Es sind keine guten Zeiten für Kultur im Allgemeinen und kulturelle Veranstaltungen in der Türkei im Besonderen, wenn jetzt sogar der traditionelle, argentinische Nationaltanz in das Blickfeld religiöser Fanatiker gerät.
So geschehen während eines Tanzfestivals in der modernen, aufstrebenden Rivierastadt Adana, wo eine Bürgervereinigung für gesittetes Benehmen örtlichen Zeitungsberichten zufolge dem Tango den Garaus machen will, denn der Tanz stelle "Ehebruch auf Füßen und zur Musik" dar. Entsprechend wurden die Behörden aufgefordert, das Tangofestival Adana abzusagen.
Unter dem Oberbegriff Tango wird sowohl der Tanz als auch die Musikrichtung Tango verstanden. Dabei hat der Tango auch in der Dichtung und im Gesang vielseitige und eigenständige Ausdrucksformen hervorgebracht. Der Tango gehört seit September 2009 zum Immateriellen Kulturerbe der Menschheit der UNESCO.
„Tango rioplatense“, also Tango vom Rio de la Plata
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat sich der Tango in verschiedenen Formen von Buenos Aires aus in der gesamten Welt verbreitet. Zur Unterscheidung gegenüber dem (gelegentlich europäischer Tango genannten) Standardtango des Welttanzprogramms wird die ursprünglichere (weniger reglementierte) Form des Tanzes und die zugehörige Musik weltweit Tango Argentino genannt. Zutreffender als die Benennung „argentinischer Tango“, durch welche die Uruguayer ausgeschlossen werden, wäre allerdings die Bezeichnung „Tango rioplatense“, also Tango vom Rio de la Plata. Eine solche begriffliche Unterscheidung ist in Argentinien selbst nicht üblich, dort spricht man in der Regel schlicht von Tango.
Auch in der Türkei hat der Tango früh Wurzeln geschlagen – beispielhaft sind Aufnahmen des Sängers Ibrahim Özgür aus den späten 1930er Jahren. Nach einem Einbruch wird seit 1990 wieder vermehrt Tango getanzt und es finden Festivals in Istanbul, Ankara und eben auch in Adana statt.
Ursprünglich war der Candombe eine kultische Tanzpantomime
Die musikalischen Elemente, die zur Entstehung des Tango Argentino beigetragen haben, sind vielfältig. Ein „Urtango“ ist nicht überliefert und so „… suchte man den Mangel durch Hypothesen anhand einiger Indizien oder anderer Hypothesen wettzumachen.“ Zwar ist das afroamerikanische Element in Rhythmus und Choreografie des Tangos kaum noch zu erkennen, doch war der Candombe der Kreolen und Schwarzen ein wichtiger Einfluss. Ursprünglich war der Candombe eine kultische Tanzpantomime, in der liturgische Elemente afrikanischer Religionen und katholischer Heiligenverehrung verschmolzen. Nachdem der Kultgehalt immer mehr verschwunden war, trat sie ab 1870 zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag oder als Karnevalsumzug in Erscheinung. Da es während der Straßenfeste der Schwarzen angeblich zu blutigen Schlägereien kam, wurden sie jedoch bald von der Obrigkeit verboten. Dem Verbot begegneten die Tänzer durch die Gründung von Tanzhallen. Auch wenn sich die Tänze noch stark vom Tango in seiner späteren Form unterschieden, entstand in solchen Örtlichkeiten der Tango Argentino.
Ein ebenfalls wichtiger Einfluss ist die Habanera, die gelegentlich auch Tango Americano genannt wird. Ihre Entstehung wird um 1825 auf Kuba angesetzt und ab 1850 hatte sie in Spanien große Popularität erreicht. Ein noch heute populäres Beispiel für eine Habanera ist die gleichnamige Arie in der Oper Carmen von Georges Bizet. Sie erreichte den Río de la Plata auf dem Wege über Paris, denn die bessere Gesellschaft imitierte alles, was in Frankreich gefiel.
Auch der Einfluss mitteleuropäischer Einwanderer ist nicht gering. Die Polen brachten ihre Mazurka und die Böhmen ihre Polka. Die Deutschen fügten nicht nur das Bandoneon (das später für den Tango typischste Instrument) hinzu. Als Tanz brachten sie den Walzer und Ländler mit seinen Drehungen ein. Ein weiterer, nicht ganz so offensichtlicher Beitrag (ab den 1870er Jahren) stammt von der Maxixe, dem so genannten brasilianischen Tango, der im Wesentlichen die gleichen Ursprünge hat wie der argentinische. Sie gilt als der erste städtische Modetanz Brasiliens.
Aus diesem Sammelsurium städtischer Musik und Tänze, vermischt mit den ländlichen Payadas der Gauchos, entstand die städtische Milonga. Etwa um 1880 begann man in Buenos Aires und Montevideo zu dieser Musik zu tanzen. Später verlangsamten sich die leichten, fröhlichen Lieder der Milonga zum ernsteren Tango. Vicente Rossi hat den Tango als eine Milonga mit „cortes y quebradas“ („mit Schnitten und Brüchen“) gesehen, d. h. mit Pausen und Posen – ohne den kontinuierlichen Fluss der Milonga.
Flöte, Violine und Gitarre waren zunächst die Standardinstrumente der durch Kneipen, Tanzsäle und Straßen ziehenden Musiker. Später setzten sich Klavier und Bandoneón als typische Tangoinstrumente durch. In den Hafenvierteln, den Barrios (Stadtteilen) und den Arrabales (Vorstadt-Gebieten), in einem Milieu von Arbeitslosigkeit, Kleinkriminalität und Prostitution, wurde der Tango zum Ausdruck existentieller Not und menschlicher Einsamkeit des Porteño (span.: Hafenstadtbewohner – so bezeichnen sich die Einwohner von Buenos Aires selbst).
Die erste veröffentlichte Partitur, die als Tango für Klavier bezeichnet wurde, trägt den Titel „El Entreriano“ und stammt aus der Feder des Mulatten Anselmo Rosendo Mendizábal. Soweit zur kulturellen Vorgeschichte des Tangos, der folglich durchaus als international-stämmiger Tanz bezeichnet werden kann.
Vorwürfe zu engen Körperkontakts stehen im Raum
Die bislang weder mit einer Webseite noch auf Facebook vertretene Gruppe, die sich selbst „Plattform Gesittetes Adana“ (Uslu Adana Platformu) nennt, soll Anstoß an dem Festival genommen haben, das am 23. Oktober begonnen hatte und finanziell von der Verwaltung der Großgemeinde Adana unterstützt wird. In einer Presseerklärung soll die Gruppe den Tango verurteilt haben, weil dieser „keinen Platz in unserer nationalen Kultur“ habe und gefordert haben, dass das derzeitige Festival das letzte seiner Art in Adana gewesen sein möge.
„Ein Festival, das Ehebruch durch derart große physische Nähe von Männern und Frauen vorführt, hat weder in unserer Religion noch in unserer Volkskultur Platz“, soll es der Tageszeitung Cumhuriyet zufolge in der Erklärung geheißen haben. Und weiter: „Diese Art des erotischen Tanzes lädt Menschen zur Sünde ein. Ehebruch auf Füßen und mit Musik mag seine Enthusiasten finden, aber in der Gesellschaft soll so etwas Anstößiges keinen Platz haben.“
Unterdessen finden derzeit auch die Europäischen Tangomeisterschaften in der türkischen Hauptstadt Ankara statt.
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