier ist, wäre ich bestimmt nicht hergekommen, das kannst du mir glauben.«
»Aha. Gut, fangen wir die Sache mal anders an. Weil du Blumen magst, schneidest du kurzerhand mir nichts, dir nichts welche ab und steckst sie in eine Vase, ja?«
»Hm, manchmal, ja. Sieht doch hübsch aus.«
»Ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen. Das sieht hübsch aus.« Der Farn schüttelte die Wedel. »Aber dafür kannst du keine Tiere leiden, nicht wahr?«
»Natürlich!«, brauste Vanessa auf. »Natürlich kann ich Tiere leiden!«
»Sehr schön«, sagte der Farn. »Du magst also auch Tiere. Hunde, Katzen, Meerschweinchen?«
»Wenn du jetzt mit Hunde- und Katzenfutter ankommst, fange ich an zu schreien! Bei dem, was der da gleich mit mir vorhat, will ich von Verfüttern nichts hören. Selbstverständlich mag ich Tiere, wieso?«, wollte Vanessa trotzdem wissen und spürte die Hitze, die vom Feuer unter dem Topf ausging, bereits zu sich herüberstrahlen. Komisch, dachte sie, wie warm es einem werden kann.
»Weil es in dem Fall für dich völlig normal sein müsste, einem Hund oder einer Katze den Kopf abzuschneiden und in eine Vase zu stecken?! Oder in einen Topf.«
»Nein! Kein Topf - auf gar keinen Fall ein Topf! Auf eine solche Idee würde ich nicht einmal im Traum kommen. Das ist totaler Blödsinn! Tiere leben, atmen, essen und trinken wie ich. Bei Blumen ist das etwas völlig anderes! So viel steht fest.«
Der Farn wurde vor Wut über diese Antwort noch viel grüner, als er sowieso schon war. Es ist ziemlich sonderbar, dass nur Menschen rot werden vor Wut. Und dann nur die Menschen mit heller Haut; ist doch drollig, oder? Jedenfalls leuchtete der Farn eine Spur grüner.
»Man höre sich nur solch einen Blödsinn an! Natürlich leben Pflanzen, atmen und ernähren sich, trinken! Und zwar eine ganze Weile länger als ihr einfältigen Menschen. Sei dir sicher, es wird bestimmt weiterhin Pflanzen auf der Welt geben, wenn ihr Menschen euch längst gegenseitig umgebracht habt oder in eurem eigenen Dreck erstickt seid. Denn Pflanzen sind intelligent! Wir können uns schließlich auf fast alle widrigen Umstände einstellen, um zu überleben. Aber wir haben jetzt absolut keine Zeit, um hier deinen Biologieunterricht nachzuholen. Du erinnerst dich an meinen Bruder?«
»Der, dem ich den Wedel ... hm ja, klar.«
»Genau. Dem du einfach so ein Stück von seinem Körper abgerissen hast. Der schickt mich nämlich her zu dir. Er kann nicht selbst kommen, denn er hat zu viel Kraft verloren.«
»Ich habe ihn doch sofort verbunden!«, wandte Vanessa trotzig ein und schielte wieder nach dem Alten, der an seinem Kessel stand, gerade Zwiebeln, Karotten und Petersilie klein schnitt und diese Zutaten in den bereits dampfenden Kessel warf.
»Dass man Mensch mit Karotten und Petersilie kocht, hätte ich nicht gedacht«, sagte Vanessa nachdenklich.
Der Farn betrachtete den in seine Tätigkeit vertieften Mann am Kessel.
»Deshalb schickt mein Bruder, der sentimentale Dummkopf, mich ja auch her zu dir.«
»Wegen der Karotten?«
»Nein! Weil du ihm trotz deiner Gedankenlosigkeit sofort geholfen hast, könnte ja immerhin bedeuten, dass bei dir noch nicht Hopfen und Malz verloren ist. Deine Beteuerungen reichen mir allerdings nicht. Ich könnte dir vielleicht aus dieser Klemme helfen, aber dazu müsstest du uns wirklich erst einmal beweisen, dass du für Pflanzen und Tiere zu sorgen bereit bist - und zwar nicht einfach nur so dahergesagt!«
»Tu ich sofort!« Vanessa sprang aufgeregt auf die Füße und schöpfte neue Hoffnung. Sie war wild entschlossen, diese Chance zu nutzen.
»Ganz langsam, Fräulein Ungeduld. Erst nachdenken, dann vorgehen. Du hast tatsächlich eine winzige Chance, diesem Dilemma zu entkommen. Dabei soll ich dir helfen. Als Gegenleistung musst du uns nachher helfen, und zwar ohne Wenn und Aber!«
»Das verspreche ich.« Vanessas Wangen röteten sich.
»Gut. Dann steh jetzt auf und lass uns erst einmal ganz schnell hinausgehen, bevor du in der Suppe landest.« Der Farn wedelte. »Mensch mit Karotten - glaubt einem kein Baum.«
»Wo soll ich denn rausgehen?« Vanessa wies mit dem Kinn zu dem großen schweren Felsbrocken, der den Ausgang unüberwindlich versperrte.
Der Farn verdrehte die Wedel.
»Mach die Sache bitte jetzt nicht so kompliziert. Durch den Eingang natürlich, durch den du auch hereingekommen bist!«
»Aber dort liegt dieser Mordsstein. Den kriege ich im Leben nicht da weg. Hast du gesehen, was der Kerl geklotzt hat, um den Brummer vor das Loch zu schieben? Außerdem dauert das zu lange und der Alte wird es sofort bemerken. Oder soll ich vielleicht durch ihn hindurchrennen? Durch den Stein, nicht durch den Alten!« Vanessa verzog den Mund.
»Genau.«
»Wie - genau? He, das kann ich nicht!«
»Doch, das kannst du sehr wohl. Pass auf, was ich dir jetzt sage, Mädchen. Insgesamt gebe ich dir drei Tipps, keinen einzigen mehr. Und wenn du dann nicht dein Versprechen eingelöst hast, geht es ruck, zuck wieder hierhin zurück, kapiert?!«
»Klar, nur an dem Ding renne ich mir allenfalls die Birne ein. Das ist vollkommen sinnlos!«
»Selbstverständlich hast du im Prinzip recht. Endlich mal nachgedacht. Trotzdem hast du etwas sehr Wichtiges vergessen! Wenn du aber unbedingt willst, dann gebe ich dir gleich meinen ersten Tipp!«
Vanessa wollte nur von dem Alten weg. Alles andere würde sich schon finden, glaubte sie - zumindest ein bisschen. Sie nickte dem Farn hoffnungsvoll zu und war gespannt, welchen Rat der ihr wohl geben könnte.
»Nun gut. Du dürftest mittlerweile begriffen haben, dass du in unserem Traumwald bist, ja? Fein. Hier gibt es alles, was man sich vorstellt. Natürlich auch die - wie du dich ausdrücken würdest - verrücktesten Sachen. Und ebenso gibt es all das nicht, was man einfach nicht glauben will. Nur mal angenommen, ein riesiger Feuer speiender Drache wäre hinter dir her, so hättest du zwei Möglichkeiten. Man hat immer eine Alternative, zwischen der man entscheiden kann - nicht nur bei uns. Herrje, wo war ich jetzt stehen geblieben? Ach ja, du hast zum einen die Möglichkeit an die Existenz des Drachens zu glauben, gibst auf und schließt die Augen. Dann wirst du aller Wahrscheinlichkeit nach wohl verloren sein. Wenn du hingegen sagst: ›Ich glaube nicht an Drachen - wollen wir doch erst einmal sehen, ob ich wirklich verloren bin‹, dann hast du erneut zwei Optionen. Der Drache könnte stärker sein als du und wird dich auffressen - dann sind wir so weit wie am Anfang. Andererseits: Wo steht denn bitte schön, dass der andere tatsächlich stärker und vor allen Dingen klüger ist als du? Also haben wir wieder zwei Möglichkeiten.«
»Könntest du jetzt mal auf den Punkt kommen, sonst hat der Alte gleich zwei Möglichkeiten: Vanessa mit oder ohne Farngemüse zu verspeisen!«
»Gutes Argument. Im Alltag kannst du dieses Spielchen immer weiter treiben und dir stets vorstellen, was im schlimmsten Fall geschieht. Aber muss denn der schlimmste Fall wahrhaftig eintreten? Oder gibt es bei genauem Nachdenken eine andere Lösung? Verstehst du? Es gibt nicht nur schwarz und weiß. Dazwischen liegen unglaublich viele Nuancen.«
»Das begreife ich schon. Und was hilft mir das in dieser Situation?«
»In diesem Moment hilft dir, dass du dich in einem Traumwald befindest. Hier existiert in diesem Augenblick nur das, woran du wirklich glaubst! Wenn also der Feuer speiende Drache, von dem ich vorhin sprach, vor dir steht, beginnt ein neues Spiel. Angenommen, du gehst von seiner Existenz aus, bist du vielleicht verloren, wenn du nicht schnell genug wegrennen kannst. Wenn du ihn hingegen auslachst und erklärst, dass du nicht an ihn glaubst, verwandelt er sich eventuell in das, was er in der Realität ist. Möglicherweise in einen albernen, größenwahnsinnigen Hamster, wer weiß? Unter Umständen wäre dann sogar mein zweiter Tipp fällig. Klar?«
»Klar. Also gibt es gar keine Feuer speienden Drachen? Ich habe es gewusst!« Vanessa klopfte triumphierend mit der rechten Faust auf ihren Schenkel.
»Nicht schon wieder so voreilig, Mädchen. Natürlich gibt es bei uns Feuer speiende Drachen. Hier gibt es noch viel sonderbarere Dinge.«
Vanessa kniff skeptisch ein Auge zu. »Und wenn es sich nun zufällig um einen echten Feuer speienden Drachen handelt, der mir begegnet?«
»Dann wäre es besser gewesen, du hättest ihm geglaubt und wärst so schnell es geht verschwunden! Du musst eben genau wissen, wann du jemandem vertraust und wann nicht. Das macht die ganze Sache ja erst so richtig interessant.«
Vanessa zögerte ein paar Sekunden, um nachzudenken. Angenommen, nur mal angenommen, sie befand sich tatsächlich in solch einem irrsinnigen Ding wie einem Traumwald - sie kam sich wirklich sehr absurd vor - dann wäre ja so ziemlich alles möglich.
»Das heißt, entweder ich renne mir an dem Stein den Schädel ein, dann ist es gut, denn ich muss mir ja nicht ansehen, was der Schlabbersack dort am Kessel mit mir vorhat. Oder aber das ist hier alles nur ein Traum, dann werde ich aufwachen, denn im Traum verspürt man ja angeblich keinen Schmerz. Werden wir ja gleich herausfinden!«
Sie hatte schließlich nichts mehr zu verlieren. Vanessa kratzte sich am Kopf und schlich auf Zehenspitzen, mit geschlossenen Augen, auf den Stein zu. Sie spürte Kühle, öffnete die Augen, stieg wie durch eine Nebelwand in den Stein hinein und verspürte eine entsprechende Feuchtigkeit. Vanessa schaute kurz zurück. Dort schimmerte der Dunst tiefdunkel wie die Wolken eines vorübergezogenen Gewitters und endete in beinahe lichtlosem schwarzgrauem Nichts. Von dem Alten in der Höhle war nichts zu sehen. Den Blick wieder vorausgewandt schritt Vanessa weiter durch den Stein, dessen Ende ihr weit entfernt zu sein schien.
Komisch, dachte sie, der Brocken, den der Alte vor die Höhle gerollt hatte, war keineswegs so groß gewesen. Jetzt wirkte der Fluchtweg durch ihn hindurch unendlich.
»Was für ein Quatsch«, sagte Vanessa und blieb erneut stehen. »Wenn ich mir vorstelle, dass ich durch einen Stein gehe, glaube ich mir das ja selbst nicht. Wem soll ich von dieser Geschichte erzählen? Also gut, nichtGeschichte, sondern Traum. Den kann ich trotzdem niemandem erzählen. Weshalb träume ich überhaupt ausgerechnet diesmal so ungeheuer realistisch?« Vanessa schüttelte sich.
»Okay, aber schließlich will ich hier durch! Dann kann ich immer noch sehen, was kommt.«
Sie huschte weiter durch den Nebel, der während der nächsten Schritte schon ein bisschen mehr Sonnenlicht durchließ. Nach einigen Metern trat Vanessa aus dem Dunst heraus. Sie befand sich nun vor dem Stein, der die Höhle massiv versperrte, im warmen Sonnenschein.
»Das ist ja nicht zu fassen - und macht sogar Spaß!«, rief sie begeistert.
Aus heiterem Himmel begann Vanessa zu lachen. Zum einen, weil ihr im wahrsten Sinne ein Stein von der Seele gefallen war, zum anderen, weil sie wirklich riesige Angst gehabt hatte. Sie konnte gar nicht mehr aufhören, sich prustend zu schütteln, bis ihr der Bauch wehtat.
»Na also, war das nun so schwer?«, wollte der Farn wissen, der Vanessa bereits draußen erwartet hatte.
»Nein, eigentlich nicht, ganz im Gegenteil. Aber ich weiß immer noch nicht so genau, warum das funktioniert?«
»Was funktioniert?«
»Na, hör mal! Das mit dem Vorstellen. Okay - nichts für ungut -, hier in meinem Traum klappt das, doch ich möchte zu gern wissen, ob es draußen funktioniert, dass ich mir ab und zu vorstellen kann, dass es etwas nicht gibt und schwupps sind meine Sorgen im Papierkorb? - Nehmen wir mal an, bei Menschen, vor denen ich Angst habe?«
»Klar. Ich weiß zwar nicht genau, was du so mit draußen meinst, wir sind ja gerade erst irgendwo heil rausgekommen. Aber das geht überall. Ist überhaupt kein Problem. Warum?«
»Ach, ich habe einen Lehrer, das ist der reinste Widerling. Der schreit uns dauernd an, wir seien ja viel zu blöde und würden es im Leben niemals zu etwas bringen. Jeden Tag haut der mindestens einen von uns so richtig in die Pfanne. Besonders toll findet der es, wenn er einen vor allen anderen so weit hat, dass man heulen muss. Der ist echt zum Kotzen! Und wenn der mal zufällig alleine mit einem von uns Mädchen ist, grapscht und kneift der sogar! Du kannst dir vorstellen, wohin. Seltsamerweise glaubt uns kein Mensch ein einziges Wort. Wir können uns einfach nicht gegen den Kerl wehren.«
Der Farn machte mit einem Wedel eine abfällige Bewegung.
»So ein Unsinn! Selbstverständlich könnt ihr ihm die Sirn bieten! Nicht nur ihr Schüler könnt euch gegen gemeine oder anzügliche Lehrer auflehnen. Jeder kann und sollte gegen Ungerechtigkeiten aufbegehren, denn nur so wird sich etwas ändern. Natürlich funktioniert nichts ohne Autorität und Regeln, die alle einhalten müssen, das ist klar. Aber wenn jemand nur um des eigenen Vorteils willen anderen droht und vielleicht sogar schadet, dann muss man Paroli bieten. Ich meine damit, wenn einer Unrecht begeht und möglicherweise die Macht hat, andere eben wegen dieser Macht zu erpressen, dann muss man sich widersetzen.«
»Meinst du damit Politiker? Darüber hatten wir neulich mal diskutiert.«
»Nein, allgemein. Wenn ein Einzelner bestimmen will, muss das Ergebnis letztendlich allen nützen und nicht nur ihm selbst. Denn sonst handelt es sich nicht um etwas wirklich Wichtiges, sondern um Diktatur.«
»Also doch Politik!«, warf Vanessa ein.
»Nein, nicht nur. Die meisten Diktatoren gibt es in Familien, wo sie prügeln und Schlimmeres tun.«
»Ach so. Aber da kann man sich erst recht nicht wehren.«
»Und ob«, belehrte sie der Farn. »Solange du vor Angst schweigst und kuschst, wird sich logischerweise nichts ändern. Erst sobald du möglichst jedem in der Familie und der Öffentlichkeit davon berichtest, wird sich ganz schnell etwas wandeln. Wenn du grün und blau geprügelt wirst und erzählst, du wärst aus eigener Schuld eine Treppe hinuntergefallen, bleibt alles beim Alten. Nein, darüber laut reden muss man, die Täter mit der Wahrheit konfrontieren und es öffentlich machen, außerdem Beweise bringen, dann hat eine Diktatur kaum eine Chance.«
Vanessa verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
»Und was ist, wenn man richtig Angst vor einem Stärkeren hat?«
»Gegen Menschen, die mehr Muskeln haben, hilft immer Gehirn, nach dem Motto: Hinsehen, Handeln, Hilfe holen! Das ist zunächst eine Lösung gegen Gewalttäter. Und wenn wir jetzt mal den Lehrer nehmen, von dem du sagst, dass der euch abkanzelt. Wenn du meinst, dass nahezu jeder darunter leidet, dann muss sich halt die gesamte Klasse weigern, bei ihm Unterricht zu nehmen. Verlasst die Klasse, bevor seine Stunde beginnt, und setzt euch beim Direktor vor die Tür. Und dann schildert ihm jeder Einzelne, wo das Problem liegt. Sollst mal sehen. Oder stelle ihn dir in schmutzigen Unterhosen vor, hehe.«
Das war das allererste Mal, dass Vanessa einen Farn lachen hörte. Im gleichen Moment brach in dem Erdloch hinter ihnen die Hölle los. Der kräftige alte Mann schob, brüllend vor Zorn, den Stein vor dem Einstiegsloch beiseite und kroch aus seiner Höhle. Mit großen Schritten näherte er sich, und mit seinen fürchterlichen Händen griff er nach Vanessa, um sie zu packen. Sicherlich hätte er das Mädchen wie ein Hühnerei zerquetschen können. Vanessa wich erschrocken einen Schritt zurück, blieb dann jedoch ganz bewusst stehen.
»Momentchen mal! Ich bin immerhin gerade mühelos durch einen riesigen Stein geflutscht. Und nun soll ich Angst haben vor solch einem zahnlosen alten Zausel?«, trumpfte Vanessa auf. Außerdem hatte sie in ihrer Nähe am Boden einen dicken Knüppel entdeckt. Den nahm sie in beide Hände und ging auf den Alten zu.
Der ließ augenblicklich die kräftigen Arme sinken. Verwundert betrachtete er Vanessa. Anscheinend hatte niemals jemand gewagt, ihm Widerstand zu leisten.
»Wollen wir abhauen?«, wollte der Farn interessiert von Vanessa wissen.
»Kann ich jetzt nicht mehr. Und daran bist du schuld.« Vanessa lachte prustend los.
»Wieso ich?«
»Wegen der Geschichte mit der Unterhose gerade«, antwortete Vanessa, auch für den Alten vernehmlich. »Weil ich mir den Schmutzfuß da in seiner zerrissenen Unterhose vorstelle, die ihm um die Knie schlabbert und seinen hässlichen fetten Bauch freigibt. Ich glaube, ich lach mich tot. Nee, besser nicht.«
Sie drohte mit dem Stock und zischte den Alten an: »Komm einen Schritt näher, damit wir feststellen können, wie viel Mut du tatsächlich hast.«
Vanessa trat zwei Schritte auf den Alten zu und lächelte. Was Dominik mit der Stirn gegen die Nase von Ha-Jott bewirkt hatte, dürfte ihr mit einem soliden Holzknüppel bei dem Alten ebenso gut gelingen, dachte sie.
