Max - das Amselküken - Werner Koschan
- Geschrieben von Portal Editor
Pfingstmontagabend gegen 21:30 Uhr. Die Nacht bricht langsam herein. Meine Frau und ich haben uns nach einem herrlichen Tag, den wir fast ausschließlich im Garten verbracht haben, ins Wohnzimmer zurückgezogen. Draußen ist es merklich feucht geworden.
Plötzlich klingelt es an der Tür. Wir schauen uns verwundert an. Wer mag so spät noch etwas von uns wollen? Meine Frau öffnet. Aufgeregte Stimmen dringen an mein Ohr, deshalb erhebe ich mich aus meinem Sessel und begebe mich ebenfalls in den Flur. Gülcin und Sezai, die seit einigen Jahren mit ihren drei kleinen Söhnen in unserer Nachbarschaft wohnen, stehen ob der späten Stunde etwas betreten vor der Haustür und wir müssen sie mit sanfter Gewalt ins warme Wohnzimmer drängen. Gülcin hält eine Plastikschüssel in den Händen, die mit einem Tuch abgedeckt ist.
»Wie man es nimmt«, sagt sie und nimmt das Tuch von der Schüssel. »Diese beiden Winzlinge lagen auf der Straße und wir wissen nicht, was wir mit ihnen machen sollen.«
In der Schüssel liegen auf reichlich Küchenpapier gebettet zwei zitternde Amselküken. Vier Augenpaare betrachten mitleidig die hilflosen Wesen.
Meine Frau und ich tauschen Blicke. Wir gelten in der Nachbarschaft ohnehin als reichlich sonderbar, da unser Garten keinen Rasen hat, der millimetergenau mit der Nagelschere geschnitten ist. Ihn ziert ein großer Teich und zahllose Pflanzen quer durchs Alphabet, von Aloe Vera bis Zitronenbusch, die Wege bestehen aus Rindenmulch. Beton, Pflastersteine oder Gartenzwerge sucht man vergeblich. Glückskäfer und Schmetterlinge fühlen sich dagegen bei uns wohl, sowie eine Masse verschiedener Vögel von A wie Amsel bis Z wie Zaunkönig. Und wenn die Dämmerung in die Nacht übergeht, fliegen zwei Fledermäuse kunstvoll über den Teich.
»Unsere drei kleinen Söhne haben jeder eine Katze«, entschuldigt sich Gülcin, »somit ist es für uns unmöglich, die Küken aufzuziehen. Könnt ihr die nicht nehmen?«
»Klar nehmen wir euch die beiden ab. Kriegen wir schon irgendwie hin«, versichern wir und kurz darauf ist der späte Besuch durch die Tür verschwunden. Sogar von hinten wirken sie erleichtert.
Wir suchen im Internet nach Informationen über die Aufzucht von Amselküken. Zunächst polstere ich eine größere Schüssel mit Watte aus, forme aus Küchenkrepp ein Nest und da hinein setzen wir die Küken. Sobald man sie berührt, reißen sie ihre Schnäbel auf. Was fressen Amseln? Würmer, okay, aber woher solche bekommen mitten in der Nacht? Selbst wenn wir spontan welche hätten, bliebe die Frage, ob die Würmer am Stück verfüttert werden oder ob man sie möglicherweise zerkleinern muss? Dazu sagt das Internet nichts. Vielleicht kann man Babywürmer kaufen? Man kann schließlich nicht alles wissen.
»Beoperlen«, murmelt meine Frau.
»Beoperlen?«
»Soll man mit Wasser zu einem Brei verrühren und den Kleinen geben. Müssen wir morgen kaufen, heute kriegen die einen Brei aus hart gekochtem Eigelb mit geriebenem Apfel. Damit soll man beginnen habe ich gerade gelesen. Und eine Drahtschlinge brauchen wir, um die Kleinen ohne Verletzungsgefahr zu füttern, fünf Zentimeter lang und vorne eine Schlinge so groß wie eine Linse. Schau mal, so in etwa, habe ich dir ausgedruckt.«
»Mach du den Brei«, schlage ich vor, »ich kümmere mich um das Equipment.«
Bei uns fliegen drei Wellensittiche frei im Haus herum, denn wir sind der Meinung, dass man keine Vögel in enge Käfige sperren sollte. Aber unsere Wellis sind gegen jede Neuerung und deshalb kommt die Schale mit den Küken ins Büro, das für unsere Rabauken tabu ist.
Die Küken schlafen und wir recherchieren im Internet, was wir noch tun können. Füttern, sauber halten, Gewicht kontrollieren und so weiter und so fort.
