Çatalca - das Bevölkerungs-Austausch-Museum
Die Einrichtung eines neuen Museums in einem alten Lagerhaus mit der Dauerausstellung zur Umsiedlungsgeschichte von Türken und Griechen der Jahre 1922 - 24 veranlasste uns, die Stadt Çatalca in Thrakien, etwa 50 Autominuten von Istanbul auf der europäischen Seite entfernt liegend, zu besuchen.
Çatalca wurde im Jahre 1371 von Sultan Bayezit dem I. erobert und erhielt von den Eroberern den neuen Namen „Çatalburgaz“. Ende des 16. Jahrhunderts ließ der Großwesir Ferhad Pascha Çatalca ausbauen und Mimar Sinan errichtete die Ferhad-Pascha-Moschee. Während des Ersten Balkankrieges 1912–1913 verlief östlich die Frontlinie (die Çatalca-Linie) zwischen der bulgarischen und osmanischen Armee. Im Sturm auf Konstantinopel, was gegen den Willen des Generalstabschefs Iwan Fitschew erfolgte, wurde die bulgarische Armee in der Schlacht von Çatalca gestoppt. Bis 1924 war die Bevölkerung gemischt, jedoch mehrheitlich griechisch. Bis 1926 war Çatalca eine eigenständige Provinz. Mit der Verordnung vom 26. Juni 1926 wurde es zu einem Landkreis heruntergestuft und der Provinz Istanbul angeschlossen.
Griechen und Türken in Harmonie
Schon während der Fahrt sind die Spuren griechischer Kultur deutlich an den Gebäuden und Einrichtungen zu erkennen. Die Geschichte der Region lässt sich etwa 2.500 Jahre zurück verfolgen, so war der Name der Stadt in antiker Zeit Ergískē, basierend auf dem Namen eines Sohnes von Poseidon Ergiscus. Die Ferhad-Pascha-Moschee zählt aufgrund ihrer Architektur und Pracht auch heute noch zu den eindruckvollsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Weitere historische Sehenswürdigkeiten in Çatalca sind die Reste des historischen Hamams sowie die alten Befestigungsanlagen, auch Anastasius Mauern genannt.
In den Jahren 1912 und 1913 zur Zeit des ersten Balkankriegs verlief die Frontlinie zwischen der osmanischen und der bulgarischen Armee direkt hinter Çatalca in östlicher Richtung. Kurz nach dem Ende des ersten Weltkriegs kam es dann zu dem schon mehrfach erwähnten Zwangsbevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, der fast 2 Millionen Menschen im Jahr 1923 / 24 die Heimat nahm. Die Bevölkerung von Çatalca war bis zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich griechisch gewesen, die allerdings in großer Harmonie mit den Türken gelebt hatten.
Am 30. Januar 1923 wurde im Vertrag von Lausanne zwischen Griechenland und der Türkei ein Bevölkerungsaustausch vereinbart. Auf Grund dieser Konvention wurde die in Kleinasien ansässige griechisch-orthodoxe Bevölkerung nach Griechenland ausgewiesen, die muslimische Bevölkerung Griechenlands musste in die Türkei auswandern.
Dadurch wurde auch Pendik von einem griechischen zu einem türkischen Ort. Bis 1923 bestand die Bevölkerung von Pendik fast ausschließlich aus Griechen. Nach dem Vertrag von Lausanne waren diese 1923/24 gezwungen, Pendik zu verlassen. Die griechische Bevölkerung, die Pendik verließ, gründete in der Nähe von Thessaloniki eine gleichnamige Siedlung. Im Zuge des Bevölkerungsaustausches kamen hauptsächlich Bewohner aus Drama und Ioannina nach Pendik. Ab 1923 siedelten viele Menschen aus Anatolien nach Pendik über. In den 1950er Jahren war ein rasches Bevölkerungswachstum zu verzeichnen. Aus Ostmakedonien und Thrakien, Epirus sowie Bosnien und Herzegowina gab es viele Zuwanderer.
Zwischen 1960 und 1970 wurde daraufhin der Bahnhof Pendik errichtet. In den 1980er Jahren gab es eine Bevölkerungsexplosion, die auf die Eröffnung der Werft in Pendik (türk. Pendik Tersanesi) im Juli 1982 zurückzuführen ist.
Aber nun zurück nach Çatalca: Sehr bekannt ist auch der Wochenmarkt von Çatalca, zu dem Bauern aus mehr als 20 verschiedenen Dörfern der Umgebung jeweils am Donnerstag in die Stadt reisen, um hier ihre frischen Obst- und Gemüseernten zu verkaufen. Für Istanbul selbst ist die Region Çatalca von besonderer Bedeutung, da die Trinkwasserversorgung aus dem hiesigen Büyükçekmece-Staudamm erfolgt.
Weitere besuchenswerte Ziele sind:
- Die ,,Inceğiz Höhlen”, die von den Jesuiten einst als Unterkunft und Kirche verwendet wurden
- Der “Topuklu Brunnen“
- Das Kinderparadies der Aziz Nesin Stiftung
Mit der Eröffnung des „Griechisch-Türkischen Umsiedler Museums, in dem Fotos, Dokumente und persönliche Ausstellungsstücke privater Betroffener gezeigt werden, ist der Stadt sicherlich ein weiterer Besuchermagnet gelungen.