»Vielleicht ist es besser, wenn du dich verdrückst, mein Alter. Ich habe nicht die geringste Angst vor dir und ich weiß ganz genau, wo es dir so richtig nett wehtun wird.«
»Du weißt hoffentlich, dass er recht viel Kraft hat«, warnte der Farn beiläufig.
»Klar, weiß ich das. Aber so billig wird der mich nicht ein zweites Mal erwischen.« Vanessa lachte dem Farn zu und als sie nach einem Augenblick wieder den Alten anschaute, war aus dem riesigen, furchterregenden Mann ein sehr alter und faltiger Zittergreis geworden, der mit piepsigem Stimmchen über die unverschämte Jugend schimpfte - ganz wie im wahren Leben!
Vanessa wischte sich die Lachtränen aus den Augen und überlegte, ob sie nicht nunmehr den verängstigten Greis beim Schlafittchen nehmen und ihn mal so richtig durchschütteln sollte. Er schien ihr diesen Aufwand nicht wert zu sein. Nur einen Rat gab sie ihm mit auf den Weg. »Wasch dich gefälligst mal, wenn du auf einen Regenschauer triffst!«
Der Farn wedelte vergnügt im leichten Wind.
»Gut«, sagte er. »Diesmal hast du instinktiv ganz offensichtlich richtig gehandelt. In Zukunft solltest du trotzdem nicht automatisch den Fehler machen, jemanden leichtfertig zu unterschätzen.«
»Das weiß ich selbst. Andererseits hättest du mir nicht diese ultralange Rede über ›Mut haben und sich wehren‹ gehalten, wenn du nicht gewollt hättest, dass ich hier und jetzt genau so reagiere. Außerdem war selbst der Stein eine Lüge ...«
»Ja, ja«, schmollte der Farn. »Ist ja schon gut. In diesem Fall wenigstens. Aber verlass dich nicht zu sehr auf gut Glück, dass dein Gegner so einfach nachgibt. Manchmal muss man nämlich auch so schnell es geht zunächst mal aus der direkten Gefahrenzone verschwinden und Hilfe holen. Gemeinsam kann man dann den Übeltäter zur Rede stellen. Überlege jedes Mal genau, bevor du dich für irgendetwas entscheidest! So, nun wollen wir endlich zu unserem Geschäft kommen.«
Der Farn wedelte in Richtung eines in der Nähe liegenden sehr dunkel wirkenden Waldstückes.
»Wenn du diesen Waldweg weitergehst und immer tiefer ins Dickicht gelangst, dann wirst du irgendwann unseren Schatzwächter treffen. Er bewacht alle Schätze unserer Welt. Deine Aufgabe wird es sein, das Wertvollste davon auszusuchen und hierher zu bringen. Denn nur dann kann mein Bruder von der Verletzung geheilt werden, die du ihm zugefügt hast.«
Vanessa überlegte nicht lange, denn sie wollte unbedingt Wort halten und ihren Fehler korrigieren. Sie blickte den Waldweg lang. »Wirst du mit mir kommen?«, fragte sie zögernd.
»Nein. Ich darf die Schwelle zur verbotenen Zone nicht übertreten. Überhaupt herrschen hier recht strenge Vorschriften. Darauf wirst du sicherlich ganz von selbst kommen, Frau Lot.«
»Frau was?«
»Frau Lot kennst du bestimmt aus dem Religionsunterricht. Du hast noch nie davon gehört? Sonderbar. Nun gut, der Schatzwächter wird dir bestimmt zeigen, was ich meine, hehe. Und auf irgendeine Weise, die du selbst herausfinden musst, werde ich für dich erreichbar sein. Du hast ja immerhin zwei weitere Tipps frei. Und nun mach dich auf den Weg, mein Bruder leidet. Nur du kannst ihm helfen. Sag mal, würdest du mir einen persönlichen Gefallen tun?«, fragte der Farn.
»Ja, wenn ich kann. Was soll es denn sein?«
»Würdest du das Lied von vorhin singen? Das war hübsch.«
»Lied? Welches ... ach so, ja klar. Ich kenne aber den Text nicht so richtig.«
»Soll ich dir helfen?«, fragte Aynur, die plötzlich und auf unerklärliche Weise wieder neben Vanessa stand.
»Ja, bitte«, antwortete Vanessa etwas verwirrt. Die Mädchen sangen gemeinsam.
»I’ve seen the yellow lights go down the Mississippi.
I’ve seen the bridges of the world and they’re for real ...«
»And I’m far, far away«, stimmte der Farn den Refrain an und - schwupps - war er verschwunden.
2
»Ich hätte nicht einmal im Traum daran gedacht, dass ein Farn Englisch versteht - du?«, wollte Vanessa von Aynur wissen. Sie drehte sich zu ihr um, doch Aynur war nirgends mehr zu sehen. Vanessa betrachtete den düsteren Waldrand.
»Ob wohl der Schwarzwald auch so finster ist?«, murmelte sie und tat sehr vorsichtig die ersten Schritte in das zunehmend dunkler werdende Gebiet. Sie nahm sich vor, trotz der wachsenden Angst, das gegebene Versprechen unter allen Umständen zu halten!
Kein einziger Laut war zu vernehmen. Sie hatte den Eindruck, dass nicht mal mehr das Singen der Vögel zu hören war. Hier versagte sogar jeder Versuch, selbst einen Ton herauszubekommen. Beinahe kam es Vanessa vor, als streckten die Büsche und dicht stehenden Bäume ihre Äste und Zweige nach ihr aus. Der sowieso schon schmale Durchgang ließ Vanessa immer weniger Platz.
Gelegentlich spürte sie mit einer Gänsehaut die neugierig wirkenden Berührungen mancher Pflanzen. Sie unterdrückte tapfer ihren Drang zu schreien und stapfte fast mutlos weiter. Die niedrigen Sträucher bedeckten den Boden des Waldes, wurden dichter und zerrten an Vanessas Beinen, umschlossen die Schuhe. Um Haaresbreite wäre sie gestolpert und lang hingeschlagen. Ein Dornbusch verursachte einen langen Riss in Vanessas Hose.
Die steigende Furcht schlug abrupt in Wut um. Mutter würde wegen der beschädigten Hose ganz schön schimpfen. Vanessa betrachtete den Schaden und begann laut zu fluchen.
»Ihr dämlichen Dornbüsche könnt mich alle mal kreuzweise. Was bildet ihr euch denn überhaupt ein, wer ihr seid? Wenn ich wollte, könnte ich euch völlig platt trampeln. Nicht einmal das seid ihr mir wert. Wisst ihr was?« Sie dachte an die Sache mit dem Stein und dem Alten. Möglicherweise handelte es sich ja wieder um eine Täuschung, und hin war die Hose sowieso. »Euch gibt es nicht. Ich glaub euch einfach nicht und meine Hose ist auch nicht kaputt, basta!«
Als hätte jemand eine helle Lampe eingeschaltet, verschwand das Dunkel des Waldes. Vanessa stand unvermittelt an einem plätschernden Bach, der in einen blaugrün schimmernden See mündete. An dessen Rändern standen hohe, blühende Pflanzen und Schilf wuchs an sumpfigen Stellen. Libellen tanzten über dem Wasser, emsige Meisen jagten nach Mücken. Ein Bienenschwarm umkreiste unermüdlich die farbenprächtigen Orchideen und die Sumpfpflanzen, die rechts das ganze Seeufer säumten. Links neben dem See entdeckte Vanessa eine Holzhütte, die aus unbearbeiteten Baumstämmen gebaut war. Eine Tür war darin zwar zu erkennen, aber nicht ein einziges Fenster. Aus dem Schornstein stieg feiner grauer Rauch zum Himmel auf. Gerade voraus standen sechs oder sieben Rehe am Ufer und tranken das klare Wasser. Die Tiere schauten nur kurz zu Vanessa herüber, interessierten sich dann nicht weiter für sie.
Eine Möwe schwebte elegant über dem Wasser und stieß ein »Kriäh häh häh« aus, als würde sie lauthals über Vanessa lachen. Dem Anschein nach war der ziemlich große Vogel auf der Suche nach Beute. Plötzlich hatte er wohl einen Fisch entdeckt, den er sich schmecken lassen wollte. Blitzschnell stieß er in die Tiefe und schoss mit mächtigem Spritzen ins Wasser. Allerdings hatte er offensichtlich den Wasserstand falsch eingeschätzt. Das Wasser war an der Stelle höchstens 20 Zentimeter tief, und er donnerte, statt einen Fisch zu fangen, mit dem Schnabel auf den steinigen Grund. Für einen Moment stand der Vogel irritiert im Wasser, bedeckte mit den Flügeln den malträtierten Schnabel und schimpfte lautstark, um sich anschließend mit kraftvollen Flügelschlägen aus dem Wasser in die Luft zu erheben.
»Kriäh häh häh!«, schnarrte die Möwe und gab ein verärgertes »Merde« von sich. Anscheinend handelte es sich um einen französischen Vogel.
Vanessa amüsierte sich über diese Szene.
»Ist ja wirklich zu drollig«, belustigte sie sich. »Scheint sich um einen multikulturellen Wald zu handeln. Ein Farn, der Englisch versteht, ein Vogel, der Französisch sprechen kann und nicht zuletzt meine türkische Freundin, die kommt und geht, wie es ihr beliebt. Bloß ich kann aus diesem Traum nicht weg.«
Sie setzte sich ans Ufer des Sees und fuhr mit einer Hand durch das kühle Wasser. Eine kleine Pause wird ja wohl erlaubt sein, überlegte sie, oder? Auf einer großen Seerose neben ihr leuchtete die weit geöffnete weiße Blüte. Das Innere der Blüte schimmerte fliederfarben. Eine dunkelgrüne Kröte mit vielen Warzen am schrumpeligen Kopf saß auf einem der Blätter und beobachtete Vanessa interessiert.
Das Mädchen schaute einige Zeit zurück, bis ihr die Kröte auf die Nerven ging.
»Glotz nicht, sonst kotz ich!«, zischte Vanessa dem Tier zu und streckte ihm die Zunge heraus.
Schwupps sprang die Kröte mit einem langen Satz auf Vanessas Bein und gab glucksend rollende Töne von sich.
»Weshalb bist du so unfreundlich zu mir?«
Vanessa hatte nicht erwartet, von dem feucht schimmernden Tier angesprochen zu werden und war verdutzt. Bisher hatte noch niemals eine Kröte oder Ähnliches - zum Glück, wie Vanessa meinte - zu ihr Kontakt gesucht, geschweige denn mit ihr gesprochen.
Vanessa war beeindruckt. »Du kannst sprechen? Das ist aber sonderbar. Nee, stimmt nicht, ich wundere mich eigentlich über gar nichts mehr.«
Sie betrachtete die Kröte genauer. Aus der Nähe sah die gar nicht mehr so eklig aus. Eher ein bisschen komisch. Die dunkelgrüne Haut änderte im Sonnenlicht ein wenig die Farbe und gelbe Tupfer mischten sich ins Dunkelgrün.
Die Kröte hob den Kopf. »Was sollte denn daran sonderbar sein? Du kannst ja schließlich auch sprechen«, antwortete sie, schloss ein Auge halb und verzog das breite Maul zu einem Grinsen.
Vanessa zuckte mit den Schultern.
»Klar, alle Menschen können sprechen!«
»Erstens stimmt das nicht und zweitens spielt das in unserem Fall gar keine Rolle. Drittens ist das alles deine Schuld.«
»Wie bitte? Was ist denn jetzt schon wieder meine Schuld?« Vanessas Stimme wurde etwas lauter. Ging das ganze Theater etwa aufs Neue los?! Soweit sie wusste, hatte sie überhaupt keine Schuld. Außer in den vermaledeiten Wald gegangen zu sein. Allenfalls vielleicht noch, dass sie einem Farn einen Wedel abgebrochen hatte ... Mist! Ach was, dreimal Mist!
»Für alles, was dir hier geschieht, trägst du selbst die Verantwortung.« Die Kröte legte eine lange Pause ein. »Es ist letztendlich deine Geschichte. Du warst in einer unangenehmen Situation, von Sorgen geplagt und hast dich in eine, wie du gehofft hattest, angenehmere Umgebung geträumt. Daran ist im Grunde gar nichts falsch. Aber anstatt du dich darüber freust, dass du dich nun in einer überschaubareren Situation befindest, gibst du dich nicht damit zufrieden, sondern lachst den Erstbesten aus, der seinerseits in Schwierigkeiten steckt. Und wir glaubten, du magst es selbst nicht, ausgelacht zu werden. Das mag nämlich niemand. Zumal das Pech der Lachmöwe allein durch deinen Traum begründet ist.«
»Ach so, das war eine Lachmöwe. Ich hatte mich schon gewundert, dass ein Vogel lachen kann.«
»Klingt ulkig, nicht wahr? Davon mal abgesehen, glaubst du echt, dass sich eine geübte Möwe im Normalfall auf solch eine ungeschickte Art und Weise den Schnabel verbiegen würde? Das ist kaum anzunehmen. Du hast das aus freien Stücken geträumt. Und es geschieht leider genau das, was du träumst. Träum gefälligst deinen eigenen Traum! Aber nicht auf Kosten anderer! Das ist doch nun wirklich so klar wie Kloßbrühe!«
Vanessa stützte das Kinn in die Hand und schaute die Kröte lange und sehr intensiv an.
»Wenn ich dich also richtig verstehe, ist das hier gar nicht die Wahrheit, sondern nur ein Hirngespinst?«, konstatierte sie nachdenklich.
»Nein!! Du träumst deinen eigenen Traum. Ob dieser nun schön ist oder sich zum belastenden Albtraum entwickelt, liegt allein an dir. Wenn du dich in Schwierigkeiten befindest, wünschst du dir tief in deinem Inneren etwas sehr Positives. Du hingegen beschwörst durch deine Gedankenlosigkeit stets weitere Komplikationen herauf. Du weißt ganz genau, was dir Sorgen bereitet, magst dich aber trotzdem nicht auf deine Probleme einlassen und sie offen aussprechen. Lässt den ganzen Müll lieber in deinen Gedanken gären. Traust dich nicht einmal im Traum Auswege zu finden, sondern verschiebst es lieber auf später - man wird ja sehen.«
»Moment mal. Ich bin durch einen riesigen Stein gelaufen und habe einen gewalttätigen Alten zur Schnecke gemacht. Ist das etwa nichts?«, begehrte Vanessa auf.
»Doch, das ist immerhin ein Anfang. Du hast dich durch Hindernisse, die dir im Wege standen, nicht unterkriegen lassen, sondern du hast dich mit ihnen auseinandergesetzt und sie überwunden. Daraufhin fühlst du dich für einen Moment wohl. Und prompt machst du dich über den Ersten, der dir über den Weg läuft, lustig, nur weil der gerade mal ein wenig Pech hat«, beanstandete die Kröte mit mahnendem Unterton.
»Du meinst ...«
»Genau. Ich meine die Möwe, die sich für dich so tollpatschig angestellt hat! Was soll das? Du hast dich gegen einen skrupellosen Widersacher erfolgreich zur Wehr gesetzt. Wäre es da nicht klüger, einen anderen, der ganz mies in der Bredouille steckt, bei der Hand zu nehmen und ihm zur Seite zu stehen? Du hättest ihm deine Hilfe anbieten sollen. ›Siehst du‹, hättest du sagen können, ›wir sind schon zu zweit und können uns gegenseitig helfen.‹ Das wäre doch mal ein Traum! - Es gibt sehr viele Menschen, die von irgendeiner schönen Sache träumen und dann hier bei uns landen. Natürlich empfindet jeder seinen Traum auf eine ganz eigene Art und Weise. Zumindest eine Weile sind die Leute dann bei uns, um eben einfach nur zu träumen.«
Die Kröte schaute sich suchend um.
»Nehmen wir zum Beispiel einfach mal diesen recht hohen Baum dort drüben. Siehst du ihn?«
Vanessa schaute den Baum an, der ihr vorher nicht sonderlich aufgefallen war. Er reichte schier bis über die wenigen Wolken am Himmel, so schien es. So einen Baumriesen hatte sie vorher noch nie gesehen. Der musste ja uralt sein, vermutete sie. Sie sah die Kröte an.
»Ja, sehe ich. Und was ist mit dem?«
Die Kröte war mittlerweile frech auf Vanessas Schulter gesprungen und quakte direkt in ihr Ohr.
»Der ist auch ein wichtiger Teil aus einem Traum. Vor vielen Jahren hat sich ein junges Mädchen auf diesen Baum geträumt, um von seiner Spitze aus weit in die Welt hinaus sehen zu können. Sie nannte ihn ihren Traumbaum. Weißt du, mit dem Kopf voller Träume in den Wolken zu schweben, träumte sie und wollte trotzdem mit beiden Beinen fest am Boden bleiben. Sie wurde älter und träumte sich den Baum höher und höher, weil sie immer mehr Sehnsucht hatte nach fremden Städten in fernen Ländern. Sollen wir mal hochsausen?«
»Ja, geht das denn so einfach? Also da hinauf kann ich wirklich nicht klettern. Wenn wir fliegen könnten ...«
»Ist doch dein Traum! Na, nun mach schon! Träum uns hoch!« Die Stimme der Kröte klang sehr aufgeregt und fordernd.
Vanessa schätzte die Strecke bis zum Wipfel des Baumes und bezweifelte die Wahrscheinlichkeit, dort hinaufzugelangen. Andererseits machte sie die Vorstellung, was sie wohl von dort oben zu sehen bekommen würde, recht neugierig. Vanessas Blick wanderte den mächtigen Stamm entlang, dann sah sie zur Spitze des Baumes hinauf. Ist ein ziemliches Stück bis da oben hin, dachte sie. Allerdings machte der Baumwipfel eigentlich einen verhältnismäßig vertrauenswürdigen und sicheren Eindruck.
Vanessas Blick blieb am Wipfel haften, und noch während sie sich überlegte, was nun zu tun sei, um auf den Baum hinaufzugelangen, stellte sie verwundert fest, dass sie bereits wie auf einer um den Baumstamm gewendelten Treppe hinauffuhr, als säße sie in einem gläsernen Fahrstuhl, der ganz sachte und beständig um den Baum herum immer höher kreiste, als würde er im unsichtbaren Gewinde einer großen Schraube hinaufgeführt.
Im Handumdrehen kam der weit ausladende Baumwipfel näher. Mit der Kröte auf der Schulter erreichte Vanessa nach einem letzten Schwenk schließlich die Baumkrone, die die kuschelige Sicherheit eines gemütlichen Ohrensessels vermittelte.