Am nächsten Morgen fahre ich ins Zoogeschäft und schaue nach Beoperlen. Sauteuer das Zeug! Was mag da drin sein? Ich lese die Beschreibung: Getreide, pflanzliche Nebenerzeugnisse und Obst. Da haben wir also instinktiv das Richtige angerührt. Das lässt sich bestimmt noch verfeinern und kostet nicht annähernd so viel wie dieses Fertigfutter - ich mag ja schließlich auch kein Junkfood.
Auf dem Heimweg komme ich an einem Angelsportladen vorbei und frage den Verkäufer, ob er Erfahrungen mit Amselküken hat.
»Jedes Jahr im Frühling kommen Leute her und fragen mich um Rat. Wie alt sind Ihre Vögel?«
»Ich schätze mal zwei Wochen, wenn ich dem Internet glauben darf.«
»Hier, nehmen Sie Fliegenlarven.«
»Nein, soll man nicht geben, steht ganz explizit in den Ratgebern.«
»Langsam, mein Freund«, korrigiert mich der Oberangler, »lebend darf man sie natürlich nicht verfüttern. Die müssen Sie vorher mit einer Pinzette zerdrücken, dann sind sie tot, aber es ist dennoch Frischfutter. Das ist die reinste Kraftnahrung. Mischen Sie ein bisschen Blumenerde dazu, das brauchen die Vögel zur Verdauung. Dann sollten Sie Insekten fangen, das ist wichtig, dazu viel Obst, Beeren und mehrmals am Tag einen Wurm. Die habe ich fertig verpackt.«
»Na, eins denke ich.«
»Macht eins fünfzig.« Er schmunzelt. »Morgen früh sind Sie wieder hier und wollen Nachschub.«
Er hat recht und ich werde für die Zeit der Aufzucht Stammkunde bei ihm.
Zu Hause gebe ich die Ratschläge an meine Frau weiter und ziehe mich diskret zurück. Zum Würmerzerschnippeln bin ich anscheinend zu zart besaitet. Selbstverständlich soll es den Amseln gut gehen, aber was mag der Wurm denken? Ich rühre stattdessen lieber Ei, Äpfel und Haferflocken zu einem Brei.
»Kannst wieder reinkommen!«, ruft mein Weib. »Zwei Würmer sind schon weg. Jetzt kommt dein Brei dran.«
Da die Schale mit dem Nest im Büro steht, können wir auch während der Arbeit ständig nach den Kleinen sehen. So vergeht der erste Tag wie im Flug.
Am nächsten Morgen sind wir um sechs Uhr im Büro und schauen nach den Küken. Sie bekommen je einen Wurm, damit der größte Hunger gestillt ist. In der Nacht hat es geregnet, wir gehen auf Insektenfang. Über dem Teich wimmelt es von Kleinstfliegen, die mit einem feinen Netz von uns gefangen werden. Dann wird die Beute unter den frischen Brei gemischt. Max - ein Küken haben wir Max genannt, das andere Moritz - futtert, als hätte er wochenlang nichts bekommen. Moritz hält sich sehr zurück. Man kann ihn ja schlecht zwingen. Außerdem schreibt der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland in seinem Internetportal, dass man bestenfalls – mit viel Glück – ein Küken großziehen kann.
Max wiegt jeden Tag mehr, Moritz leider immer weniger.
Zwei Mädchen aus der Nachbarschaft, die sich für Tiere und Natur interessieren, sind zu uns gekommen, gucken sich Max an und kriegen sich kaum ein über den drolligen Kerl. Ihren Vorschlag, ein Freilaufgehege zu bauen, damit er mehr Platz hat, setze ich schnell um.
Eine gute Idee, denn mittlerweile hüpft Max lebhaft in seinem Freigehege herum und bis zum Fliegen ist es nicht mehr lange hin. Max schläft zwar im Nest auf dem Boden, aber er versucht ständig auf den Rand des Geheges zu fliegen. Dann nimmt einer von uns ihn in die Hand und beschäftigt ihn. Bald verlässt er selbstständig sein Gehege und geht immer öfter auf Erkundungstour. Dabei bemerken wir eine einzelne weiße Feder unter seinem linken Flügel. Er fliegt immer öfter durchs Büro. Es wird Zeit, ihm mehr Freiraum zu gewähren. Deswegen nehmen wir Max mit in den Wintergarten, dessen Türen zum Garten offen bleiben, damit er auch die freie Natur beschnuppern kann, da es nicht regnet oder stürmt. Am liebsten sitzt er trotz allem unter einem Herd aus dem 19. Jahrhundert in Deckung, der ausschließlich zur Dekoration dient. Dort wartet er, dass wir mit ihm spielen und üben. Ja, üben! Denn wir müssen ihm anstelle der Eltern beibringen, was für ihn zum Überleben notwendig ist. Und das ist sehr viel. Gefüttert wird er nicht mehr per Schlinge, sondern er soll sein Futter selbst erkennen. Einen Wurm vom Boden aufnehmen und Beeren ebenso. Nur seine Lieblingsspeise, Joghurt mit Erdbeerstückchen, bekommt er portionsweise, damit er nicht ins Schälchen hüpft. Baden muss er lernen und immer wieder planschen wir mit den Fingern im Wasser der Badeschale, bis Max endlich hineinhopst. Nach dem ersten Versuch ist er kaum noch zu bremsen, und spritzt wild um sich vor Spaß.
