Deutschländer - nur Erfahrungsberichte?
- Geschrieben von Portal Editor
Die Eltern kamen aus der Türkei, um in Deutschland ein besseres Leben zu finden. Nun kehren die Kinder zurück und suchen in der Türkei das gleiche, ein besseres Leben. Eine Heimatkunde in drei Porträts.
Yavuz Bozca hat eine schöne Stimme. Eine Stimme, die Vertrauen einflößt. Sein weicher, schwäbischer Zungenschlag lässt einen an Maultaschen und an Gemütlichkeit denken. Wenn er einem als Marcus Braun oder Hans Steffan am Telefon ein Abonnement für eine Fernsehzeitschrift verkauft oder einen Vertrag für ein neues Handy, wähnt man sich gut aufgehoben. Betreut von einem netten jungen Mann in einem Callcenter, das irgendwo südlich der Maingrenze liegt, in einem Dörfchen nahe Stuttgart zum Beispiel, aber doch nicht in Istanbul.
Yavuz Bozca sitzt im Café eines Einkaufszentrums, von dessen Terrasse man den Bosporus sehen kann. Yavuz Bozca hat Mittagspause. Er ist zweiunddreißig Jahre alt, man schätzt ihn leicht auf über vierzig. „Natürlich sage ich am Telefon nicht meinen türkischen Namen. Dann geht doch gleich die Fragerei los, oder es wird aufgelegt“, sagt er. Die Namen Hans und Markus habe er gewählt, weil sie bürgerlich klingen. Den Nachnamen Braun, „weil die deutschen Omis alle rechts sind und braun ihnen deshalb gefällt“. Was die Leute am anderen Ende der Leitung nicht sehen, sind die ausgeschlagenen Ecken von Yavuz Bozcas Schneidezähnen - ein Andenken an eine Istanbuler Prostituierte. Sie sehen nicht die Narbe auf der Stirn, nicht die Falten, die die Drogen in sein Gesicht gegraben haben, nicht den wiegenden Gang, der ihn aussehen lässt wie einen Boxer auf dem Weg zum Ring.
Das Callcenter, von dem aus er täglich Dutzende von deutschen Haushalten anruft, liegt nur wenige Meter von dem Einkaufszentrum entfernt. Seine Auftraggeber sind deutsche Versandhäuser, Verlage, Handy- und Telefonanbieter. „Die Anrufe sind die einzige Verbindung, die mir nach Deutschland geblieben ist“, sagt er.
Yavuz Bocza ist in Deutschland aufgewachsen. Er ging dort zur Schule, spielte Fußball, hatte eine deutsche Freundin. Mit sechzehn Jahren begann er, harte Drogen zu nehmen. Um sich Geld zu beschaffen, dealte er. Wenn es schlecht lief, raubte er seine Kunden aus. Wenn sie sich wehrten, schlug er zu. Zweimal saß er im Gefängnis, insgesamt fast vierundzwanzig Monate lang. „Sie sind eine Zumutung für die Menschheit“, sagte der Richter bei der letzten Verhandlung. Da ging es um einen Einbruch in ein Juweliergeschäft. Der Rest steht in der dreiundzwanzig Seiten dicken Akte, die ihm die Stuttgarter Staatsanwaltschaft mitgab, als er ausgewiesen wurde. Es war am 23. November 1999, an den Tag erinnert er sich noch genau.
In Deutschland hatte sich Yavuz Bocza immer als Türke gefühlt, nun verabschiedeten ihn Polizisten hier amFlughafen. In Istanbul aber holte ihn niemand ab. Er hatte dreihundert Mark in der Tasche und die Adresse einer Tante. Freunde hatte er nicht, die Verwandten schämten sich für ihn, Türkisch sprach er nur gebrochen. Zwei Wochen nach seiner Ankunft meldete er sich zum Militär. Achtzehn Monate lang robbte er durch den Staub an der syrischen Grenze. Danach war Schluss mit Drogen, und er hatte Türkisch gelernt. Der „Deutschländer“, wie inDeutschland aufgewachsene Türken in der Türkei genannt werden, ist er aber geblieben.
Yavuz Bozca hat in Deutschland keine Heimat zurückgelassen und in der Türkei keine gefunden. Manchmal hängt er mit Deutschtürken herum, die abgeschoben worden sind oder ausgewiesen wie er. Im Callcenter gibt es viele von ihnen. Nur die Mutter, die in Deutschland geblieben war, besuchte ihn jedes Jahr. „Dass ich auf die schiefe Bahn geraten bin, hat sie nie verkraftet“, sagt er. Als sie im vergangenen Sommer starb, hinterließ sie ihm dreiundzwanzigtausend Euro, tausend davon hat er noch. Außerdem ein neues I-Phone, ein Laptop, eine Fitnessbank und die Erinnerung an einen Urlaub, in dem es oft Champagner gab.