Vanessa schaute sich um. Ganz weit entfernt erkannte sie Berge, die sehr deutlich zu sehen waren, genauso wie ein azurblaues Meer, das sich in der glänzenden Weite des Horizonts verlor. Die Mitte dieses Bildes beherrschte ein recht groß wirkender Leuchtturm.
All diese Dinge schienen plötzlich gar nicht mehr so unerreichbar weit weg zu sein. Vanessa hatte vielmehr den Eindruck, sie würde durch ein Fernrohr sehen und alles käme langsam näher. Der Turm da hinten - nein, jetzt war er schon hier vorne - kam ihr sehr bekannt vor. Es war auch gar kein Leuchtturm, sondern erinnerte auf diese Entfernung eher an einen spitz zulaufenden Kran. Natürlich, den hatte sie doch einmal auf einem Foto gesehen.
»Ist das da vorne nun der Berliner Funkturm oder der Eiffelturm in Paris?«, fragte Vanessa die Kröte. Denn auch bei noch so genauem Hinsehen und dem Zusammenkneifen der Augen konnte sie sich nicht für einen der beiden entscheiden. Die Kröte begnügte sich mit einer undefinierbaren Antwort.
»Quaak-kroak.«
Am leicht gewölbten Horizont zeigten sich laufend irgendwelche winzigen Unregelmäßigkeiten, die immer deutlicher wurden. Scheinbar bewegten sie sich auf Laufbändern auf Vanessa zu, kamen näher und nahmen als Sehenswürdigkeiten aus fernsten Ländern Gestalt an.
Vanessa erkannte die Freiheitsstatue von New York fast zum Greifen nah. Ihr folgte die steinerne Statue auf dem Zuckerhut vor Rio de Janeiro in Brasilien, sogar die Gondelseilbahn war ganz genau zu erkennen, die zu dessen Spitze hinaufführte. Eine Gruppe Wale erschien an der Wasseroberfläche, hohe Wasserfontänen aus den Atemöffnungen in die Luft prustend. Dann erkannte Vanessa schier unendliche Eisflächen, ohne auch nur die geringste Abkühlung zu verspüren. Und wieder war sie von Meer umgeben - so unglaublich viel Meer, das urplötzlich den Blick auf grün schimmerndes Flachland freigab, auf dem Elefanten gemächlich auf einen breiten Fluss zu wanderten, gefolgt von einer Wüste aus feinstem Sand, in dem anscheinend keinerlei Leben vorhanden war. Gleich darauf schienen Pyramiden aus der Ebene zu wachsen. Es folgte erneut ein Meer, abgelöst von zerklüfteten Küstenfelsen, auf deren Hochplateaus Tempelreste standen, deren Bilder Vanessa von griechischen Sagen her kannte.
»Also dieser Baum muss ja ziemlich hoch sein«, meinte Vanessa zu der Kröte, die ihr nicht antwortete, denn sie suchte bereits seit einiger Zeit nach einer Kleinigkeit zum Futtern. Eine Fliege käme ihr als kleiner Imbiss gerade recht, aber auf solch hohen Bäumen gab es offensichtlich keine Fliegen, und die Kröte war deswegen etwas unzufrieden. »Kroack!«, gab sie lediglich von sich.
Vanessas Blick glitt in die Ferne. Der Schiefe Turm von Pisa brachte Vanessa zum Lachen, denn wenn sie ihren Kopf genauso schief hielt, dann schien der Turm gerade zu sein, dafür sahen alle anderen Gebilde zum Kichern schief aus.
Vanessa entdeckte viele Dinge, die sie selbst schon, wenn auch teilweise auf Bildern, gesehen hatte. Von hier oben schien alles genauso auszusehen wie auf den Fotos, nur wirklicher. Beinahe zum Anfassen. Vanessa hätte sicherlich noch Stunden an dieser Stelle sitzen können, um sich die Welt anzuschauen. Und ohne zu wissen wieso, begann sie leise das Lied zu singen, dass sie weit weg sei, den Kopf weit oben in den Wolken und mit den Füßen dennoch fest auf dem Boden - »... and I’m far, far away ...«
Die Kröte auf der Schulter wurde merklich unruhig.
»Genau das!«
»Was?«, fragte Vanessa.
»Das hat das Mädchen immer gesungen, wenn sie hier oben träumte.«
»Komisch, das ist eigentlich ein ganz alter Titel«, meinte Vanessa nachdenklich. »Ich weiß nicht einmal, wann und wo ich ihn gehört habe, so alt ist er.«
»Ist ja alles recht lange her. Und das Mädchen von damals ...«, murmelte die Kröte. »Wir sollten nun langsam absteigen, finde ich.«
»Du hast recht, hätte ich beinahe vergessen.«
Vanessa erinnerte sich unvermittelt an das Versprechen, das sie gegeben hatte, nämlich den wertvollsten Schatz des Schatzwächters zu holen, um dem Farn zu helfen.
Sie löste den Blick endgültig von den Bildern ihrer Reise und fuhr mit der Kröte auf der Schulter zum Fuß des Baumes hinab.
»Das war ja sagenhaft«, schwärmte Vanessa. »Also wenn ich darf, würde ich den Baum sehr gerne noch einmal besuchen und um die Welt reisen. Sag mal, kommt das andere Mädchen oft hierher und steigt auf ihren Baum?«
Die Kröte kratzte sich umständlich die dicke Warze unter dem Kinn und schüttelte dann traurig den Kopf.
»Nun ja, mittlerweile ist es kein junges Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau. Mit vielen Pflichten und Sorgen, weißt du. Sie trägt eine große Verantwortung für ihre eigene Familie und besonders für ihr Kind. Ihren Traum hat sie trotzdem nicht völlig vergessen. Leider war sie seit langer Zeit nicht mehr hier, und ich bin recht traurig darüber. Noch besteht ein wenig Hoffnung, dass sie sich eines Tages wieder an den wertvollsten Besitz in ihrem Leben erinnert. Ja, ich glaube trotz allem fest daran, dass sie irgendwann einmal hierher kommen wird. Nicht jeder verliert über seine Sorgen die Kunst zum Träumen.«
»Sei mir nicht böse, ich muss weiter. Ich habe nämlich ein Versprechen einzulösen.«
»Ein Versprechen?« Das interessierte die Kröte brennend. Alles, was mit Versprechen und dem Halten von Versprechen zu tun hatte, fand die Kröte besonders aufregend. Schließlich erzählt man sich, dass ein Verwandter von ihr vor vielen Jahren einmal einer Prinzessin einen goldenen Ball aus einem Brunnen geholt haben soll und eine Weile über das Verhalten jener Prinzessin sehr ungehalten gewesen sei ... aber das ist eine andere Geschichte.
»Hoppla«, hakte die Kröte erneut gespannt nach. »Was denn für ein Versprechen?«
»Ich muss unbedingt zum Schatzwächter und von ihm das Wertvollste holen, was er besitzt. Ich habe allerdings nicht die geringste Ahnung, was das sein könnte. Weißt du vielleicht, was bei dem so wertvoll ist?«
Die Kröte sprang entsetzt glatt einen Meter zurück. »Um Himmels willen, von Goldberg, dem Schatzwächter sollst du etwas holen? Vergiss es, Mädchen. Der Typ rückt nichts freiwillig raus! Egal, ob es wertvoll ist oder nicht. Vor allem musst du äußerst klug und sehr vorsichtig sein - ist ja eigentlich ein und dasselbe. Denn wenn der jemanden bei einer Lüge erwischt, oder noch schlimmer, wenn man ihn übers Ohr hauen will, dann kennt der keine Gnade.«
»Mach dir mal keine Sorgen, Kröte. Ich kenne da einen Trick. Wenn der Typ mir dumm kommt, stelle ich ihn mir einfach vor, wie er wohl aussieht, wenn er nur in ...!« Seitdem sie diese Taktik nun schon einmal genutzt hatte, machte sie sich darum die allerwenigsten Sorgen.
Die Kröte wiegte zweifelnd den Kopf.
»Ich weiß, was du meinst, aber das ist nicht immer das beste Mittel. Das klappt nur, wenn dir jemand lediglich weismachen will, dass er wichtig sei, obgleich er es ganz offensichtlich nicht ist. Ganz so einfach ist das nicht. Jedem solltest du, selbst wenn du zunächst deine Zweifel hast, dennoch den nötigen Respekt entgegenbringen, solange er diesen verdient!«
»Und woher soll ich wissen, wen ich achten sollte? Wer denn nun von mir Respekt erwarten kann?« So langsam fand Vanessa, dass die Sache ziemlich verwirrend war. Es gab da anscheinend kein Patentrezept.
»Siehst du, genau das ist die Schwierigkeit an dem Geschehen. Viele Störche ... nein, das ist nur mein Problem, dich wird wohl kaum ein Storch fressen wollen. Bei euch sind das Typen, die Machtpositionen ausnützen, sich überall mächtig wichtig tun und letzten Endes nur Lügner und Betrüger sind. Denn die wollen nichts anderes, als sich so schnell wie möglich Reichtum und damit noch mehr Macht erschleichen. Wenn so einer dich anbrüllt, stell ihn dir ruhig so vor. Aber zum Beispiel jemand, der dir sagt, du sollst so schnell wie möglich die Feuerwehr oder einen Notarzt rufen, weil er nicht von einem Verletzten weg kann und dir vielleicht sogar einen Schal abnimmt, um einem, der am Boden liegt, den verletzten Arm abzubinden, weil er sonst verbluten würde, der verdient Respekt.«
»Du meinst also so ähnlich, wie ich dem Farn geholfen habe?«, fragte Vanessa.
»Nein, nicht ganz. Denn du bist ja selbst für die Verletzung verantwortlich gewesen. Durch deine Hilfe hast du den Schaden bloß ein ganz klein wenig wiedergutgemacht. Pass auf, anders ... Der Müller, der das Korn zu Mehl verarbeitet und der Bäcker, der daraus Brot backt, die sind wichtig. Der Waffenhändler dagegen nicht im Geringsten. Der Bauer, den alle Leute für armselig halten, weil er nur Kartoffeln anbaut, ist wichtig - den Millionärssohn, der eine Fabrik für Kartoffelchips geerbt hat und im Luxusauto seinen leeren Kopf spazieren fährt, den kannst du durchaus ganz laut auslachen. Begreifst du den Unterschied?«
»Glaub schon, bin mir allerdings nicht so ganz sicher«, antwortete Vanessa. »Aber was ist denn nun mit dem Schatzwächter? Wie soll ich den denn am besten behandeln?«
»Das musst du schon selbst entscheiden, wenn du vor ihm stehst. Da kann ich dir keinen guten Rat geben, außerdem muss ich jetzt gehen. Dort vorne in der Holzhütte, da lebt der Schatzwächter.«
Wutsch, war die Kröte verschwunden.
Vanessa dachte an den Farn, der ihr aus dem Erdloch des Einsiedlers herausgeholfen hatte. Er würde ihr bestimmt einen weiteren Ratschlag geben können. Sogleich schüttelte sie den Kopf. Das hätte ihr zwar momentan weitergeholfen, doch dann wäre ihr ja nur noch ein einziger Tipp übrig geblieben. Es erschien ihr viel zu gefährlich, unüberlegt eine mögliche spätere Hilfestellung ohne Not zu vergeuden. Bestimmt würde sie Hilfe irgendwann einmal viel dringender benötigen als in diesem Augenblick. Zunächst musste sie feststellen, ob und wie sie in die Hütte hineinkäme. Und außerdem, dachte sie, hatte sie zwei Abenteuer ohne Hilfe des Farns heil überstanden. Und überhaupt war es ihre Geschichte! Wenn dieser Mister Wichtig in seiner Hütte nicht freundlich zu ihr wäre, würde sie ihn sich einfach wegträumen - genau! Außerdem, überlegte Vanessa, die armselige Holzhütte abschätzend, was konnte darin schon wirklich Wertvolles sein? Bestenfalls ein paar Holzwürmer.
Hoffnungsfroh ging sie auf die Hütte zu und der hübsche, aus den langen roten Haaren gebundene Pferdeschwanz schwang im leichten Sommerwind. Mit jedem Schritt klopfte ihr Herz ein wenig schneller.
TEIL III
1
Die Hütte bestand tatsächlich ausschließlich aus Holzstämmen, so, wie man Blockhütten aus amerikanischen Wildwestfilmen her kennt. Nur schien diese wesentlich kleiner zu sein als in den Filmen - sie war höchstens so groß wie eine Garage.
Die Tür verfügte über kein Schloss, stellte Vanessa beruhigt fest. Also würde es ihr wohl nicht ganz so schwerfallen zu verschwinden, wenn es denn nötig sein sollte, vermutete sie und spürte ihr Herz ganz laut schlagen. Sie nahm allen Mut zusammen, atmete tief durch und schob die Tür vorsichtig auf. Mildes Licht strahlte ihr entgegen. Es duftete gut nach Bratäpfeln und Pommes frites.
»Hallo? Hallo, ist hier jemand?« Vanessas Stimme verriet Unsicherheit. Das Mädchen trat ein und schaute verwundert aus weit geöffneten Augen. Obwohl die Hütte von außen nur klein und unscheinbar wirkte, verblüffte sie innen durch unfassbar viel Platz und erinnerte beinahe an einen prächtigen Ballsaal irgendeines französischen Königs.
Weißer Marmorfußboden, so weit das Auge reichte. Ausladende Kristallleuchter erhellten den schier unendlich wirkenden Raum. Goldene Tapeten glänzten an den Wänden. Wenige Meter von Vanessa entfernt stand eine Anrichte. Ein Monstrum aus massivem Eichenholz. Könnte sich aber auch um einen unglaublich breiten und ebenso langen Altar oder ein ähnliches Möbelstück handeln. Darauf waren Schmuck, Edelsteine, goldene Becher, sowie unzählige glänzende und glitzernde Kostbarkeiten verteilt. Perlen, Diademe, Armreifen, Ringe, sogar ganz aus Gold und Edelsteinen gearbeitete Kleider konnte Vanessa erkennen. Sie trat - beinahe geblendet - einen Schritt auf diese herrliche Pracht zu. So viel Schmuck gab es nicht einmal im Laden ihres Vaters.
Sie konnte immer noch niemanden entdecken und rief erneut: »Ist hier jemand?«
»Nein, ich habe schon gegessen«, antwortete eine sehr tiefe Stimme aus dem Dunkel.
Neben der Eingangstür saß ein Mann auf einem Schaukelstuhl, bekleidet mit einem beigefarbenen Anzug. Er hielt eine große Tabakspfeife mit weißem Kopf in der linken Hand und zwirbelte mit der anderen seinen schwarzen Schnurrbart. Das Haar des Mannes glänzte genauso tiefschwarz. An den Schläfen war es kurz geschnitten, aber im Nacken fiel es lang bis über die kräftigen Schultern. Seine unergründlichen Augen funkelten eisgrau. Kein zusätzliches Wort kam über die schmalen Lippen. Der Mann blickte das Mädchen ruhig an. Er schien den weiteren Verlauf abzuschätzen.
Vanessa hatte sich schnell umgedreht und fühlte sich sehr ungemütlich, etwa so, wie man sich in der Nacht vorkommt, wenn man aus dem Keller eine Flasche Saft oder sonst was holen soll und die Treppenlampe auf dem Rückweg plötzlich nicht mehr funktioniert.
»Sind Sie Herr Goldberg? Ich heiße Vanessa Faber.«
Sie wartete schweigend auf seine Reaktion und glaubte, es seien endlose stille Minuten vergangen, bis er sprach.
»Was willst du hier?«
Lügen hatte keinen Zweck, erinnerte sich Vanessa an die Warnung der Kröte - und vor allem hier nicht. Also erzählte sie ihre Geschichte und den Grund, warum sie seine Hilfe benötigte.
»Schau an, schau an«, brummte er. »Du reißt barbarisch Pflanzen ab ohne nachzudenken. Bisher hatte ich immer vermutet, dass nur dumme Jungs so dämliche Dinge tun! Was ich allerdings überhaupt nicht begreife: Aus welchem Grund sollte ich ausgerechnet dir etwas von meinen Schätzen geben?«
»Es ist doch für den Farn, damit ich ihm helfen kann, sonst ... ja, ich weiß auch nicht so genau, vielleicht stirbt er obendrein womöglich oder irgend so was! Auf jeden Fall habe ich versprochen, meinen Fehler wiedergutzumachen.«
Sie hoffte, dass diese bruchstückhafte Erklärung den Schatzwächter milde stimmen würde. Überzeugt war sie davon nicht.
»Darüber hättest du nachdenken sollen, bevor du eine Pflanze ausrupfst. Es ist ohnehin eine ziemliche Unverschämtheit von dir, nun etwas von meinen Schätzen zu verlangen, um deine Dummheit auszubügeln. Nein, Mädchen. Nichts ist zum Nulltarif. Weder hier noch sonst wo auf dieser großen gierigen Welt. Oder gehöre ich gar zur freiwilligen Feuerwehr? Nein, nein, umsonst bekommst du nichts von mir, basta und Schluss!«
Vanessa knabberte an ihrer Lippe. Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Natürlich hätte sie sich einfach ein Stück von dem Altar nehmen und dann ganz schnell wegrennen können. Aber die Kröte hatte schließlich gerade davor gewarnt. Muss wohl hellseherische Fähigkeiten haben, dachte Vanessa. Und außerdem, wie sie den Traum bisher erlebt hatte, schätzte sie, dass das vermutlich ja doch nichts nützen würde. Sie musste irgendetwas tun, um das Wertvollste zu finden und es dem Farn bringen. Darüber hinaus fand sie es nicht gerade lustig, jemandem etwas ohne zu zögern wegzunehmen. Sie seufzte leise.
»Bitte ...«
»Ja?« Der Mann kniff ein Auge zu und neigte den Kopf ein wenig zur Seite. Da Vanessa keinen Ton mehr von sich gab, fuhr er fort: »Es gäbe natürlich auch die Möglichkeit, dass wir tauschen.«
»Tauschen? Tauschen, na klar! Bin ich gar nicht drauf gekommen. Ich will ja gar nichts geschenkt haben. Wir tauschen!« Vanessa strahlte.
Sie hatte zu Hause in ihrem Zimmer so einen Haufen Zeugs, das bloß immer weggeräumt werden musste. Den Krempel konnte der Schatzwächter gern zum Tausch erhalten.
»Ich habe ein paar super CDs, die können Sie haben!«
»Verschone mich bitte mit diesem Unfug. Nein, danke.« Er winkte ab. »Von der Musik rollen sich mir ohnehin nur die Fußnägel auf.«
Vanessa unterdrückte ein Lachen. Dann bot sie ihm ihre Poster an, und er lehnte erneut entrüstet ab. Alles, was sie zum Tausch vorschlug, schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken und er zeigte kein Interesse an dem Handel.
Zuletzt bot Vanessa ihm unter Tränen an, die teure Stereoanlage von zu Hause zu holen, die sie zum Geburtstag bekommen hatte.
»Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass du hier irgendwelchen Schnickschnack durch den Wald schleppen kannst, wie es dir gerade gefällt. Und vielleicht noch alle möglichen Leute mitbringst, die sich dann bei uns aufführen wie die Waldesel. Nein, Mädchen, so läuft das nicht. Außerdem ist alles, was du mir bisher angeboten hast, nicht kostbar, sondern nur Mumpitz. Dinge, die Gold wert sind, kann man nämlich nicht im Geschäft erstehen. Oder glaubst du, man kann sich Zuneigung kaufen? Oder Gesundheit? Wirklich wertvoll ist zum Beispiel auch Nachdenken, bevor man etwas tut. Und besonders Hilfsbereitschaft aufbringen für jemanden, dem es schlecht geht. Und jetzt komm mir nicht mit deiner Hilfsaktion für das Farngemüse. Diese Hilfe möchtest du ja letzthin nur aus eigenem Interesse durchführen. Das ist eine völlig andere Sache. So können wir nicht ins Geschäft kommen. Da musst du mir etwas anderes anbieten als deinen Firlefanz. Siehst du das ein?«
Vanessa spürte einen dicken Kloß im Hals. Was hatte sie denn schon anzubieten? Sie war noch zu jung, um bedeutende Schätze zu besitzen. Bei dem bisschen Taschengeld.
»Ich habe aber kein Geld und erst recht keinen teuren Schmuck«, sagte Vanessa leise.
Plötzlich kam ihr eine Idee.
»Mein Vater hat einen Haufen Geld und Schmuck. Einen ganzen Laden voll. Wie wäre es denn damit?«
»Du hast mich vorhin entweder nicht verstanden oder mir nicht richtig zugehört. Geld und Reichtum ist nicht unbedingt schlecht, das stimmt durchaus. Aber nicht wichtig.«
»Also, mein Vater sagt immer ...«
»Ich bin nicht interessiert«, unterbrach Herr Goldberg das Mädchen.
Es half alles nichts. Sie hatte fest versprochen, dem Farn zu helfen. Nach scharfem Überlegen fielen ihr nur zwei Angebote ein.
»Sie wollen kein Geld und keinen Schmuck. Habe ich kapiert. Ich habe versprochen, dem Farn zu helfen und ich möchte dieses Versprechen halten. Ich kann Ihnen somit nur meine Freiheit anbieten. Ich verspreche Ihnen wiederzukommen, wenn ich dem Farn geholfen habe«, presste sie hervor und hoffte, dem Schatzwächter wegen ihrer roten Haare und der Sommersprossen nicht zu gefallen. Zum allerersten Mal in ihrem Leben war sie sogar ein ganz klein wenig froh darüber, wohl nicht übermäßig hübsch zu sein. Vielleicht würde er doch noch der Stereoanlage zustimmen. Es war schließlich das modernste Gerät, das es zurzeit im Handel gab.
Der Mann blickte Vanessa lange in die Augen und sprach dann eindringlich: »Es freut mich, dass du dein Versprechen halten willst, das ist selten heutzutage und imponiert mir ungemein. Das muss ich zugeben. Aber was würden deine Eltern dazu sagen, wenn du nicht mehr nach Hause kommen würdest? Es ist dir anscheinend sehr ernst mit dem Wunsch, deinen Fehler zu korrigieren. Das ist einerseits beeindruckend, andererseits solltest du nicht so leichtfertig mit deiner Freiheit umgehen. Darüber hinaus würde sicherlich noch jemand sehr traurig sein, nicht nur deine Eltern, wenn du plötzlich verschwunden wärst.«
Vanessa dachte angestrengt nach, wer denn außer ihrer Familie darüber traurig sein könnte, wenn sie nicht mehr da wäre. Außer Aynur und ihrer zweitbesten Freundin, der dicken Kathi, fiel ihr niemand ein. Und mit Kathi hatte sie sich erst vorgestern schlimm gestritten. Nein, die wäre bestimmt nicht bekümmert.
Herr Goldberg unterbrach Vanessas Gedanken.
»Außerdem bin ich, wenn ich mir die Sache genau durch den Kopf gehen lasse, sogar etwas enttäuscht von deinem Vorschlag! Ich hatte gehofft, dass du endlich nachdenken würdest, bevor du etwas unternimmst.«
»Gut, wenn Sie meine Anlage nicht haben möchten, dann kann ich Ihnen höchstens noch mein Leben anbieten, sonst habe ich ehrlich nichts mehr, was irgendwie wertvoll sein könnte. Außer Geld von meinem Vater!«
»Geld, Geld! Willst du dein Leben lang nur an Geld denken? Jetzt bin ich wirklich enttäuscht! Du wirfst dich einfach weg, ohne über eine andere Möglichkeit nachzudenken. Nein, Mädchen, ich glaube es ist besser, du verschwindest schnell. Dir ist nicht zu helfen! Mach, dass du fortkommst!«
Vanessa überlegte fieberhaft, während der Mann sich von seinem Schaukelstuhl erhob, zu ihr trat, um sie aus seinem Palast hinauszubegleiten - notfalls mit Gewalt, das war deutlich zu erkennen.
Hier im Traumwald herrschten offensichtlich andere Vorstellungen von Dingen, die wichtig waren! Vanessa sah dem Wächter in dessen unzufrieden forschend blitzenden Augen.
Plötzlich stand Dominik Mittenzwey in der Hütte und lächelte Vanessa freundlich an. Die traute ihren Augen nicht, schloss die Lider fest. Als sie diese erneut mutig öffnete, stand Dominik immer noch da. Ausgesprochen sonderbar wirkte dies alles auf Vanessa. Wie mochte Dominik denn bloß hierher gekommen sein?, fragte sie sich insgeheim.
Herr Goldberg unterbrach ihre Gedanken und verlangte diesmal mit Nachdruck, dass sie endlich verschwinden solle.
»Darf ich eine Minute mit Vanessa sprechen?«, bat Dominik.
Der Mann zuckte statt einer Antwort mit den Schultern, nickte dann nur ganz kurz, ging zurück zum Schaukelstuhl und nahm wieder Platz. Er sah auf seine goldene Armbanduhr.
»Eine Minute und nicht eine einzige Sekunde länger habt ihr Zeit.«
»Ist schon drollig, was? Von Geld und Gold will er angeblich nix wissen, hat aber eine Protzuhr am Handgelenk, dass man fast neidisch werden kann. Was tust denn du hier?«, fragte Vanessa, nachdem sie begriffen hatte, dass tatsächlich Dominik vor ihr stand.
Der Junge mit dem Wuschelkopf winkte ab.
»Wir haben nur knapp sechzig Sekunden Zeit, also vergeuden wir möglichst nicht zu viele davon. Versuche dich zu erinnern ...«
»Eine halbe Minute ist bereits vorbei!«, rief der Schatzwächter aus seinem Schaukelstuhl, denn seine Schweizer Armbanduhr ging auf die Sekunde genau.
»Von allem, was du bisher hier in diesem Wald erlebt hast, was war davon für dich am wichtigsten oder wertvollsten? Denk nach, Vanessa.«
»Hier war nichts wertvoll! Glaubst du im Ernst, dass mir jetzt Nachdenken weiterhelfen kann? Dass ich nicht lache.«
»Wenn uns im Leben überhaupt irgendetwas weiterhelfen kann, dann nur Nachdenken und ...«
Als während dieser Worte die zugestandene Minute abgelaufen war, verschwand Dominik Mittenzwey spurlos.
»Verflixt!«, fluchte Vanessa. Ihr einziger Verbündeter und Freund in dieser Situation konnte nun auch nicht mehr helfen. Nachdenken, hatte Dominik gesagt. Nachdenken könnte helfen? Denken?! Das muss nun verdammt schnell gehen mit dem Denken, dachte Vanessa. Der Schatzwächter erhob sich schwerfällig.
Denken kann man sehr viel schneller als sprechen. Schreiben dauert noch viel länger. Vanessa dachte wirklich blitzschnell nach. Das einzig Interessante oder Hilfreiche war eigentlich die Erkenntnis, dass sie hier alles so träumen konnte, wie sie es gerade haben wollte, aber was sollte sie denn jetzt nur umträumen? Dazu war sie viel zu aufgeregt.
Der Mann griff bereits nach ihrem Arm. In diesem Augenblick fiel ihr der Farn ein, der ihr drei Tipps versprochen hatte. »Guter Rat ist teuer«, pflegte die Mutter zu sagen. Ein Tipp ist somit ein guter Rat und demzufolge manchmal sehr wertvoll, oder? Ein Versuch schien es zumindest wert zu sein.
Vanessa piepste so kläglich wie möglich: »Dann gebe ich Ihnen meine Tipps!«
Herr Goldberg blieb wie vom Donner gerührt stehen.
»Tipps?«, fragte er mit zusammengekniffenen Augen. »Welche Tipps?«
Vanessa ergriff die so sehr erhoffte Chance, ihn überzeugen zu können und sprach deswegen auch schneller als sonst.
»Der Farn, genauer der Bruder von dem Farn, dem ich den Wedel ausgerissen habe, hat mir versprochen, wenn ich in höchster Not bin, dann würde er mir mit drei Tipps helfen; das heißt, einen davon habe ich leider schon verbraucht. Die anderen zwei kann ich Ihnen aber noch anbieten! Guter Rat ist teuer, besagt ein Sprichwort. Und teuer ist gleich wertvoll. Also mir ist da mal eine Geschichte passiert ...«
Sie hielt erschrocken inne, denn der Wächter blickte so lange in Vanessas Augen, wie man etwa braucht, um bis sechs zu zählen. Sie fühlte sich mit jeder Sekunde ungemütlicher und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, um die Zusammenhänge zwischen ihr, dem Farn und dessen Tipps ausführlich zu erklären. Oder zumindest die Geschichte zu erzählen, in welcher ihr ein guter Rat so prima geholfen hatte.
»Wir mussten neulich an so ein paar schrägen Typen vorbei und meine Mutter hatte mir den Tipp gegeben, wenn ich Hilfe benötige, nicht ›Hilfe‹ zu rufen, sondern ›Feuer!‹ Und das hat geholfen. Nun hat mir der Farn vorhin drei Tipps versprochen, zwei davon hätte ich noch zur Verbrauchung.«
»Du meinst zur Verfügung.«
»Ja, genau. Und die habe ich bislang nicht verfügt. Nee, verbraucht. Ich bin schon ganz durcheinander. Die biete ich Ihnen an.«
Er hatte Vanessa zugehört, ohne sie zu unterbrechen und schien eine Weile zu überlegen.
»Eine durchaus interessante Situation, wie ich meine. Du überträgst mir also dein Recht in ausweglos erscheinender Lage um Rat zu bitten.«
»Na ja, Rat weiß ich nicht. Aber mir stehen noch zwei Tipps zu, das stimmt.«
Herr Goldberg lächelte versonnen.
»Gut, das Geschäft gilt. Ein guter Rat oder wie du es nennst, ein Tipp, ist oft wirklich viel mehr wert als alles Geld der Welt. Solch ein Angebot kann ich mir natürlich nicht entgehen lassen.« Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe und senkte den Blick für einen Moment. Dann schaute er Vanessa wieder an, und mit wenig zufriedenem Gesichtsausdruck fuhr er leise fort: »Trotzdem muss ich dir sagen, dass ich enttäuscht bin. Warum denkst du nur von jetzt auf gleich? Nach meiner Einschätzung verfügst du hier nur über zwei tatsächlich wertvolle Dinge, eben über die beiden Ratschläge. Anstatt nachzudenken und aus Gründen der Vorsicht nicht gleich beide Trümpfe auszuspielen, sondern einen für Notfälle aufzubewahren, übertreibst du gleich wieder. Einen der Tipps anzubieten hätte möglicherweise zunächst vollauf genügt. Nun hast du keinerlei Reserven mehr. Was willst du tun, wenn sich das nächste - dir unüberwindlich scheinende - Problem in deinen Weg stellt? Aber das soll ja schließlich nicht meine Sorge sein.«
Vanessas Blick blieb an dem weißen Kopf der Pfeife hängen. »Mist!«, gab sie zu. »Stimmt! Aber wieso bin ich hier eigentlich die Einzige, die Angst hat und bloß weg will? Oder bin ich sonst auch so gedankenlos? Also, wenn dies wirklich nur ein Traum ist, ist es auf jeden Fall ein Sch...traum. Wie geht es jetzt weiter?«
»Nun, du versprichst, mir deine Rechte an den beiden Ratschlägen zu überlassen, dafür darfst du dir das deiner Ansicht nach wertvollste Stück aus meiner Sammlung aussuchen und zu deinem Farn mitnehmen.«
»Und dann ist der ganze Spuk vorbei?«, vergewisserte sich Vanessa.
»Was geht es mich denn an?«, antwortete der Schatzwächter. »Ist das etwa meine Geschichte?«
»Okay, kapiert«, erwiderte Vanessa. »Was wäre, wenn ich nun später dennoch einen Tipp brauche? Und ihn mir einfach nehme. Ist ja, wie Sie selbst gerade feststellen, meine Geschichte!«
Er nickte und wies mit dem Mundstück seiner Pfeife auf Vanessa.
»Das kannst du selbstverständlich versuchen, mir ist das egal. Ob dir das recht gut bekommen wird, mag ich bezweifeln. Du hast es schließlich versprochen und ein Versprechen gilt hier sehr viel, junge Dame. Und wenn du etwas versprichst, solltest du das unter allen Umständen halten - oder lass es lieber gleich bleiben. Das wäre dann in der Konsequenz weniger tragisch.«
»Ich habe doch überhaupt nicht gesagt, dass ich Sie betrügen will! Ich habe lediglich wissen wollen, ob wir einen Vertrag machen müssen oder nicht.«
»Wir haben in dem Moment einen verbindlichen Vertrag miteinander geschlossen, in dem du dir das Wertvollste von meinem Eigentum gemäß unserer Absprache nimmst und diesen Raum verlässt. Und ich kann dich absolut beruhigen, wir kommen nicht gerade aus Dummsdorf. Wir verfügen selbstverständlich auch über gewisse Sicherheiten.«
»Sicherheiten? Aha. Und ich?«
Er nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife und blies den würzigen Rauch durch die Nase aus.
»Bei uns gibt es keine Absprachen, die nur einem von beiden Partnern nützen. Pass auf, ich erkläre es dir. Aber nur einmal.«
»Ich höre zu.«
»Fein. Wenn du dir etwas aussuchst und aus diesem Raum hinausgegangen bist, kann ich dich nicht mehr daran hindern, weil ich selbst diesen Raum nicht verlassen kann und darf. Dies wäre deine Sicherheit.«
Er nahm eine Münze von dem Schatzhaufen und reichte sie Vanessa.
»Steck diese Münze in deine Hosentasche. So, gut. Du spürst sie nun sicherlich an deinem Bein. Keine Angst, die tut nicht weh. Im Augenblick sieht sie unscheinbar aus, wie es sie draußen bei euch zu unzähligen gibt. Ist somit nichts Besonderes. Wenn du diesen Raum mit einem meiner Gegenstände verlassen hast, aktiviert sich das darin eingeschlossene Kristall. Solange du dich an unseren Vertrag hältst, geschieht überhaupt nichts. Wenn du allerdings ... ach, das wirst du dann schon merken. Und das ist meine Sicherung.«
»Hört sich ja ganz logisch an«, bemerkte Vanessa. »Aber das: Nur wenn ich ... das würde mich brennend interessieren. Wenn ich was?«
Er sprach wiederum ruhig und sehr bestimmt.
»Solltest du entgegen unserer Vereinbarung den Wunsch nach einem meiner Tipps äußern, wird dich das Kristall auf der Stelle zur Salzsäule erstarren lassen. Wie es seinerzeit der Frau Lot geschah. Sieh her.«
Er zog Vanessa zu einem Fensterchen, durch das sie in einen ziemlich finsteren Nebenraum hinüberschauen konnte. Dort standen unzählige steinerne Figuren der Größe nach geordnet. Vanessa schaute den Wächter misstrauisch an.
»Das sind also alles Leute ... Ich kapiere.«
»Tatsächlich? Tust du das? Das freut mich. Ja, die dort hielten sich alle für ganz besonders schlau. Nun, wie gesagt«, er betrachtete seine Hände, »ich bin auch nicht gerade von einer Baumwollkolonie hierher geflohen. Und bei uns gibt es Strafen in aller Regel ohne Bewährung. Natürlich gilt die Strafe ausschließlich für hier! Die dort auf der anderen Seite werden in ihrem ganzen Leben nicht einen einzigen schönen Traum mehr haben. Sie sind für alle Zeiten seelenlos. Ein Mensch ohne Seele kann sich mit noch so viel Geld und Reichtümern schmücken, im Spiegel wird er stets nur seine seelenlose Fratze erkennen. Hast du dir schon einmal selbst ins Gesicht gesehen?«, fragte der Schatzwächter.
»Selbstverständlich, jeden Tag«, beteuerte Vanessa.
»Momentchen mal. Du hast dich vielleicht im Spiegel betrachtet. Doch sich selbst ins Gesicht sehen bedeutet etwas sehr viel anderes.«
»Hm, kann ich nicht sagen. Aber ich glaube, dass ich verstehe, was Sie meinen. Was soll ich jetzt tun?«
»Du hast - hier und jetzt - die freie Wahl.«
Nun wies er mit dem Mundstück der Pfeife auf die glänzenden wertvollen Stücke.
Vanessa wandte sich den Reichtümern zu.
»Was um alles in der Welt könnte von dem Zeug bloß das Wertvollste sein?«, fragte Vanessa.
»Genau das wirst du selbst herausfinden müssen. Eines habe ich vergessen hinzuzufügen. Sollte es dir tatsächlich gelingen, dem Farn zu helfen und unseren Wald zu verlassen, wird das Kristall in deiner Hosentasche wieder eine einfache Münze sein und unter gewissen Umständen sogar zu einem Talisman werden, der dir vielleicht einmal nützlich sein kann. Also gib acht auf ihn!«
Sie nickte ernst und deutete mit einer Handbewegung auf den Altar mit den Reichtümern.
»Okay. Dann kann ich mir jetzt etwas hiervon aussuchen?«
»Ja, stimmt. Das ist dein Recht. Bedenke dabei genau, was du heute gehört und erlebt hast. Dann wähle aus der Summe deiner Erkenntnisse das deiner Meinung nach wertvollste Stück aus. Aber entscheide klug!«
»Na klar«, entgegnete Vanessa. »Ich habe heute meinen klugen Tag.«
So etwas sagt sich natürlich leicht.
2
Vanessa trat mit bebendem Herzen an die glitzernde Sammlung der unglaublich wundervollen Schmuckstücke und Goldschmiedearbeiten. Ein Diadem stach aus der Menge der glänzenden Reichtümer hervor und blendete sie beinahe durch seine vollkommene Schönheit. Das Mädchen folgte seinem weiblichen Instinkt und griff nach dem Schmuckstück - etwas Kostbareres konnte es auf der ganzen Welt nicht geben. Aber als hätte sie eine elektrische Leitung berührt, hielt sie inne. Wie hatte der Mann gerade gewarnt? Sie sollte über das nachdenken, was sie heute hier gehört hatte. So etwas in der Art hatte Dominik doch auch gemeint. Oder etwa nicht? Verflixt! Was war denn hier so richtig wertvoll gewesen? Zunächst die Geschichte mit dem Feuer speienden Drachen. Ich muss immer in zwei Richtungen denken. Wenn es diese überaus erlesenen Sachen gibt, muss ich die wertvollste unter ihnen aussuchen - und ich habe keine Ahnung davon. Wenn wenigstens Vater an meiner Seite wäre, der könnte mich beraten. Wenn ich nun annehme, dass es diesen ganzen Plunder überhaupt nicht gibt, dann muss es etwas anderes sein. Probieren geht bekanntlich über studieren, oder?