Auch einen Warnruf muss er begreifen und wenn wir ihn rufen, dann geschieht das mit einem speziellen Pfiff, auf den Max seit Tagen sofort reagiert, da er weiß, dass damit etwas Leckeres in Verbindung steht.
Allerdings kommt er weiterhin abends gegen zwanzig Uhr (pünktlich wie ein Uhrmacher) in den Wintergarten zurück und versteckt sich unter seinem Herd. In der Dämmerung lässt er sich einen letzten Wurm, Joghurt und Wasser schmecken.
Eines Mittags gebe ich Max Stückchen einer Erdbeere. Er sitzt auf seinem Stein und schaut mich an, als wolle er mir etwas mitteilen. Plötzlich schwingt er sich in die Luft, fliegt aus unserem Garten hinaus und landet ein paar Grundstücke weiter in der Nachbarschaft. Vielleicht ist er dort aus dem Nest gefallen? Wer weiß.
Einerseits bin ich traurig, andererseits freue ich mich, dass Max, der ehemalige hilflose Winzling, jetzt erwachsen wird und selbstständig agiert.
Um mich von dem unvermuteten Abschied abzulenken, staple ich Kaminholz hinter der Garage, das ich in den letzten Tagen gehackt habe.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde landet Max auf dem Holz vor mir und stößt einen Ruf aus, der beinahe wie unser Pfiff klingt. Er lässt sich füttern und haut rein, als sei er vom ersten Alleinflug halb verhungert. Gesättigt fliegt er wieder los und kehrt nach einiger Zeit erneut zurück.
Am Nachmittag sitzt Max auf seinem großen Stein und schaut uns zu, wie wir Holz diesmal auf der Kellertreppe stapeln.
Aus heiterem Himmel (kann gar nicht sein) beginnt es wie aus Kübeln zu schütten und der kleine Kerl hockt in dem ihm völlig unbekannten Element, das auf ihn herabprasselt.
Ist doch nicht mit anzusehen, denke ich und hole ihn in den Wintergarten, in dem ein Heizgebläse wärmt und ihn trocknet.
Ich befürchte, dass es die ganze Nacht regnen wird und weiß nicht, was ich tun soll. Max in das Unwetter hinausjagen? Die Türen des Wintergartens kann man heute nicht offen stehen lassen, sonst schwimmt morgen der ganze Raum und der Holzboden steht unter Wasser. Max nimmt uns die Entscheidung ab, denn er verkriecht sich unter seinem Herd und rührt sich nicht mehr. Nicht mal auf einen Pfiff reagiert er.
Es leben zahlreiche Amseln in unserem Garten. Vielleicht ist ja auch Max unter ihnen, wir wissen es nicht, denn er hat sich täglich dermaßen weiterentwickelt, dass wir ihn nicht mehr mit Bestimmtheit identifizieren können. Max wird sich vermutlich seinen Artgenossen angeschlossen haben und mit ihnen durch die Gärten fliegen.
An einem Morgen sind wir überzeugt, Max zu sehen. Eine Amsel sitzt im Kastanienbaum und als ich unseren Pfiff ertönen lasse, reagiert der Vogel aufmerksam, was die anderen sonst nicht tun. Während er losfliegt erkenne ich eine weiße Feder unter seinem linken Flügel ...
Wir haben in diesem Winter ein wenig intensiver Vogelfutter, Haferflocken und Rosinen ausgelegt und hoffen, dass sich auch Max daran bedient.
Es geht aufwärts mit den Temperaturen und lässt auf den Frühling hoffen. Inzwischen hat sich das Entenpaar wieder auf dem Gartenteich angesiedelt. Ob wir nochmals ein Amselküken aufziehen dürfen, bleibt ungewiss – dafür erwarten wir nun acht bis zehn Entenküken.
Amselküken Max
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