Das "Bevölkerungs-Austausch-Museum" / Von Susanne Landwehr
Ein brandneues Museum in einem alten Lagerhaus zeigt die bisher einzige Dauerausstellung über die Umsiedlungen in den 1920er-Jahren aus Griechenland und der Türkei. Zu sehen sind Fotos und Dokumente, die die Familiengeschichten greifbar machen.
In der türkischen Kleinstadt Catalca, weit vor den Toren Istanbuls, wird Geschichte gemacht. Ein brandneues Museum in einem alten Lagerhaus zeigt die erste und bisher einzige Dauerausstellung über die Umsiedlungen in den 1920er-Jahren - Fotos, Dokumente und ergreifende Familiengeschichten Vertriebener.
Im Januar 1923 änderte die Konvention über den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkeidas Leben in der Kleinstadt grundlegend. Das Abkommen war Teil des Vertrages von Lausanne nach dem Sieg derTürkei im griechisch-türkischen Krieg 1922. Die Türkei erhielt unter anderem Ost- und Südostanatolien sowie Ostthrakien, seitdem der europäische Teil der Türkei. Griechenland erhielt Westthrakien.
1,25 Millionen Griechen mussten daraufhin aus der Türkei ausreisen, etwa 500.000 Türken mussten aus Griechenland übersiedeln, unter ihnen die Eltern von Akile Vardar. Sie kamen 1924 aus Thessaloniki in die Provinz Tekirdag.
"Die griechische Regierung hatte damals gesagt: Die Türken sollen sich versammeln. Sie werden in die Türkeigehen. Sie konnten Geld mitnehmen, doch Möbel und Decken mussten sie zurücklassen. Eines Nachts hat meine Familie zusammengepackt und sich dann am Bahnhof ihres Heimatdorfes versammelt. Mit dem Schiff sind sie nach Tuzla gefahren. Als sie dort ankamen, mussten sie in Quarantäne und wurden desinfiziert."
Die Familie fing bei null an. Der türkische Staat schenkte ihr pro Person 7000 Quadratmeter Land und ein Haus. Akile Vardars Vater war Bauer und nahm jede Arbeit an, die ihm geboten wurde. Doch die ganze Zeit über trauerte er seiner alten Heimat, Griechenland nach, erzählt seine Tochter.
"Alle Vertriebenen warteten darauf, dass sie wieder zurückkehren konnten. Auch die Griechen, die aus der Türkeivertrieben wurden. Aber mein Vater hat keinen Pass bekommen, weil der zu den muslimischen Vertriebenen aus Griechenland gehörte. Ich habe das erst erfahren, als er gestorben war. Wir haben es sehr bedauert."
Sie selbst ist 2006 nach Thessaloniki gefahren. Zur Spurensuche. Denn auch wenn sie in der Türkei geboren ist, fühlt sie sich mit Griechenland eng verbunden. Schließlich sind ihre Eltern dort geboren und mussten ihr Hab und Gut zurücklassen.
Ein Museum, das solche Familiengeschichten öffentlich zeigt, war für Atila Karaelmas schon lange überfällig. Er arbeitet für die Istanbuler Lausanne-Stiftung und ist selbst Sohn von Vertriebenen aus Griechenland. Bereits 2001 hatte er die Idee, ein Museum über den Bevölkerungsaustausch zu organisieren. Doch lange fehlten das Geld und der passende Ort.
"In Catalca gibt es viele Besonderheiten. Hier haben viele griechische Vertriebene gelebt. Im Bezirk Kaleici sind noch Spuren zu finden. Die Vertriebenen, die aus Griechenland gekommen waren, haben viele Traditionen bewahrt. Es gibt besondere Speisen und Musik. Außerdem liegt Catalca auf dem Weg zwischen Griechenland undIstanbul."
Unterstützung erhielt er von der Organisation Europäische Kulturhauptstadt Istanbul 2010, aus der Stadtverwaltung von Catalca und von einem einflussreichen Geschäftsmann. Der stiftete ein rotes Klinkergebäude aus dem 19. Jahrhundert. Auf rund 40 Quadratmetern und einer kleinen Galerie hat die Lausanne-Stiftung nun ausgewählte Familiengeschichten, Andenken, Fotos und Briefe ausgestellt.
In einer Vitrine befindet sich eine alte Nähmaschine, in einer anderen liegen Pässe und ein Koran. Viele Zeitzeugen gibt es nicht mehr. Die meisten sind in den hohen 80ern. Monatelang war Atila Karaelmas in der Türkei und in Griechenland auf der Suche nach den passenden Ausstellungstücken unterwegs.
"Wir haben sehr viele. Ungefähr 100 Familien haben uns rund 200 Objekte gegeben. Es war nicht so schwer, die Materialien zu sammeln. Vertriebenen-Vereine in der gesamten Türkei haben uns geholfen. Auch unsere griechischen Freunde haben uns unterstützt."
Für Ende Januar kündigt Atila Karaelmas schon das nächste Ereignis an. Zum Jahrestag der Konvention über den Bevölkerungsaustausch vom 30. Januar 1923 will er den zweiten Teil des Museums eröffnen. In einem weiteren Gebäude sollen dann die Schicksale vertriebener Griechen dokumentiert werden.
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