»Also«, murmelte Vanessa vor sich hin, ohne dass ein hörbarer Ton über ihre Lippen kam, »wollen wir mal sehen, wie Herr Goldberg reagiert!«
Dieser stand still wartend hinter Vanessa und beobachtete sie genau. Er spürte intensiv interessiert und beinahe sogar erfreut den Konflikt, der in dem Mädchen wühlte. Als Vanessa zu seiner Enttäuschung nach dem Diadem griff, atmete er leise, aber lange aus.
Vanessa hatte den Seufzer trotzdem vernommen und wandte sich mit dem herrlichen Schmuckstück in den Händen dem Schatzwächter zu. Ihre Augen strahlten. Sie betrachtete das Diadem von allen Seiten.
»So etwas Wundervolles habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Wem gehört es?«
Mit unbewegtem Gesicht antwortete der Schatzwächter: »Bis jetzt mir. Das alles gehört mir. Du hast somit ... gewählt?«
Vanessa betrachtete ein paar Sekunden lang das märchenhafte Diadem in ihren Händen. In Wirklichkeit schaute sie gar nicht darauf, sie sah förmlich hindurch und dachte stattdessen fieberhaft nach. Der Seufzer konnte eigentlich nur bedeuten, dass der Wächter enttäuscht zu sein schien. Das Schmuckstück war demzufolge möglicherweise wohl nicht das Wertvollste der Sammlung.
»Nein, wie kommen Sie denn darauf?«, empörte sich Vanessa. »Welch ein Unsinn! Das Teil ist bestimmt eine ganze Menge wert, doch nicht unbedingt das wertvollste! Oder irre ich mich?«
Vanessa bemerkte den lächelnden Ausdruck in seinem Blick und schüttelte grinsend den Kopf.
»Ich wollte es nur einmal in der Hand halten. Oder ist das verboten?«
Der Mann schmunzelte beinahe. Dann klang seine Stimme schlagartig schneidend scharf.
»Der Trick ist dir gut gelungen, Mädchen. Kompliment! Du hast in meinem Verhalten nach der Wahrheit gesucht und nachgedacht. Aber ich muss dich warnen, der nächste Versuch gilt unwiderruflich. Noch mal führst du mich nicht hinters Licht!«
»Was heißt denn hinters Licht führen? Es ist letztendlich meine Geschichte, oder jetzt plötzlich nicht mehr? Wenn doch hier so ein Haufen Klunkerkram herumliegt und man darf ihn nicht einmal anfassen, ist das eine Gemeinheit«, beschwerte sich Vanessa und ließ das kostbare Diadem gelangweilt auf den Altar zurückfallen.
»Vorsicht!«, mahnte er.
»Wieso denn Vorsicht? Vorhin haben Sie lang und breit doziert, dass Reichtum und Geld im Grunde nichts wert sind, und nun regen Sie sich künstlich auf. Was soll der Quatsch? Ent- oder weder! Ach übrigens, eine feine Uhr tragen Sie da, das ist auch kein Plastik, oder? Jetzt mal unter uns Schwestern, was kostet denn so ein Teil? Aber bei Ihnen ist das bestimmt etwas anderes, gell?«
»Wähle!« Die Aufforderung klang nun überhaupt nicht mehr freundlich.
Voll ins Nest getroffen, dachte Vanessa. Andererseits nützt es mir ja nichts, den sauberen Herrn gegen mich aufzubringen. Blitzschnell hatte sie begriffen, dass sich auf diesem Tisch etwas viel Wichtigeres und Kostbareres befinden musste als Gold und Edelsteine. Was war es nur? Die Gedanken rasten. Mir läuft die Zeit weg. Trotzdem jetzt noch einmal ganz sachte. Was kann es nur sein, Vanessa?, überlegte sie fieberhaft und ließ die bisher erlebten Abenteuer vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Der Farn, den sie verletzt hatte, wies auf dieGesundheit hin - die ist von großer Bedeutung. Der Alte, der sie zu Bouillon verkochen wollte, keine Ahnung, was das heißen soll. Die Lachmöwe, die sich den Rüssel verbogen hat, bedeutet Hilfe - Hilfe ist auf jeden Fall von Belang. Es kann natürlich genauso gut sein, dass die Sache mit dem stinkigen Alten auf Vorsicht und Voraussicht hinweisen soll - diese sind demzufolge auch essenziell. Auf dem Baum habe ich die fernen Orte betrachtet, das lässt auf Fantasie schließen - somit ist Fantasie wichtig. Und schließlich hier in diesem Raum, wo es um das ganze teure Zeug geht, das heißt um das wertvollste davon, habe ich mein Leben und meine Freiheit angeboten - Leben und Freiheit sind demzufolge ebenfalls von enormer Tragweite. Nun werde ich zwei und zwei zusammenzählen und vermutlich fünf herausbekommen. Na und, ist schließlich meine Geschichte. Also werde ich mir nun mal sozusagen einen Satz des Wohlstands einfallen lassen: Geld, Gold, und was sonst eigentlich wertvoll ist, weil ich es nicht besitze, ist hier nix wert. Dafür einfache Sachen, die üblicherweise für mich absolut normal sind und die ich deshalb gar nicht mehr wahrnehme. Wenn wenigstens Dominik bei mir wäre, dachte Vanessa unvermittelt. Aber der würde ohnehin nur zum Nachdenken raten. Und im Augenblick denkt es sich mir so knubbelig.
Die Sommersprossen in ihrem Gesicht leuchteten ebenso wie die langen roten Locken. Das Mädchen, das bisher noch niemals eine solch wichtige Entscheidung treffen musste wie in diesem im Augenblick, schlenderte betont langsam von einem Ende des Altars zum anderen, betrachtete die aufgehäuften Reichtümer und schaute beinahe verzweifelt.
Überall lagen Gold und Edelsteine. Wo, zum lieben Augustin, mochte der Haken sein? Vanessa ließ den Blick wieder und immer wieder über die ganze Pracht wandern. Ergebnislos.
Sie schloss die Augen und rief sich die vergangenen Sätze, die sie im Traumwald gehört hatte, so gut sie konnte, ins Gedächtnis zurück. Aber es waren viel zu viele Sätze gefallen, als dass sie sich an jeden einzelnen hätte erinnern können. Obwohl man in einer halben Sekunde so viel nachdenken kann, man glaubt es kaum.
Vorstellen! Das musste es sein. Es war doch schließlich ihr Traum, oder etwa nicht? Also war es zwingend notwendig, dass sie sich etwas Wertvolles vorstellte. Der Mann war vorhin so sauer geworden ... Das war es!
Vielleicht.
Das musste es einfach sein!
Vanessa schaute erneut auf den goldenen Popanz vor sich und suchte nun gezielt. Unter einem aufgestapelten Haufen von Goldbarren entdeckte sie, wonach sie so intensiv suchte. Ein kleiner Käfig aus dünnem Blech, mit Käfigstangen aus Drahtfäden lag unter all der goldenen Pracht. Es sah aus, als würde die Last ihn unter sich begraben wollen.
Vanessa schob Gold und Edelsteine sorgfältig beiseite. Sie waren bestimmt eine Menge Geld wert und zudem recht schwer. Dann zog das Mädchen vorsichtig den zerbrechlich wirkenden, unscheinbaren Käfig unter all den protzigen Reichtümern hervor und hielt ihn behutsam in den Händen. In seinem Innern war gerade mal Platz für eine Kinderfaust. Ein kleiner weißer Vogel mit dunklen Flügelenden hockte verängstigt und traurig in dem viel zu engen Käfig. Er zitterte vor Furcht und hätte sich bestimmt gerne vor Vanessa versteckt, aber in dem winzigen Gefängnis fand er keine Möglichkeit dazu. Es schien Vanessa, als schaue er sie Hilfe suchend an. In ihrer Aufregung fand sie nicht gleich die Tür des Vogelbauers und wollte sich gerade nach dem Schatzwächter umdrehen, um ihm zu zeigen, worauf ihre Wahl gefallen war, da dröhnte und krachte es neben dem Mädchen so fürchterlich, dass es beinahe den Käfig fallen gelassen hätte.
Vanessa hielt ihn schützend mit beiden Händen und wich einen Schritt zurück. Wie aus dem Nichts gekommen, stand plötzlich jemand vor dem mit so unglaublich viel Schmuck beladenen Möbel, das auf sie unvermittelt wie ein Altar klerikaler Prunksucht wirkte. Bei der Person schien es sich um einen Mann zu handeln, den sie nicht sogleich erkennen konnte, da er ihr den Rücken zugewandt hatte und wie wild nach den ausgestellten Reichtümern griff.
Er sprang hin und her und raffte so viel wie möglich an Schmuck und Gold zusammen. Seine Taschen, Hände und Arme waren dermaßen mit Gold und Juwelen überladen, dass, sobald er nach einem weiteren Stück griff, ihm ein anderes aus den Fängen rutschte. Er schien rasend vor Habgier zu sein.
Als er sich umdrehte und sich nach dem wunderschönen Diadem bückte, das zu Boden gefallen war, erkannte Vanessa das Gesicht des Mannes.
Sie erschrak.
»Papa, Papa, wie kommst du denn hierher? Lass das Zeug bitte liegen, es gehört nicht dir, sondern Herrn Goldberg. Um Himmels willen, hör doch bitte auf damit!«
Aber der Vater gab nur heisere Befehle von sich.
»Lass den bescheuerten Käfig fallen und hilf mir lieber, so viel wie möglich mit nach Hause zu nehmen. Nun trödel nicht schon wieder und hör endlich auf mit deiner ewigen Träumerei! Vanessa, ich warne dich! Ich habe dir gesagt, du sollst mir helfen! Mann, das ist vielleicht ein Schluck aus der Pulle!«
In diesem Augenblick öffnete sich der Boden zu einem breiten Spalt. Ohne im Geringsten davon Kenntnis zu nehmen, fiel Herr Faber dort hinein, während er unbeeindruckt nach weiteren Schmuckstücken griff. Sämtliche Reichtümer stürzten, einem Wasserfall gleich, hinter Vanessas Vater her in die Tiefe. Immer weiter polterten goldene Becher, Edelsteine und teure Schmuckstücke in das Loch, bis es sich langsam schloss und das Getöse nachließ.
Grausame Stille herrschte nun in dem wie leer gefegt scheinenden Saal. Vanessa schaute auf den geplünderten Altar und ihr Blick verschwamm hinter einem Tränenschleier. Sie drehte sich zu dem Schatzwächter um und öffnete den Mund, um nach dem Schicksal des Vaters zu fragen. Sie bekam keinen einzigen Ton über die Lippen.
Er betrachtete sie lange und eindringlich. Dann begann er leise zu reden: »Deine Wahl war klug, Vanessa - seine war die reine Gier.«
Das weinende Mädchen fand endlich die Stimme wieder.
»Ist er jetzt ... tot?«
Der Wächter ohne Schatz setzte sich ohne Hast in seinen Schaukelstuhl und entzündete die Pfeife erneut.
»Nein. Nein, tot ist er nicht. Sein Körper funktioniert wie eh und je, keine Sorge. Aber seine Seele - ich habe es dir vorhin zu erklären versucht - sein Gefühl, damit steht es sehr schlimm! Er hat aus lauter Habsucht seine vermutlich letzte Chance leichtfertig vertan, noch einmal Mensch zu sein und irgendwann mal hierher kommen zu können. Seine Seele ist gestorben, sein Herz ist leer. Dieser Mann hat keine Träume mehr. Er ist allenfalls eine gierige Hülle, wie ein Sparschwein. Das Traumland, der Traumwald, das Paradies, egal, wie du diesen Ort nennen willst, ist für ihn wohl verloren. Er wird unersättlich werden und ständig irgendwelchem Reichtum hinterherjagen, ohne sein Ziel jemals zu erreichen. Selbst als reichster Mann der Welt würde er rastlos weiter nach noch mehr Reichtum fiebern. Seine Seele ist tot. Er funktioniert wie eine Maschine, die nach mehr und mehr lechzt. Und es ist sehr schade, dass niemand in der Lage ist, diese defekte Maschine anzuhalten und ihm die wahren Werte des Lebens wieder bewusst zu machen. Nein, das wäre ein Wunder. Diese armen Menschen sind für das Leben meist für alle Zeiten verloren, denn sie sind mit ihrem Dasein immer und ewig nur unzufrieden.« Der Schatzwächter strich mit einer Hand durch den Bart und nickte ein wenig.
»Nun erkläre mir bitte, wieso du den Käfig als das Wertvollste hier erkannt hast?«
»Weil ich, genau wie Sie, auch nicht gerade aus Dummsdorf komme!« Vanessa sah betreten auf den Käfig mit dem kleinen Vogel darin.
Der Schatzwächter lachte laut.
»Das war eigentlich völlig klar«, fuhr sie fort. »Alles, was ich hier erlebt habe, und besonders die Szene mit meinem Vater, kann nur bedeuten, dass alles wichtiger, viel wichtiger ist, als die eigenen Taschen zu füllen. Leben, Freiheit, Freunde, das ist von Belang. Und wenn ich jetzt richtig kombiniere, sollte ich demzufolge den kleinen Vogel freilassen.«
»Siehst du, wie weit man mit Nachdenken kommt? Verstehe ich dich richtig? Du willst den Vogel freilassen? Er gehört doch dir. Und ich denke, du sollst ihn dem Farn bringen?«
»Das stimmt zwar, aber der Vogel gehört mir eben nicht. Er gehört nur sich selbst. Ich fände es nämlich gar nicht toll, wenn man mich in einen Käfig sperren würde, nur weil ein anderer glaubt, ich würde ihm gehören. Außerdem ist das meine Geschichte und ich allein entscheide, was darin geschieht. Also kann ich tun und lassen, was ich will! Ich werde nun so schnell ich rennen kann, den Käfig zum Farn bringen. Ich habe dann mein Versprechen gehalten. Denn ich sollte dem Farn das Wertvollste von hier ja nur bringen, nicht übergeben. Ist eine Denksportaufgabe. Und dann werde ich den armen kleinen Piepmatz sofort fliegen lassen. Was halten Sie davon?«
»Wie du bereits sagtest, das musst du allein entscheiden. Dabei kann ich dir nicht helfen. Aber ich freue mich, dass du mit dem Denken endlich begonnen hast.«
»Ja, wissen Sie, was komisch ist? Ich kann gar nicht mehr aufhören zu denken. Geht ganz von alleine, wenn man es einmal wirklich bewusst getan hat. Der Käfig ist ja an sich schon der Beweis, dass ich tatsächlich das Wertvollste von hier ausgesucht habe. Den armen kleinen Vogel muss ich gar nicht mitbringen. Es könnte schließlich passieren, dass ich hinfalle und den Käfig mit dem Vogel zerquetsche. Oder das arme Tierchen stirbt vor Angst. Oder es geschieht ihm sonst irgendetwas Schreckliches. Apropos schrecklich. Mit meinem Vater ist nichts mehr zu machen, meinen Sie?«
»Denkst du nicht ein wenig zu schnell? Durch ein Wunder vielleicht. Sagen wir mal, er müsste sich grundlegend ändern.«
Vanessa legte den Zeigefinger an die Nasenspitze, kniff ein Auge zu und grinste unvermittelt.
»Ändern? Moment mal, nicht hetzen! Ich sollte das Wertvollste von hier mitbringen. Dabei handelte es sich eindeutig um diesen Käfig mit Piepmatz. Den ganzen Goldkram gibt es jetzt ja gar nicht mehr, also ändert sich die Aufgabe, denn der Käfig mit dem Vogel bedeutet nur noch: ein dummes Gefängnis. Erst wenn ich den Vogel freilasse, bringe ich wirklich das Wertvollste mit: das Leben und gleichzeitig die Freiheit. So könnte es richtig sein.«
Der Mann vergaß sogar seine Pfeife und nickte beinahe unmerklich zum Zeichen seiner Zustimmung. Vanessa zog entschlossen an dem Deckel des Käfigs, und das Drahtgitter zersprang wie Papierstreifen. Der Vogel hopste sofort aus der viel zu engen Behausung, obwohl er ausnehmend klein war. Er landete auf der Schulter des Schatzwächters und schüttelte sich heftig. Dann sprang er auf den Boden, und schneller als man sehen konnte, verwandelte sich der winzige Vogel in die stolze Lachmöwe, die Vanessa zuvor am See gesehen hatte. Die legte ihren rechten Flügel angewinkelt in die Hüfte und klopfte mit den langen Schwungfedern des anderen Flügels auf den Arm des Schatzwächters. Dann beklagte sie sich krächzend.
»Kriäh häh häh! Also ich muss ja schon sagen, das ist einer der blödesten Träume, bei denen ich jemals mitgespielt habe! Erst ramme ich mir den Schnabel bis in die Schwanzfedern, weil das Wasser im See zu flach ist, und dann muss ich zu allem Überfluss in diesem Miniknast abwarten, ob Madame sich irgendwann tatsächlich einmal endlich dazu bequemt, mich herauszulassen. Trotzdem danke, übrigens. Mach dir keine Sorgen, Mädchen. Die Sache mit dem Farn erledige ich für dich. Aber das nächste Mal lässt du mich in deinen Träumen gefälligst aus dem Spiel, oui?«
Bei der Lachmöwe handelte es sich ganz eindeutig um einen französischen Vogel. Sie verließ hüpfend den Raum. Draußen schwang sie sich majestätisch in die Luft. Man sah die Freude über die Freiheit sogar von unten. Sie schrie das ›Kriäh häh häh!‹ hinaus ... die beiden Menschen lachten.
Vanessa war so erleichtert, dass sie die Augen schließen musste und ihr die Reste des Käfigs aus der Hand fielen. Doch schnell hatte sie sich wieder so weit beruhigt, dass sie sich umsehen konnte. Der Schatzwächter war verschwunden, auch von der Holzhütte und dem See war nichts mehr zu sehen.
Erstaunt stellte Vanessa fest, dass sie sich plötzlich am Eingang des Traumwaldes befand und begann nach dem verletzten Farn zu suchen. Obwohl sie sehr viele dieser Pflanzen am Boden des Waldes entdeckte, blieb der Farn mit dem Verband aus dem Papiertaschentuch unauffindbar.