Er wisse, wie Deutsche ticken, sagt Yavuz Bozca, an die türkische Denkweise dagegen hat er sich bis heute nicht gewöhnt. Hier sei alles schwer, die Menschen furchtbar kompliziert. „In Deutschland funktioniert das Leben wie in ,Wer wird Millionär?'“, sagt er. „Zuerst kommen die leichten Fragen, danach wird es schwierig.“ In der türkischen Version der Show sei es genau umgekehrt, ist ihm aufgefallen. Alles was leicht sein könnte, wird unglaublich schwer gemacht. Das treffe auf das Leben hier insgesamt zu, sagt er. „Auf die türkischen Frauen besonders.“
Yavuz Bozca glaubt heute, er hätte damals auf seinen deutschen Anwalt hören und vor Gericht behaupten sollen, dass er seine Taten bereut. Dann wäre sein Richter gnädig gewesen, und er könnte vielleicht noch in Deutschlandleben. Er hat aber nicht bereut. „Es war einfach mein Weg“, sagt er. Alles, was er bedauert, ist, nicht mehr in dem Land leben zu können, in dem er aufgewachsen ist. Aber er will versuchen zurückzukehren. Yavuz Bozca steht auf. Es ist Zeit, wieder ins Callcenter zu gehen. In wenigen Minuten wird gleich ein Telefon klingeln, irgendwo inDeutschland.
II) Pinar Kilic: „Deutschland wird immer ein Teil von mir bleiben.“
Pinar Kilic ist eine selbstbewusste Frau von zweiunddreißig Jahren. Sie trägt ihre Haare so blond, wie sie eigentlich nicht sind. Aber wenn in Deutschland jemand zu ihr sagte, dass sie deutsch sei, hat sie das gestört. Pinar Kilic fühlte sich als Türkin. In Istanbul dagegen weist sie gern auf den deutschen Anteil ihres Lebens hin. Kemerburgaz heißt der Vorort der Sechzehn-Millionen-Stadt, in der sich Pinar Kilic vor einigen Monaten eine Eigentumswohnung gekauft hat. „Das war ein sehr wichtiger Schritt für mich“, sagt sie. „Ein Signal an mich selbst, um hier wirklich sesshaft zu werden.“ Sie nimmt sich die Hundeleine, um die Gegend zu zeigen, in der sie lebt. Es geht die Straße runter, rechts und links wachsen Bäume, die Wege sind gefegt, die Autos geputzt, überall stehen Straßenschilder, irgendwo brummt ein Rasenmäher. „Ein bisschen wie in Deutschland“, sagt Pinar Kilic. Der Hund folgt ihr auf dem Fuß.
Würde Pilar Kilic einem Integrationsbeauftragten von ihrer Kindheit und Jugend erzählen, er riebe sich vor Freude die Hände. Sie wuchs behütet in der hessischen Provinz auf, sie ging in den Kindergarten, die Grundschule, auf das Gymnasium, sie hatte deutsche Freunde. Pinar Kilic war die einzige Türkin auf der ganzen Schule. Vielleicht, sagt sie, wollte sie darum immer beweisen, dass sie alles besser kann, ob bei Klassenarbeiten oder im Sportverein. Nach dem Abitur studierte sie dann Betriebswirtschaft in Trier. Ihr Großvater war Gastarbeiter der ersten Stunde gewesen, ihr Vater mit siebzehn Jahren nach Deutschland gekommen. Er arbeitete bei Hoechst als Stapelfahrer und kandidierte für den Ausländerbeirat. Die Mutter hatte sich mit einem Schneiderateliers selbständig gemacht. Es sah so aus, als sei das fremde Land ihrer Familie zur Heimat geworden.
Die Eltern halfen ihr in der Schule, zu Hause aber sprachen sie türkisch mit ihr, nur mit ihrem Bruder sprach sie heimlich deutsch. Türkische Feiertage wurden geehrt, aber am Nikolaus stellte Pinar Kilic ihren Stiefel trotzdem vor die Tür. Im ersten Jahr füllten ihn die deutschen Nachbarn, später die Eltern. Als sie vierundzwanzig Jahre alt war, feierte sie das erste Mal mit deutschen Freunden Weihnachten. Das gefiel ihr. Wenn sie jetzt in Istanbul Lust auf Weihnachten hat, setzt sie sich nachmittags ins Flugzeug nach Frankfurt und trifft sich abends mit Freunden auf dem Weihnachtsmarkt.