Überhaupt sah es hier aus wie in einem völlig normalen Wald. Von Zauberei und Magie keine Spur. Den Feldweg, auf dem sie gekommen war, konnte Vanessa sehr gut erkennen. Vögel flogen durch die warme Luft und zwitscherten fröhlich. In der Ferne hörte sie ein Pferd wiehern, und ein Flugzeug zog dröhnend seine Spur am Himmel. Für den Moment hatte Vanessa genug von diesem sonderbaren Traumwald und wollte nur nach Hause.
Sie ging den Feldweg entlang und begann schließlich zu rennen. Sicher ist sicher, dachte sie, so schnell wie möglich weg von hier. Erst als sie die Felder schon weit hinter sich gelassen hatte, verschnaufte sie ein wenig, lehnte sich an einen Zaunpfahl und schloss die Augen.
Nach dem dritten Blinzeln bemerkte sie überrascht, dass sie sich gar nicht in freier Natur befand, sondern in ihrem Zimmer am Schreibtisch saß und immer noch das Lineal anstarrte.
Teil IV
1
Vanessa drehte die Münze in der Hand. Sie sah leider überhaupt nicht aus wie ein magisches Kristall, sondern wie eine ganz normale Münze aus irgendeinem anderen Land.
Niemand würde ihr diese Geschichte abkaufen, das wusste Vanessa. Man würde sie als Hirngespinst eines dummen, unreifen Mädchens abtun. Kein Mensch glaubt an Fantasie, obwohl sie doch genau wusste, dass es diesen Wald mit seinen Lebewesen und den Abenteuern dort gab. Sie steckte ihren Talisman sorgfältig in die Hosentasche zurück, schloss die Augen und atmete tief durch.
Herr Faber öffnete energisch Vanessas Zimmertür und steckte den Kopf ins Zimmer. Sein Gesicht wirkte nicht gerade freundlich.
»Bist du schon wieder zurück oder was? Wo bleiben meine Brötchen? Träumst du? Hör endlich mit der Trödelei auf! Es ist zum Haareraufen mit dir!« Schimpfend verließ er das Zimmer der Tochter und schloss geräuschvoll die Tür.
Vanessa schüttelte sich wie ein nasser Hund und schlich ihm in die Küche nach. Kaffee, Butter und Marmelade standen auf dem Tisch. Der Vater saß bereits davor und blickte grimmig. Schließlich starrte er beinahe fassungslos auf Vanessas leere Hände. Verärgert runzelte er die Stirn.
»Wo bleibst du denn so lange, Vanessa? Meinst du vielleicht, ich habe den ganzen Tag Zeit, auf dich und die Brötchen zu warten?« Er wandte sich an seine Frau und schimpfte weiter. »Das hast du nun von deiner laschen Erziehung. Fräulein Traumtänzer tut nie, was man ihr sagt, und ich kann nicht länger warten. Einmal im Jahr bitte ich sie um etwas und sie rührt sich nicht vom Fleck. Hast du etwa vergessen, dass heute die neue Schmuckkollektion aus Mailand bei uns vorgeführt wird? Da darf ich nicht fehlen. Und wenn ich mich als Chef verspäte, das wäre ein gefundenes Fressen. Du weißt ganz genau, was an diesem Geschäft alles dranhängt, meine Güte!«
Frau Faber fuhr sich müde mit der Hand durchs Haar.
»Schrei mich nicht an! Da du der Chef bist in deinem Laden, so können die Leute ruhig einmal ein paar Minuten auf dich warten. Wenn dir hingegen die Klunker wichtiger sind als ein gemeinsames Frühstück mit uns, dann musst du eben hungrig zu deinen Juwelen gehen.«
»Ständig nur träumen und trödeln, das kann sie. Wenn sie aber mal Brötchen holen soll, dann schafft das gnädige Fräulein das nicht. Was ist jetzt damit?« herrschte er Vanessa an.
Sie war immer noch ganz in Gedanken, konnte die Erlebnisse im Traumwald nicht so einfach vergessen und stellte sich vor, dass sie die schönsten Brötchen aus der Bäckerei in ihren Händen halten würde - und reichte diese dem Vater. Die Vorstellung allein half jetzt nicht weiter. Er konnte keine Brötchen entdecken, sondern nur leere Hände.
Er stierte völlig verständnislos darauf, sprang auf und schüttelte Vanessa grob an den Schultern.
»Hör endlich auf zu träumen!«, brüllte er wütend. Dann ließ er das Mädchen los und verließ kopfschüttelnd die Küche.
»Es stimmt wirklich«, sagte Vanessa.
»Was stimmt wirklich?«, wollte die Mutter wissen.
»Was ist er nur für ein Idiot«, meinte Vanessa.
»Also hör mal, so darfst du nicht von deinem Vater reden. Das geht entschieden zu weit. Er tut das doch alles nur für uns.«
Vanessa schaute die Mutter an.
»Was macht er? Das glaubst du ja selbst nicht. Er rafft und rafft und giert nach mehr und immer mehr. Und wenn er dann mehr hat, will er noch viel mehr!«
Vanessa bemerkte nicht, dass der Vater hinter der halb geschlossenen Küchentür stand und ungläubig den Worten seiner Tochter lauschte. Voller Zorn stand er im Begriff, in die Küche zu stürmen, aber irgendetwas Unerklärliches hielt ihn zurück. Er schob sich ganz vorsichtig näher an die Tür, um besser zuhören zu können, ohne gesehen zu werden. Es interessierte ihn plötzlich brennend, was Frau und Tochter über ihn zu reden hatten. Dass die Tochter ihn Idiot genannt hatte, verschlug ihm bereits die Sprache.
»Ihm geht es mit seiner Geldgier gar nicht um uns. Er kann nur seinen Hals nicht voll genug bekommen!«
Die Mutter blickte traurig zu Boden. Sie hatte selbst ein paarmal in diese Richtung gedacht und insgeheim genauso empfunden. Niemals hätte sie sich getraut, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Dass ausgerechnet Vanessa nun diese Bedenken aussprach, war Frau Faber unangenehm.
»Schau, Vanessa, mir gefällt es ja ebenso wenig, dass er ausschließlich ans Geschäft denkt. Trotzdem darfst du nicht den Respekt vor deinem Vater verlieren und so über ihn reden. Was fällt dir denn eigentlich ...«
Vanessa ließ die Mutter nicht ausreden.
»Ich habe ihn vorhin gesehen, wie er unter einem Berg Gold und Edelsteinen begraben lag. Selbst wenn Vater einmal der reichste Mann der Welt wäre, würde er den Hals nicht voll kriegen und immer weiter und weiter nach noch mehr gieren. Wenn man von so manchem Menschen sein Geld abzöge, bliebe kaum etwas übrig - wie bei ihm. Ich kann nicht glauben, dass er jemals bemerkt hat, wie schön die Welt ist! Wenn er je auf dem höchsten Baum der Welt gewesen wäre, hätte er allenfalls daran gedacht, wie viel man mit dem Verkauf des Holzes verdienen könnte!«
Vanessa stoppte ihren Redeschwall, weil es laut gekracht hatte.
Die Porzellankanne mit dem Kaffee war der Mutter aus den Händen auf den Steinboden gefallen und zerbrochen. Der Kaffee spritzte bis in die hinterste Ecke der Küche. Die Mutter starrte Vanessa an. Mit einer Hand hielt sie sich am Tisch fest und langte mit der anderen nach einem Stuhl. Sie setzte sich, ohne einen Blick von ihrer Tochter zu lassen.
»Was redest du da vom höchsten Baum der Welt?«, fragte sie ganz leise. »Woher kennst du denn meinen Baum?«
»Ich war doch ganz oben und habe mich umgesehen ...« Vanessa starrte zurück, nachdem sie die Worte ihrer Mutter richtig begriffen hatte.
»Was meinst du mit deinem Baum?«
Die Mutter schien die Tischdecke zu betrachten. Nach einer Weile schaute sie auf und schüttelte mit fassungsloser Miene den Kopf.
»Wie meintest du eben?«
»Du hast gerade etwas von deinem Baum gesagt und ich würde gerne wissen, was du damit meinst?«, wiederholte Vanessa ihre Frage.
Sehr nachdenklich begann die Mutter zu erzählen: »Früher einmal, das ist, tja ... das ist schon eine ganze Weile her.« Die Mutter verzog den Mund. »Es gab da mal einen Baum, ich habe ihn immer meinen Freund, den Traumbaum genannt. Es gab ihn eigentlich gar nicht wirklich, bloß wenn ich den Alltag satt hatte, habe ich von meinem Baumfreund geträumt. Dann saß ich oben in seiner Krone und konnte so weit blicken, wie ich nur wollte. Dinge habe ich gesehen, das glaubst du nicht. Am faszinierendsten fand ich den Anblick vom Tadsch Mahal. Davon konnte ich mich gar nicht mehr von lösen. Darin wäre ich gerne mal herumgelaufen, aber es war ja nur in meinem Traum.«
»Von welchem Touch hast du geträumt?«
Die Mutter lächelte.
»Ach Gott, das ist ein Gebäude in Indien. Ich war ja nie dort, nur wenn ich in der Baumkrone saß, konnte ich es sehen - na ja, ich habe natürlich nur geträumt, dass ich es sehen konnte. An und für sich ist das egal. Ich habe mir von dort oben die ganze Welt ansehen können. Komisch, ich hatte mir geschworen, dass ich niemals niemandem davon ein Wort erzählen würde ... Was ist denn los, Vanessa, was guckst du denn so komisch?«
»Doppelte Verneinung, Fehler.«
»Was ist los?«
»Vergiss es, kriege ich nur immer in Deutsch vorgehalten. Nun weiß ich wenigstens, von wem ich das habe. Mir geht inzwischen ein Licht auf. Eine ganze Lichterkette sogar. Dann hat die Kröte dich gemeint mit dem Mädchen im Traumbaum.«
»Kröte? Welche Kröte?«, fragte die Mutter schaudernd.
»Mir hat die Kröte erzählt, dass ein Mädchen seit Jahren nicht mehr dort gewesen sei. Auf dem Baum. Dem Traumbaum. Jetzt fange ich so langsam an zu kapieren.«
Der Gesichtsausdruck der Mutter wirkte, als hätte sie ihr Lieblingshühnchen zu rupfen.
»Von welcher Kröte redest du nur?«
Vanessa sprach extrem langsam und laut.
»Die Kröte hat mir von einem Mädchen erzählt, das schon ewig lang nicht mehr im Traumland gewesen ist. Nein, Traumwald hat sie gesagt. Und eben jenes Mädchen wäre früher recht häufig dort gewesen. Ach du liebe Zeit ...«
»Was ist denn nun los?«
»Jetzt weiß ich plötzlich, woher ich das Lied habe! Egal. Auf jeden Fall, wenn du meinen - oder deinen Traumbaum kennst, musst du ebenso die Kröte kennen, Himmeldonnerwetternochmal!«
»Nein, eine Kröte kenne ich nicht. Und von welchem Lied redest du?«
»Als ich oben auf dem Baum war, habe ich das Lied gesungen, von dem du mir erzählt hast, dass es mal dein Lieblingslied gewesen wäre. Die olle Schallplatte, die auf deinem völlig veralteten Plattenspieler liegt, der nicht mehr funktioniert.«
»Ach, far away?«
»Ja genau, das Lied kannte die Kröte von dem Mädchen damals. Du kennst sie wirklich nicht?«
»Nö, nur ein Hermelin. Das ist dir nicht zufällig begegnet, nein?«
Vanessa dachte angestrengt nach. An ein Hermelin konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern.
»Hermelin finde ich doof. Das ist Quatsch, ich habe noch nie ein Hermelin gesehen. Bloß solche Mäntel, die Kaiser und Könige (Gesindel, dachte Vanessa insgeheim) tragen, um zu protzen. Nee danke, Hermelin erinnert mich viel zu sehr an Schmuck und gierigen Größenwahn.«
Ganz versunken erzählten sich Mutter und Tochter die Erlebnisse im Traumwald und suchten nach Gemeinsamkeiten. Aber wenn zwei Menschen von ein und derselben Sache träumen, gibt es doch Unterschiede im Erleben. Selbst wenn zwei Menschen voneinander träumen, gibt es zwei unterschiedliche Fassungen.
Mutter und Tochter fanden reichlich Übereinstimmungen und ebenso viele Gegensätze. Und je länger sie redeten, desto alberner benahmen sich beide. Sie vergaßen über die Erlebnisse im Traumwald sogar die Zeit, kicherten und flüsterten, und schließlich lachte Vanessas Mutter.
»Gib mir doch bitte eins von den Brötchen, danke. Hmm, die duften wirklich köstlich. Ach ja, richtig, bevor ich es vergesse. Während du unter der Dusche standest, hat ein Junge aus deiner Klasse angerufen. Obwohl er ziemlich zurückhaltend klang, empfand ich seine Stimme nicht unangenehm. Nannte mich gnädige Frau, klingt gewählt, was? Muss ja ein richtig vornehmer Bursche sein. Mit einer beeindruckenden Diktion. Dir gewünscht - mir aber auch! Wie hieß der denn gleich? Ach ja, Dominik. Dominik Mittenzwei. Er fragte, ob er dich zum Wandertag abholen dürfe. Ich habe zugesagt. War das richtig?«
»Mittenzwey mit Ypsilon«, verbesserte Vanessa und spürte ihr Herz bis hinauf in die Haarspitzen pochen.
»Wer hört schon den Unterschied am Telefon heraus?«
2
Vanessas Vater hatte sich, als die Kaffeekanne auf den Boden gefallen war, erschrocken ein Stück in den Flur zurückgezogen und stand nun neben der Wohnzimmertür. Er hatte die Geschichte vom Traumwald mit angehört. Während Vanessa von der Szene erzählte, in der er von Gold und Edelsteinen begraben worden war, wurde ihm recht komisch im Bauch. Er selbst hätte sich niemals als raffgierig bezeichnet, sondern eher als geschickt und sehr geschäftstüchtig, zudem hatten letztendlich alle etwas davon, denn es fehlte ihnen - materiell - an nichts.
Er trat noch einige Schritte zurück und betrachtete im Spiegel der Flurgarderobe aufmerksam sein eigenes Gesicht. Er sah zwar mehrfach täglich in einen Spiegel, aber wann hatte er sich jemals wirklich und wahrhaftig in die Augen geschaut?!
Herr Faber war in diesem Anblick vertieft, als es genau in dem Moment an der Haustür klingelte. Er zuckte, als wäre er gerade aus finstersten Träumen erwacht, schüttelte erschrocken den Kopf und öffnete die Haustür.
Vor ihm stand ein Junge mit schwarzem Wuschelhaar, nannte seinen Namen und sagte, dass er zuvor telefoniert und angefragt hatte, ob er Vanessa zum Wandertag abholen dürfe.
»Komm herein, Dominik. Vanessa ist in der Küche. Da vorne rein.«
Vanessas Zuhause wirkte auf den ersten Blick bereits wohlhabender als die meisten Wohnungen, die Dominik bisher betreten hatte. Mehr als beeindruckt betrat er das Haus und schaute sich neugierig um. Herr Faber schob den Jungen sanft in die Küche.
»Besuch für dich, Vanessa!«, rief er.
Dominik fühlte sich unsicher - Vanessa überrumpelt. Mehr als ein »Hallo« brachten beide nicht heraus. Dominik entdeckte die zersprungene Kaffeekanne am Boden und den verspritzten Kaffee, der beinahe überall den Boden bedeckte.
Herr Faber schaute sich ebenfalls um.
»Feiert ihr hier Polterabend?«, fragte er, nachdem er nach mehrmaligem tiefem Durchatmen Dominik in die Küche gefolgt war.
Nun betrachtete er grinsend die Bescherung und wandte sich an Dominik. »Schmeißt ihr bei euch zu Hause auch mit Porzellan in der Gegend herum, oder geht es bei euch nicht ganz so umwerfend zu?«
Dominik schüttelte nur den Kopf.
Vanessas Vater öffnete die Tür zum Vorratsraum und griff nach Handfeger und Kehrblech.
»Wenn der junge Mann mir helfen möchte, den ganzen Salat wegzuräumen, wäre ich recht dankbar. Ach was, kann ich allein. So sind die Frauen!«
Dominik grinste und schickte sich an, zu helfen. Dies brachte nun wieder Vanessa und die Mutter auf den Plan. Kurz darauf waren die Scherben zusammengekehrt und nachdem die Reste von Kaffee und Kanne beseitigt worden waren, kochte Frau Faber Kakao. Drei Tassen standen schnell auf dem Tisch.
»Und was ist mit mir?«, fragte Vanessas Vater.
»Wolltest du nicht unbedingt ins Geschäft?«, erinnerte ihn seine Frau.
Dominik betrachtete bekümmert die Tasse, die vor ihm auf dem Tisch stand. Das klang gehörig nach Familienkrach, dachte er beunruhigt.
»Wenn Sie meine Tasse haben möchten, ich habe schon gefrühstückt.«
Herr Faber nahm zur Verwunderung von Frau und Tochter seelenruhig wieder mit am Tisch Platz.
»Danke, Dominik. Aber ich hätte lieber einen Kaffee, sofern sich das einrichten ließe. Allerdings«, mit Seitenblick auf seine Tochter, »gibt es bei uns heute leider keine Brötchen.«
Vanessa wäre am liebsten in ihrem Kakao untergetaucht.
»Brötchen sind kein Problem.«
Aus seinem abgestellten Rucksack beförderte Dominik eine große Stofftasche ans Licht und öffnete sie. In der Tüte waren zahlreiche Mehrkornbrötchen zu erkennen.
»Hat mein Vater selbst gebacken«, erklärte er stolz.
»Die schmecken wirklich toll. Solche Brötchen hatte Dominik auch letztes Jahr beim Wandertag dabei. Davon habe ich eins probieren dürfen«, verriet Vanessa.
Schließlich standen Kaffee, Kakao, Butter, Marmelade und Nugatcreme neben den selbst gebackenen Brötchen auf dem Tisch, sowie vor jedem Frühstücksbrettchen ein gekochtes Ei im Eierbecher. Verschiedene Sorten Wurst und Käse hatte Vanessa aus dem Kühlschrank geholt. Dominik staunte Bauklötze, was hier alles wie selbstredend zum Frühstück auf dem Tisch lag.
»Nun lang ordentlich zu, Dominik. Es ist genug da. Oder fehlt irgendetwas?« Die Mutter schaute suchend auf den Tisch.
»Ich habe schon sehr lange nicht mehr so viele Sachen auf einem Frühstückstisch gesehen«, gestand Dominik leise. »Nein, stimmt ja gar nicht. Heute Morgen haben wir ein richtig deftiges englisches Frühstück gegessen.«
»Mit gebackenen Bohnen und Speck? Hui! Frühstückt ihr immer so aufwendig?«, fragte Vanessa interessiert.
»Nein, eigentlich nicht. Ich sage es lieber gleich«, erklärte Dominik und sein Gesicht sah aus, als ob er Schmerzen hätte. »Wir haben nicht so viel Geld, und die meisten Leute können mich deshalb wohl auch nicht leiden, manche nennen mich ...«
Vanessa unterbrach ihn heftig: »Was die andern sagen, ist völlig gleichgültig. Ich finde dich nett und mir ist es völlig wurscht, ob ihr Geld habt oder nicht. Dafür bist du viel klüger als die meisten und ich danke dir außerdem noch ganz herzlich für deinen Tipp.«
Dominik dachte angestrengt nach.
»Welchen Tipp?«, wollte er schließlich wissen, denn er hatte ja keine Ahnung von Vanessas Traum.
»Na, dass man erst mal nachdenken sollte, bevor man irgendetwas anfängt. Das hat mir sehr geholfen.«
»Na ja«, meinte Dominik verlegen. »Das ist eigentlich keine Idee von mir, sondern von Erich Kästner, weißt du. Der hat das in seinen Büchern immer wieder geschrieben.«
»Stimmt«, warf Herr Faber ein. »Mut beweist man nicht mit der Faust allein, sondern mit dem Kopf. Das ist aus Emil und die Detektive, nicht wahr? Ich habe die Bücher als Junge sehr gern gelesen.«
»Die kann man sogar als Erwachsener prima lesen. Ich mag es ganz besonders, wenn Papa mir vorliest.«
»In deinem Alter lässt du dir noch vorlesen?«, fragte Herr Faber lächelnd.
»Ja, seit Mutter tot ist, macht er das öfter und ich finde es toll.«
Das Lächeln im Gesicht von Herrn Faber gefror. Nur rein ins Fettnäpfchen, dachte er.
»Du hast keine Mutter mehr? Das tut mir leid«, meinte Frau Faber. »Wie kommt ihr denn alleine zurecht? Habt ihr eine Hilfe?«
»Pustekuchen, wovon denn? Papa geht nach der Arbeit selber putzen, damit wir wenigstens ein bisschen dazu verdienen. Den Haushalt erledigen wir gemeinsam. Das macht aber auch Spaß.«
»Na, erzähl das mal der Vanessa. Unsere Prinzessin hält sich in solchen Dingen vornehm zurück«, kritisierte Frau Faber.
Vanessas Gesicht nahm automatisch die Farbe eines gekochten Hummers an.
»Ich mag es nicht, wenn du Prinzessin zu mir sagst. Außerdem dachte ich, wir seien Freundinnen.«
»Das sind wir doch auch. Und nicht nur wegen des Baumes.«
»Baum?«, fragte Dominik.
»Das ist ein Geheimnis unter Frauen«, blockte Frau Faber ab.
»Das sind Dinge, die werden wir Männer nie ergründen«, räumte Herr Faber ein. »Ist einfach hoffnungslos. Liest dir dein Vater viel vor? Also oft, meine ich.«
»Na ja, wenn er nicht zu müde ist nach der Arbeit.«
»Und was machst du sonst, wenn du alleine bist? Hast du eine Lieblingssendung im Fernsehen?«, fragte Frau Faber.
»Nein, so etwas haben wir nicht. Brauchen wir auch nicht unbedingt.«
»Hui, Prinzessin«, warf der Vater begeistert ein. »Stell dir nur mal vor, kein Fernsehen.«
»Du sollst mich auch nicht so nennen!«
»Entschuldige bitte. Aber ich finde das toll. Stellt euch vor, wenigstens mal einen Abend ohne sich irgendeinen Stuss in der Kiste anzusehen.«
»Wer stellt das Gerät denn immer an? Du doch wohl«, warf Frau Faber ihrem Mann vor.
»Nur wegen den Nachrichten«, winkte Herr Faber ab.
»Der«, verbesserte Vanessa.
»Wie bitte?«
»Es heißt wegen der Nachrichten.«
»Besserwisserin.«
Dominik rutschte auf dem Stuhl hin und her. Wäre er nur nicht hierher gekommen. Wegen ihm stritten sich die Eltern nun mit Vanessa. Und das alles nur wegen des doofen Fernsehens.
»Ich habe einen tragbaren Apparat in meinem Zimmer«, bot Vanessa an. »Wenn du den haben willst, schenke ich ihn dir gerne.«
»Danke. Das ist sehr nett von dir, aber wir wollen keinen haben. Wenn man sich einen Film ansieht, dann läuft das vor den Augen ab, ohne dass man sich irgendetwas selbst dabei vorstellen kann - nur hinschauen und einschlafen. Wenn du stattdessen liest oder vorgelesen bekommst, musst du die Worte ganz für dich allein in Bilder umsetzen, musst aufmerksam dranbleiben, das ist wesentlich interessanter.«
»Klingt eigentlich ganz schlüssig«, stimmte Vanessa zu. »Magst du Karl May und Winnetou?«
»Ach, nee. So ein kleiner Junge bin ich nun auch nicht mehr«, antwortete Dominik lächelnd.
»Komisch, ich habe die Dinger gerne gelesen«, sagte Vanessas Vater. »Vielleicht ist ja deswegen bei mir etwas schiefgegangen.«
»So habe ich das nicht gemeint«, entschuldigte sich Dominik und wirkte äußerst betreten.
»Das ist gar kein Problem, Dominik.« Nachdenklich sah Herr Faber von einem zum anderen und nickte. »Dass die Menschen sich gegenseitig helfen sollten, ist ja letztendlich besser als nur herumzuknallen. Ich erinnere mich wieder, tja. Renate, weißt du noch, der Fabian?«
Frau Faber blickte scheu zu den beiden jungen Leuten.
»Also weißt du!«
»Ich habe den Fabian ebenfalls gelesen«, flocht Dominik ein. »Die Formulierungen sind köstlich. Ich habe wahrscheinlich auf jeder Seite mindestens einmal etwas zum Lachen gefunden.«
»Ich finde nicht, dass dieses Buch eine gute Lektüre für einen Jugendlichen ist«, bekundete Frau Faber.
»Was ist denn das für ein Buch?« Vanessa hatte als Einzige keine Ahnung.
»Ein ganz klein wenig anrüchig ist das Buch von Herrn Kästner schon«, schmunzelte Herr Faber. »Aber wenn ich bedenke, was in den diversen Heften am Kiosk abgebildet ist, glaube ich, dass das Buch nur halb so schlimm sein dürfte.«
Herr Faber biss sich einen Moment auf die Unterlippe, dann wandte er sich mit geradem Blick an Dominik.
»Dein Vater scheint ein moderater Mensch zu sein. Mir ist aufgefallen, dass du immer von deinem Vater und dir sprichst. Trete ich dir zu nahe, wenn ich gerne wissen würde, warum es euch beiden im Augenblick nicht so gut geht? Vielleicht kann man euch irgendwie helfen?«
Die netten Worte und die freundliche Atmosphäre flößten Dominik Vertrauen ein.
»Früher, als meine Mutter lebte, da ging es uns besser. Sie wurde leider sehr schlimm krank, und nachdem sie gestorben war, hatte mein Vater sehr hohe Schulden bei Ärzten und Krankenhäusern und so. Erst hat man uns Papas Geschäft abgenommen und dann das Haus, in dem wir wohnten. Daran kann ich mich gar nicht erinnern, ich war noch sehr klein und ging in den Kindergarten. Und mit dem Geld, das er heute als Arbeiter verdient, müssen wir sehr sparsam umgehen. Man gewöhnt sich mit der Zeit daran. Wir müssen eben jeden Cent zweimal umdrehen, ehe wir ihn ausgeben.«
Dann erzählte Dominik, was er mit seinem Vater trotzdem alles unternahm. Und dass sie viele wunderschöne Tage zusammen erlebten, die nicht mal was kosteten. Vanessa wurde richtig neidisch auf ihn und sagte das auch.
Herr Faber stellte die Kaffeetasse klirrend auf die Untertasse und stand vom Tisch auf. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
»Ich glaube, ich bin ein ziemlicher Idiot gewesen«, verkündete er zur Überraschung seiner Familie und lächelte.
»Also weißt du ...« Frau Faber schüttelte den Kopf.
Er trank einen Schluck Kaffee im Stehen.
»Plötzlich fallen mir so viele Dinge ein, die ich nie vernachlässigen wollte. Ich hatte mir immer vorgenommen, so zu sein und zu handeln wie die klugen Menschen in den Büchern. Da ist irgendetwas schiefgegangen, wie gesagt. Aber die Erinnerung kommt wieder mitsamt all meiner guten Vorsätze!«
Er rieb sein Kinn und nippte nochmals am Kaffee. »Ja! Ja, das könnte klappen«, murmelte er selbstvergessen.
Frau Faber rührte den Kakao.
»Würdest du uns an deiner Weisheit teilhaben lassen? Natürlich nur, wenn es dir nicht zu viel Mühe macht. Oder handelt es sich um ein größeres Geheimnis?«
Der Vater verneigte sich leicht.
»Freunde, Brüder, Landsleute ... ich habe einen Plan.« Bedeutungsvoll schaute er in die Runde und fuhr dann fort: »Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass ihr heute keine Schule habt, sondern, bevor der Sommer um ist, Wandertag?«
Zwei Jugendliche am Tisch nickten. Eine Frau schüttelte den Kopf - sie hatte ja schließlich keinen Wandertag.
»Ich mache folgenden Vorschlag: Ich fahre euch beide gleich mit dem Wagen zur Schule. Ihr verbringt den Tag in Gottes freier Natur - möglichst ohne Blessuren. Und wenn ihr aus dem Gelände zurückgekehrt seid, ziehen wir einen bomfortionösen Wandertag-Grill-Futterabend durch. Im Wald kenne ich eine Forsthütte, da gibt es einen befestigten Grillplatz. Den Förster, dem sie gehört, kenne ich seit dem Kindergarten. Das heißt, damals war selbstverständlich noch dessen Vater der Förster. Wir haben als junge Burschen dort öfter mal Unsinn getrieben.«
»Unsinn?«, interessierte sich Vanessa brennend.
»Habe ich Unsinn gesagt? Hups, ich meinte selbstverständlich ... ähm.«
Die Mutter bemühte sich redlich, das Lachen zu unterdrücken.
»Nun lach doch nicht so lächerlich! Ruhe auf den billigen Plätzen! Wie soll ich das dem Kind erklären?«
»Na ja. Vielleicht kann sie es dir ja erklären.«
»Was ist los?« Der Vater schaute von Vanessa zu Dominik und dann zur Ehefrau zurück. Auf eine derartige Idee hatte er überhaupt nicht kommen wollen. Lange würde es wirklich nicht mehr dauern, bis die jungen Leute ... Nur wusste er selbst im Augenblick nicht so genau, ob ihm die Situation nun peinlich sein sollte oder nicht.
»Ich werde gleich mal anrufen, ob wir die Erlaubnis zum Grillen in der Hütte bekommen. Und wenn Sepp Nein sagt, kaufe ich ihm den Schuppen ab.«
Damit verließ er die Küche, und die drei blieben ziemlich verdutzt am Tisch sitzen.
Vanessa betrachtete bei dem Gedanken an eine Hütte mit Feuerstelle (und vielleicht gar mit Knochengrube?) im Wald sorgenvoll ihre Fingernägel.
»Was ist denn mit dem passiert?«, fragte sie.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete die Mutter. »Er ist ja wie ausgewechselt. Ein Feiertag mitten in der Woche, einfach so? Vor allem wenn Mailand vor der Tür steht. Unfassbar!«
»Was steht vor der Tür?«, erkundigte sich Dominik.
»Mailand! Heute wird im Geschäft eine neue Kollektion aus Mailand vorgestellt. Italien - kapiert?«, erklärte Vanessa.
»Ich weiß schon, wo Mailand liegt. Ja und?«
»Vorhin hat es einen Mordskrach gegeben«, erzählte sie weiter. »Ich sollte nämlich Brötchen holen. Und mir ist die Zeit weggelaufen. Papa hatte es auch eilig. Und nun sitzt er hier seelenruhig bei uns, will uns sogar zur Schule fahren. Und heute Abend will er grillen. So etwas hat es bei uns sonst nie gegeben.«
»Wer weiß«, sagte Dominik. »Vielleicht hat er schlecht geträumt?«
Mutter und Tochter schauten sich an.
»Können Träume eigentlich wahr werden oder in der Realität wirken?«
»And I’m far, far away ...«, sang Vanessas Vater, während er in die Küche trat und entgeisterte Blicke spürte.
»Was meintest du?«
»Ach nix. War mal unser Lieblingslied, weißt du noch, Renate? Dauernd den Kopf voller Flausen, hehe. Dabei immer schön auf dem Teppich bleiben.«
3
Herr Faber erläuterte den so unerwartet auf die Tagesordnung gebrachten Plan für den Nachmittag und Abend.
»So, meine lieben Freunde, das wäre angeleiert. Den Schlüssel für die Hütte kann ich nachher beim Sepp abholen. Sepp heißt an und für sich Josef. Aber weil er stets in Loden gekleidet, mit Gamsbart am Hut herumläuft, nennen wir ihn nur Sepp. Bestimmt kommt er heute Abend auf einen Sprung in seiner Hütte vorbei. Sprung ist gut. So wie ich ihn kenne, müssen wir auf jeden Fall genug zu trinken vorrätig haben. Der säuft wie eine rumänische Bergziege.«
Alle lachten, obwohl keiner der vier jemals eine rumänische Bergziege persönlich hatte saufen sehen.
»So, kommt, ich bringe euch zur Schule. Wir sind schon ziemlich spät dran. Dann fahre ich in den Laden. Mal sehen, wie schnell ich Enzo abwimmeln kann, der will hinterher nämlich ein wenig feiern.«
»Ach so«, spöttelte Vanessas Mutter, »feiern!«
»Natürlich nicht wirklich feiern. Wir essen eine Kleinigkeit und stoßen mit einem Glas Rosé auf die guten Geschäfte an. Das soll heute mal der Schlüter übernehmen. Wenn ihr mit euren Klassenkameraden durch die Gegend gewandert und gegen Mittag wieder zu Hause seid, fahren wir gemeinsam zum Grillen hinaus. Da kann bestimmt auch dein Vater mitkommen, Dominik. Wie lange dauert sein Schichtdienst heute?«
»Kommt darauf an, wie er rauskommt. Um halb zwei bis zwei Uhr müsste er eigentlich zu Hause sein.«
»Dann muss ich gleich mal telefonieren. Mutter und ich fahren nachher gemeinsam einkaufen. Alles, was man für ein zünftiges Grillfest braucht wird ins Auto gepackt. Würstchen, Steaks, Koteletts, Maiskolben, Cola und was weiß ich. Ach ja, und selbstverständlich für uns Väter einen Kasten Bier. Sepp ist auch Vater. Und am Abend zünden wir Lampions an. Haben wir nicht die Schlafsäcke auf dem Speicher? Super, die nehmen wir mit und übernachten gemeinsam in der Hütte. Ist das ein guter Vorschlag? Oder ist das ein sehr guter Vorschlag? Wer dafür ist, bleibt sitzen.«
Strahlende Gesichter waren die eindeutige Antwort. Bis Dominik zweifelnd schaute.
»Aber mein Vater ... Ich kann nicht so einfach wegbleiben. Wenn ich nicht nach Hause komme, wird er sich Sorgen machen - wir haben kein Telefon.«
Große Enttäuschung trat in seine und Vanessas Augen. Gerne hätte sie die Stunden nach dem Wandern mit ihren Eltern, Dominik und dessen Vater gemeinsam verbracht. Alles Mist.
»Junge, du hast nicht zugehört. Ich habe vorhin gesagt, dass ich telefonieren werde. Mit seiner Firma. WelcheFirma ist denn das überhaupt? Wäre nicht schlecht zu wissen, wo dein Herr Papa arbeitet?«
»In Meyers Brotfabrik.«
»Na also, nix wie hin«, meinte Herr Faber und stand unternehmungslustig auf.
Dominik biss sich auf die Unterlippe.
»Mein Vater mag es nicht, wenn ich dort auftauche und störe. Er sagt immer, das würde keinen guten Eindruck machen.«
Herr Faber schmunzelte.
»Meyers Brotfabrik, wie? Den Laden kenne ich. Das ist dort nicht unbedingt die schlechteste Einstellung. Ich kenne den Firmengründer Eugen Meyer. Mach dir mal keine Sorgen, Dominik. Ich werde diplomatisch vorgehen, ohne deinem Vater zu schaden. Ganz im Gegenteil. Wir wollen mal sehen, ob ich für ihn nicht etwas tun kann. Der Sohn vom ollen Eugen, der Franz Meyer, wird die Brotfabrik sowieso bald übernehmen, habe ich gehört. Den Franz kenne ich seit dem Gymnasium. Ich werde nachher mal mit ihm reden. Wäre doch gelacht, wenn das nicht klappen würde. So, Herrschaften, auf geht’s!«
»Hast du keine wetterfesten Sachen mit, Dominik?«, wollte Frau Faber wissen.
»Nein, denn das Wetter ist herrlich. Wozu soll ich mich damit abschleppen?«
»Ich nehme das Zeug auch nicht mit! Und wenn du dich auf den Kopf stellst«, sagte Vanessa bestimmt.
Herr Faber lachte. »Das würde ich auch gerne mal sehen.«
Dominik traute sich kaum, in den glänzenden Mercedes einzusteigen.
»Wie gefällt dir Bordeaux-Metallic, Dominik?«, fragte Herr Faber.
»Sieht toll aus!«
Graue Lederpolster versprachen bequemen Sitzkomfort. Die Klimaanlage hielt konstant die Temperatur im Wagen.
Dass solch ein Luxus für Vanessa vollkommen normal sein sollte, erschien Dominik absolut unbegreiflich. Am Schulgebäude angekommen, stiegen sie aus. Als Dominik die Fondstür schließen wollte, bekam er einen gehörigen elektrischen Schlag.
»Autsch!«
Vanessa lachte. »Das haben diese sündteuren Kisten recht oft. Im Dunkeln kann man manchmal sogar Funken schlagen sehen. Müssen wir heute Abend unbedingt mal testen.«
»Macht es gut, ihr zwei. Viel Spaß und bis später.«
Der Mercedes summte davon.
Dominik blickte ihm hinterher.
»Deine Eltern müssen wirklich reichlich Geld haben. Du meine Güte.« Er seufzte hörbar.
»Was geht uns das an?«
»Na hör mal. Ich kann dir nicht mal ein Eis spendieren.«
»Meinst du denn, das wäre wichtig?«
»Für mich, ja. Ohne Geld ist alles viel schwieriger.«
»Wenn ich dich richtig verstehe, bin ich nur etwas wert, weil meine Eltern Geld haben? Das hätte ich jetzt nicht von dir gedacht, Dominik!« Sie hielt den Talisman fest in der Hand.
Dominik schaute sie völlig erschrocken an.
»Nein, nein! Genau anders herum. Mich kann keiner leiden, weil wir arm sind.«
Eine Pause entstand. Eine nachdenkliche, bedrückende Pause.
»Ich kann dich sehr gut leiden, Dominik.«
»Und ich dich erst mal, Vanessa!«
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. Sonderbarerweise vergaß er, sie wieder loszulassen. Und Vanessa schien dies nicht unangenehm zu finden.
4
Der elegante, fabrikneu wirkende bordeaux-metallic lackierte Mercedes 500 SE erhielt beim Pförtner am Haupttor der Brotfabrik Meyer auffallende Beachtung. Er fragte, ständig Verbeugungen andeutend, nach Herrn Fabers Begehr.