„Ich bin glücklich gewesen in Deutschland“, sagt Pinar Kilic. Dennoch hatte sie immer wieder einmal den Wunsch, in die Türkei zu gehen, einfach weil sie, anders als ihre deutschen Freunde, die Möglichkeit dazu hatte, so wie man eben die Möglichkeit hat, durch eine Tür zu gehen, zu der nur man selbst den Schlüssel besitzt. Manchmal hatte sie die Tür fast vergessen, manchmal rückte sie ihr wieder ins Bewusstsein, und dann versprach das, was dahinter lag, ihr etwas Verheißungsvolles, Abenteuerliches, mitunter auch eine Ahnung von Geborgenheit in einer Umgebung, in der sie nicht schon durch ihren Namen anders war.
Das erste Mal öffnete sich diese Tür für Pinar Kilic einen Spalt breit, als Neonazis im Jahr 1993 in Solingen eine türkische Familie verbrannten. Dann, nach dem Abitur, als sie sich überlegte, in welcher Stadt sie studieren solle. Schließlich wieder, als alle Freunde nach dem Studium bald einen Job fanden, nur sie, die Türkin, nicht. Sie hatte mit hervorragenden Zeugnissen abgeschlossen, sie hatte Praktika gemacht und Auslandssemester in Amerika verbracht. Sie schickte dreißig Bewerbungen ab, aber vergeblich. Zu keinem einzigen Bewerbungsgespräch wurde sie in Deutschland eingeladen.
Die Firma, die ihr zusagte, lag in Spanien. Dort ging sie hin. Später arbeitete sie in Irland, bei Google, wo sie sich mit zwei Deutschtürken anfreundete. Mit ihnen ging sie vor drei Jahren in die Türkei. Sie gründeten eine Firma für Suchmaschinenmarketing, die dafür sorgt, dass Unternehmen in der Trefferliste von Suchmaschinen oben erscheinen. Erst arbeiteten die drei von zu Hause aus, inzwischen gibt es Mitarbeiter und ein Büro, das ebenfalls in Kemerburgaz liegt. Eine doppelte Buchführung, mit der türkische Firmen gerne bei den Steuern zu tricksen, gibt es bei Pinar Kilic aber nicht. „Da sind wir sehr deutsch. Wir halten uns an die offiziellen türkischen Regeln“, sagt sie.
Es ist nicht so, dass Pinar Kilic Deutschland etwas nachtragen würde, im Gegenteil. Sie hatte dort eine Heimat gefunden, nur keine Zukunft. Als sie ging, sind ihre Eltern noch eine Zeitlang geblieben. Erst als sie in der Türkeierfolgreich war, zogen sie nach. In Istanbul will Pinar Kilic irgendwann eine Familie gründen. Mit ihren Kinder will sie deutsch sprechen und ihnen so viel wie möglich von der deutschen Kultur mitgeben. „Das Land wird immer ein Teil von mir bleiben, auch wenn ich nicht mehr dort lebe“, sagt sie.
Die türkischen Kunden ihrer Firma schätzen ihre deutschen Eigenschaften. Die Disziplin, das strukturierte Vorgehen, mit dem sie Probleme löst, ihre Offenheit beim Verhandeln. Im türkischen Dienstleistungssektor gilt es normalerweise, jedem Wunsch zuzusagen, gleich, ob er sich tatsächlich erfüllen lässt. Pinar Kilic dagegen erklärt sofort, was ihre Firma leisten kann und wo die Grenzen liegen. Anfangs hätten sich ihre Geschäftspartner deshalb vor den Kopf gestoßen gefühlt, sagt sie. Inzwischen wissen sie die Ehrlichkeit zu schätzen. Wenn sie sich bei einem Termin jetzt einmal ausnahmsweise verspätet, heißt es nur: „Du hast dich ja schon angepasst.“
III) Aziz Tekin: „Ich will jetzt einfach mal versuchen, Türke zu sein“
Er sitzt auf seinem Bett und schaut sich in seinem neuen Zimmer um. Es sieht aus wie sein altes: derselbe Schrank, dasselbe Bett, derselbe Schreibtisch. Die Familie hat die Möbel aus Düsseldorf mitgebracht. Draußen vor dem Fenster aber ist jetzt eine vierspurige Straße, ein Minarett, kleine Werkstätten und Lebensmittelläden. Es ist ein Arbeiterviertel, weit weg von der Istanbuler Glitzerwelt. Nicht jeder, der hier wohnt, hat schon einmal denBosporus gesehen. Drei Stunden ist Aziz Tekin jeden Tag unterwegs, um seine Schule zu erreichen. Er läuft, sitzt im Dampfer, steht im Bus. In Düsseldorf dauerte der Weg zur Schule nur fünfzehn Minuten. Er ging dort in die zehnte Klasse eines Gymnasiums. „Ich laufe gern. Dabei kann man gut nachdenken“, sagt er.