Dieser reichte eine Visitenkarte aus festem Bütten durchs Seitenfenster.
»Ich würde gerne den Juniorchef aufsuchen, wir haben gerade telefoniert.«
»Wenn Sie bitte dort auf dem freien Platz parken würden, ich melde Sie derweil an.«
»Besten Dank, mein Guter.«
(Merke: Pförtner, die sich wichtig vorkommen, schätzen solch plumpe Vertraulichkeiten selten. Und wenn ihnen unbekannte, recht wohlhabend wirkende Chefbesucher ein ›Mein Guter‹ an den Kopf werfen, gefrieren Pförtner mitunter zu Eis. Natürlich ohne sich etwas anmerken zu lassen. Meinen sie wenigstens.)
»Junge, Junge, was hast du denn mit unserem Krämer angestellt?«, fragte der Juniorchef Franz Meyer wenig später seinen Freund Robert Faber.
»Wer ist Krämer?«
»Unser Urgestein am Haupttor. Seiner Stimme nach zu urteilen, hast du zumindest eine gravierende Kopfgrippe.«
»Nö, ich war eigentlich ganz freundlich.«
»Freundlich oder überheblich?«
»Das ist ja wohl eine Standpunktfrage.«
»Magst du was?«, fragte Franz den Freund. »Wir haben uns lange nicht gesehen.« Er trat zu einer Regalwand voller Aktenordner.
»Willst du mir jetzt deine diversen Geschäftsberichte vorlesen?«
»Keineswegs. Die Akten sind Camouflage. Damit mein Oller seine Freude an mir hat. Die Aktenrücken hier unten sind nur auf einen Kühlschrank aufgeklebt. Immer noch Whisky mit Eis? Oder lieber etwas Anständiges?«
»Whisky ist durchaus etwas Anständiges. Was hast du sonst im Angebot?«
Franz Meyer schloss den Kühlschrank, zog zwei dickbauchige Cognacschwenker hinter drei zusammengeklebten Aktenrücken aus dem Regal hervor und eine kleine dunkle Flasche, einem Boxbeutel ähnlich. Er zog den Korken heraus und goss die bernsteinfarbene Flüssigkeit elegant in die Gläser.
Robert ergriff eines der beiden Gläser. Die Männer setzten sich an den weitläufigen niedrigen Tisch an der Fensterfront, die vom Boden bis zur Decke reichte. »Prost.«
»Santé«, sagte Robert Faber. »Mein lieber Schwan. Was ist das denn? Boah!« Er schnupperte das Bouquet.
Der Brotfabrikerbe schmunzelte stolz.
»Du bist doch auch 1969 geboren? Der Cognac ist ein Vierteljahrhundert älter als wir, mein Bester. Hat mein alter Herr nach dem Krieg billig geschossen. Er war damals als Zollbeamter für Schmuggelware verantwortlich. Nichts Gutes für die Besiegten, weißt du. Das Zeug sollte tunlichst vernichtet werden. Und er hatte sich überlegt, stattdessen lieber ein paar Kanister Benzin zu verbrennen. Hat kein Sieger gemerkt. Ging ohnehin damals alles drunter und drüber.«
»Und was ist das?«
»Hier, lies selbst.« Franz reichte Robert die Flasche.
Der goss sich einen Schluck nach, nippte und las vor. »Armagnac, Napoleon 1945. Du liebe Zeit. J. Duperon, Condom. Was heißt Condom?«
»Sonderbare Frage. Ich kenne nur die Dinger aus Gummi. Vielleicht heißt es ja Behältnis. So what?« Franz Meyer nahm die Flasche und stellte sie behutsam auf den Tisch. »Das Zeug müsste man siezen, was?«
»Genau«, pflichtete Robert bei.
»Also trinke mit Bedacht, in diesem Armagnac liegt Segen. Ich habe nur noch vier Flaschen. Für besondere Gäste.«
»Schmuggelware. Und ich dachte, ihr wärt eine ehrliche Firma.«
»Sind wir ja auch. Aber wenn einem doch der Zufall solch eine Köstlichkeit schon vor die Füße legt. Sonst hätte es jemand anders gemacht. Apropos, was führt dich her?«
»Einer eurer Mitarbeiter.«
»Eijeijei.«
»Nix eijeijei. Einer eurer Mitarbeiter ist ein armes Luder, dem ich gerne helfen würde.«
»Ach du liebe Zeit, spielst du bis zum heutigen Tag Robin Hood?«
»Ja. Nein. Möglicherweise.«
»Ich bin der Ansicht, als Geschäftsmann muss man schnell erwachsen werden, um über Wasser zu bleiben.«
»Soll mich das denn daran hindern, jemandem, der in Not ist, zu helfen?«
»Nein, ist ja okay«, schwächte Franz ab. »Ist zumindest gut fürs Gewissen. Um wen geht es denn?«
»Mittenzwey. So heißt der Mann.«
»Kenne ich nicht, nie gehört. Was soll’s? Sind nicht alle Arbeiter auf eine gewisse Art arme Socken?«
»Mag durchaus zutreffen. Es kann ja nicht jeder ein Fabrikerbe sein.«
»Stimmt, das wären auch zu viele«, lachte Franz. »Wie war der Name?«
»Mittenzwey!«
Franz Meyer trat zu seinem Schreibtisch. Er drückte auf einen Knopf an der Telefonanlage.
»Elsie, sagen Sie bitte dem Mayer aus der Personalabteilung, er soll mir jemanden mit einer Liste unserer Beschäftigten heraufschicken.« Er schaute Robert Faber an und hob die Augenbrauen. »Nein, ich glaube, nur die Listen der einfachen Arbeiter, nicht die der Angestellten. Ja, danke.«
Kurze Zeit später betrat ein ergeben wirkender Mann das Büro des Juniorchefs.
»Guten Tag, Herr Direktor. Ich bringe Ihnen die gewünschten Listen. Ich bin in unserer Abteilung für die einfachen Arbeiter zuständig. Wenn Sie mir freundlicherweise sagen würden, über welche Person Sie genau ins Bild gesetzt werden möchten, ginge dies wesentlich schneller, als wenn Sie persönlich die Akten studieren.«
»Sagen Sie bloß, Sie kennen die alle?«
»Das gehört zu meinen Aufgaben, Herr Direktor.«
»Mittenzwey. Was ist das für ein Mann, dieser Mittenzwey?«
Der Büromensch überlegte kurz, blickte nicht mal in seine Akten.
»Guter Mann, recht zuverlässig, eigentlich.«
»Aber?«
»Herrn Mittenzweys finanzielle Situation schaut ziemlich betrüblich aus - Lohnpfändung und so weiter. Außerdem wirkt er häufig etwas abgespannt, wie soll ich sagen, so hundemüde. Trotzdem ist er ein guter, ein sehr zuverlässiger Mann, Herr Direktor.«
»Ich danke Ihnen für die Auskunft.«
Der Angestellte verließ leise den Raum.
»Einen Moment noch!«, rief Herr Faber ihm hinterher. »Wie hoch sind seine Bezüge?«
»Pardon?«
»Wie viel verdient dieser Mittenzwey?«, fragte nun Franz Meyer.
»Das liegt an der Höhe der Bandproduktion, Herr Direktor. Wir zahlen Akkordlöhne.«
Wir, sagt die schleimige Wanze, dachte der Juniorchef.
»Zwischen dreizehn- und vierzehnhundert Euro.«
»In der Woche?«
»Selbstverständlich im Monat, Herr Direktor«, berichtigte der Aktenmensch mit verbindlichem Lächeln.
»Wie viel macht das jetzt brutto - so in etwa?«
»Das ist brutto, Herr Direktor. Allerdings wird der Lohn nur bis zur Pfändungsgrenze ausgezahlt, das sind, je nach Akkord, knapp tausend Euro. Wenn Sie es genau wissen möchten, müsste ich in der Tabelle nachsehen, Herr Direktor.«
»Danke, ist schon in Ordnung. Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Herr Direktor.«
Die Tür wurde absolut geräuschlos geschlossen.
»Schleimer.«
»Aber, Franz, der kann doch nichts dafür, dass du so schlecht zahlst. Wie kann man von knapp tausend Euro im Monat leben?«
»Davon kann man nicht mal ordentlich scheißen gehen.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Mein lieber Robert, ich habe keine Ahnung. Auf gar keinen Fall kann ich die Löhne heraufsetzen. Ich bin doch nicht die Gewerkschaft. Du weißt, ich war immer Sozialist, solange es mich nichts kostet. Wenn ich jetzt Unsinn treibe, schmeißt mein Alter mich hochkantig raus. Dafür habe ich nicht die Zeit hier abgesessen.«
»Beruhige dich, Franz. Ist ja okay. Ich habe selber Angestellte, ich kenne das Problem.«
Beide tranken zwei Schluck - somit jeder einen.
»Also mal unter uns, wenn der Mann bei uns am Band steht, für die paar Mücken, dann kann es mit ihm ja nicht weit her sein. Ich meine hier.« Franz Meyer tippte mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.
»Soweit ich das mitbekommen habe, ist er Witwer, hat einen Sohn und ist hoch verschuldet.«
»Woher kennst du ihn?«
»Der Sohn geht mit meiner Tochter in eine Klasse. Der Junge macht einen recht guten Eindruck. Hat mir von seinem Zuhause erzählt und mein Mitleid erregt.«
»Werde erwachsen, Robert. Manche Menschen haben nun mal einfach kein Glück. Wenn man nur wüsste, was der Mann kann?«
»Prima Brötchen backen.«
»Was?«
»Herr Mittenzwey backt daheim selbst vorzügliche Brötchen. Wirklich lecker, kommt euer Pappendeckel nicht mit, mein Guter.«
»Danke für die Blumen, mein Bester. Woher weißt du, dass Mittenzweys Brötchen so toll sind?«
»Sein Sohn hat uns heute Morgen welche mitgebracht. Sie sind ausnehmend gut.«
Franz Meyer erhob sich und ging zum Schreibtisch.
»Ich glaube, ich habe eine Idee.«
Er drückte den Knopf an der Sprechanlage.
»Elsie! Rufen Sie mir bitte einen Mitarbeiter herauf. Mittenzwey heißt der. Arbeitet am Band.« Er ließ den Kopf gedrückt und wandte sich an Robert. »Hat der gerade Schicht?«
»Soweit ich informiert bin, noch eine knappe Stunde.«
»Ja, muss auf Schicht sein. Danke, Elsie.«
Er nahm im Chefsessel am Schreibtisch Platz.
»Schauen wir uns den Herrn mal an.«
5
Herr Mittenzwey betrat das Direktionsbüro mit einem unguten Gefühl im Bauch. Wenn die Chefs sich um einen kleinen Arbeiter kümmern, ist meist etwas Unangenehmes vorgefallen.
Er stand vorm Schreibtisch des Chefs. Ein sehr schlanker, beinahe hagerer Mann von über eins fünfundachtzig. Kurzes schwarzes Haar unter der weißen Bäckerkappe. Um ihn herum staubte es ein wenig auf den Teppichboden.
»Nehmen Sie bitte Platz, Herr Mittenzwey«, bot der Direktor an.
»Sehr gerne, aber ich rate ab. Denn sehen Sie, nun ja, meine Mehlklamotten hinterlassen auf Ihren schwarzen Polstern sicherlich sonderbare Muster.«
»Egal, kann man wegwischen. Nun setzen Sie sich schon. Sie machen mich sonst nervös. Möchten Sie einen Cognac?«
»Danke, nein. Ich trinke nur sehr selten Alkohol. Was ist geschehen, Herr Direktor?« Irgendwann muss es ja doch sein, dachte sich Herr Mittenzwey. Dann lieber gleich.
Vanessas Vater schaltete sich ein.
»Sie kennen mich noch nicht, Herr Mittenzwey. Mein Name ist Faber, ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Herr Mittenzwey schaute von einem zum anderen. »Ja?«
»Es geht um Ihren Sohn und meine Tochter.«
O Gott, dachte Herr Mittenzwey. Was mag der Bengel angestellt haben, dass der Vater dieses Mädchens mich hier aufsucht? Unterlassene Aufsichtspflicht? Ogottogott!
»Was ist geschehen?«
»Du lieber Himmel, Sie zittern ja wie Espenlaub, Herr Mittenzwey. Ihr Sohn hat heute Morgen meine Tochter abgeholt zum Wandertag in der Schule.«
»Wandertag, ja ich weiß. Um Himmels willen, was ist geschehen? Ist den Kindern etwas passiert? Nein, nicht auch noch Dominik!«
Vanessas Vater griff nach seinem Glas.
»Nun trinken Sie erst mal einen Schluck. Nichts ist vorgefallen. Ganz im Gegenteil. Prost.«
Herr Mittenzwey nippte, ohne die Köstlichkeit des Getränkes zu bemerken. Er hustete.
»Welch eine Verschwendung«, maulte Franz Meyer. »Lass mich mal, Robert. Sie backen zu Hause Brötchen und Brot, habe ich gehört.«
»Ja, für den Hausgebrauch. Ist das verboten?« Nun spürte Herr Mittenzwey das Entlassungsgespenst in seinem Nacken.
»Nein. Jetzt haben Sie doch nicht so viel Bammel in der Hose, mein Gott! Nein, so meinte ich das nicht. Sie arbeiten mit verschiedenen Rezepten, nehme ich an?«
»Ja, schon. Je nach Lust und Geschmack.«
»Haben Sie Spaß am Experimentieren? Ich rede vom Backen.«
»Ja, sicher. Das ist ein Faible von mir. Ich verstehe nur nicht, was das mit meinem Sohn zu tun hat. Hat er etwas ausgefressen? Hat er Ihrer Tochter etwas angetan? Lassen Sie die Katze endlich aus dem Sack, Herr Faber.«
»Die beiden haben gemeinsam was getan. Beziehungsweise sind sie noch dran am tun.«
»Du bist der alte Robert geblieben«, lachte Franz Meyer. »Die Kuh am Schwanz am Stall am raus am tun.Deutsch fünf. Setzen!«
»Was ist los!?« Herr Mittenzwey hatte ganz offensichtlich die Nase voll, da er keine Ahnung hatte, was hier vor sich ging.
Robert Faber hob beschwichtigend die Hände.
»Los ist, dass Ihr Sohn Dominik und meine Tochter Vanessa gerade dafür sorgen, dass Sie bei meinem Schulfreund Franz Meyer einen anderen Arbeitsplatz angeboten bekommen. Wenn ich richtig verstehe in der Entwicklung für oder von Rezepten.«
»Entwicklungsabteilung. Na, Herr Mittenzwey, wie wäre das?«
»Ich habe, ehrlich gesagt, kein einziges Wort verstanden.«
DER SCHLUSS
Die Männer prosteten sich zu, indem sie die Flaschenböden sanft gegeneinanderstießen und tranken das Bier direkt aus den Flaschen.
Das Grillen vor der Hütte war beendet, Würstchen, Koteletts und Steaks waren verspeist. Zwei verwaiste Folienkartoffeln verkohlten langsam in der Glut.
Sepp hatte dem Bier wie üblich zu reichlich zugesprochen, und sein Hut mit Gamsbart war ihm langsam in den Nacken gerutscht. Schließlich hatte er seinen Schlafsack aus dem Geländewagen gezogen, ihn nahe zur Glut hin ausgerollt und kroch nun hinein.
»Servus beieinand«, gab er müde von sich und begann kurz darauf zu schnarchen.
Vanessa und Dominik hatten sich erboten, gemeinsam das Geschirr zu spülen. Das kleine Batterieradio, das Vanessa mitgebracht hatte, hatten die beiden jungen Leute mit in die Grillhütte genommen. Man merkte, dass das Radio bereits den ganzen Abend angeschaltet war, denn die Musik erklang leiser, die Batterien wurden schwach. Das störte Dominik und Vanessa aber wenig.
Die Erwachsenen hatten sich eifrig unterhalten und Herr Mittenzwey brauchte mehrmals die Bestätigung, dass es sich nicht um einen Traum gehandelt hatte.
Immer wieder schüttelte er verständnislos den Kopf, bevor er ebenfalls seinen Schlafsack aufsuchte. Ob er Schlaf finden würde, blieb allerdings fraglich.
Vanessas Eltern saßen nun allein am Tisch.
»Und du meinst wirklich, dass er jetzt langsam auf die Beine kommt, Robbi?«, fragte Renate Faber.
Ihr Mann war perplex. Seit Jahren hatte seine Frau ihn nicht mehr mit seinem Kosenamen angesprochen.
»Zunächst muss der Mann den Glauben an sich selbst Stück für Stück aufbauen. Er war mittlerweile restlos Parterre. Man muss ihn ein wenig bei anstehenden Verhandlungen mit den Gläubigern an die Hand nehmen, damit er endlich von den Schulden herunterkommt. Da lässt sich bestimmt etwas regeln, glaube mir. Was ist schon Geld, Natty?«, sagte Robert.
Nun war es an Renate perplex zu sein, ihren Kosenamen zu hören.
»Wenn man genug hat, ist es unwichtig. Aber wenn man keins hat ...«
In der Grillhütte stürzte Vanessa plötzlich zum Radio und wollte die Lautstärke voll aufdrehen - aber die Batterien gaben nicht mehr viel her.
»Das ist das Lied! Hör zu!«, rief sie Dominik aufgeregt zu.
I’ve seen the yellow lights go down the Mississippi.
I’ve seen the bridges of the world and they’re for real;
I’ve had a red light of the wrist without me even gettin’ kissed.
It still seems so unreal.
Vanessa ergriff den Apparat und lief ins Freie. Dominik folgte ihr automatisch.
»Das ist das Lied!«, rief sie. »Das ist das Lied aus meinem Traum!«
I’ve seen the morning in the mountains of Alaska.
I’ve seen the sunset in the east and in the west. I’ve sang the glory that was Rome.
And passed the hound dog singer’s home.
It still seems for the best.
Drei Augenpaare schauten Vanessa an. Sepp schnarchte unberührt weiter.
Das Ehepaar Faber sangen den Refrain begeistert mit.
»And I’m far, far away
with my head up in the clouds.
And I’m far, far away
with my feet down in the crowds ...«
»Dann gaben die Batterien endgültig den Geist auf«, erzählte mir die nette Dame, während wir weiterhin in der Gondel warteten.
»Das Lied kenne ich, ein uraltes Stück und genauso wahr wie damals. Jedes Wort«, nickte ich ihr zu. »Den Kopf weit weg in der Fantasie, aber mit beiden Füßen fest am Boden.«
Sie lachte.
»Na ja, mit dem Kopf sind wir momentan wirklich hoch in den Wolken«, gab sie zu.
»Sagen Sie bitte, diese Geschichte von Vanessa, Dominik und all den anderen, haben Sie die selbst erlebt? In echt, meine ich?«
Die nette Dame lächelte, und bevor sie mir antworten konnte, zuckte das Seil an dem die Gondel hing, und sie setzte ihren Weg ins Tal endlich fort.