Aziz Tekin ist ein zurückhaltender Junge. Einer, der einen siezt, auch man wenn ihm mehrmals das Du angeboten hat. Der beim Sprechen seine Hände knetet, als könne er damit seine Worte noch besser modellieren, die ohnehin schon fein formuliert sind. Obwohl er fließend deutsch spricht, wurde er in Deutschland nie für einen Deutschen gehalten. „Vor allem nicht, wenn ich mit meinen Eltern in Düsseldorf spazieren ging“, sagt er. Frau Tekin trägt Kopftuch und Schleier. Herr Tekin hat einen Bart, wie ihn nur besonders gläubige Muslime tragen. In dem Viertel, in dem sie damals wohnten, war das lange kein Problem, es gab viele Türken dort. Dann wurden die Häuser renoviert, und Deutsche zogen ein, die es schick fanden, Fladenbrot und Oliven „beim Türken“ einzukaufen, vorausgesetzt, er ist auch integriert. Der Stadtteil habe sich in den vergangenen Jahren „gemausert“, heißt es jetzt auf dessen Seite im Internet.
Für Aziz' Eltern schienen sich die Dinge nach dem 11. September 2001 zu ändern. Davor musste sich seine Mutter nur bei Elternabenden für ihr Kopftuch rechtfertigen, jetzt rief man ihr „Bin Ladin“ auf der Straße hinterher. Herr Tekin fuhr damals Taxi, aber kaum jemand wollte in sein Auto steigen und wenn, dann wurde gleich mit ihm über Religion diskutiert. Als Herr Tekin eine Metzgerei aufmachen wollte, konnte er am Telefon jedes Ladenlokal haben. Sobald er sich persönlich vorstellte, wurde ihm abgesagt. Irgendwann blieb Herr Tekin einfach zu Hause oder stundenlang in der Moschee. An jedem Misserfolg waren bald nur noch die Deutschen schuld. Die Sätze, die Aziz Tekin jetzt von seinen Eltern hörte, fingen immer öfter mit den Worten „Was wäre wenn“ an. In seiner Schule wurde dagegen ständig über Integration diskutiert. „Diese ewigen Fragen, wie es denn mit meiner Familie ist, konnte ich irgendwann nicht mehr hören“, sagt er.
Anfang des Jahres geriet Herr Tekin wegen einer Kleinigkeit mit der Lehrerin seines jüngsten Sohnes in Streit. Ein Wort gab das andere. Irgendwann sagte die Direktorin: „Dann melden Sie ihr Kind doch ab.“ Das machte Herr Tekin dann auch. Aziz, der ahnte, dass es so kommen würde, hatte sich da schon über das türkische Schulsystem informiert. Sein Traum war ein Istanbuler Gymnasium, auf der man neben dem türkischen Abschluss auch das deutsche Abitur machen kann, denn ganz gleich, was seine Eltern vorhaben, studieren würde er gerne in Deutschland.
Doch Aziz scheiterte an der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium; sein Türkisch war nicht gut genug. Jetzt geht er auf eine Schule, die immerhin einen deutschen Sprachzweig hat. Einen Einser-Schnitt wie in Düsseldorf wird Aziz Tekin in Istanbul aber nicht mehr schaffen. Am Wochenende besucht er eine Nachhilfeschule. „Freizeit wie in Deutschland, wo ich mich nachmittags mit Freunden getroffen habe, gibt es für mich hier nicht. Neue Freunde muss ich erst finden.“
Aziz Tekin schweigt für einen Augenblick. Dann holt er einen Brief, den ihm das Bundesverwaltungsamt per E-Mail geschickt hat, und liest ihn laut vor. Die Behörde möchte wissen, wie lange er in der Türkei bleiben will. Sollte es sich um einen Aufenthalt von länger als sechs Monaten handeln, müsse er dafür bei der Ausländerbehörde eine Genehmigung beantragen. Ansonsten werde ihm die Zusicherung zur Einbürgerung entzogen, schreibt das Amt. „Das hat mich verletzt“, sagt Aziz. „Ich bin in Deutschland geboren. Nur weil meine Eltern jetzt in der Türkei lebenwollen, ändert das doch nichts an meiner Vergangenheit.“
Wenn Aziz Tekin nichts unternimmt, wird er die Aussicht verlieren, mit achtzehn Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen. Die Frage, ob die Türkei tatsächlich seine neue Heimat werden soll, wäre damit entschieden. Dabei fühlt er sich hier genauso wenig richtig wie in Deutschland. Sein Vater will mit ihm zum Bundesverwaltungsamt gehen, um die Sache zu klären. Zuvor aber muss der Sohn noch ein paar Klassenarbeiten schreiben. Danach fliegen sie. Das hat Herr Tekin fest versprochen.
Text: F.A.Z.
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