Die jahrhundertealte Tradition des Kamelkampfs in Westanatolien hat ihren Ursprung in der Zeit, als Nomadenvölker ihre Karawanen auf dem Weg vom Orient in das Abendland Tausende Kilometer weit durch das Land führten.
Heute gilt die Tradition als rückläufig, denn nur die Reichen können es sich leisten, Kamele ausschließlich für Ringkämpfe zu halten, zu füttern und zu trainieren. Vor einiger Zeit war das Phänomen in der gesamten anatolischen Region der Türkei verbreitet, heute ist es vor allem auf die ägäische und mediterrane Küste beschränkt. Dennoch kann man die tausendjährige Tradition in einer Reihe von Meisterschaften beobachten – eine sogenannte Camel Wrestling League beginnt Mitte bis Ende Dezember und geht bis März weiter.
Noch heute zählt der Kamelkampf, auf Neudeutsch auch „Kamelwrestling“ genannt, an der türkischen Ägäisküste zu einer der ehrwürdigsten Beschäftigungen anatolischer Männer. Zwischen Dezember und März, während der Brunftzeit der Kamele, lassen viele Orte im Südwesten der Türkei die uralte Tradition wieder aufleben. Camel Wrestling Championships ist ein rein türkisches Feature, das auf Augenhöhe mit spanischen Stierkämpfen und italienischen Hahnenkämpfen steht. Die Beschützer der Tierrechte sind zwar gegen solche Wettbewerbe, aber sie sind nicht gewalttätig und basieren tatsächlich auf natürlichen Instinkten. Die Spiele werden an verschiedenen Orten ausgetragen, aber der bekannteste Ort der Austragung solcher Kämpfe ist Selçuk in der Provinz Izmir. Oftmals versammelt sich dabei ein Publikum von 20.000 Personen und Selçuk ist der Ort, der als das meist besuchte Kamel-Wrestling-Festival der Türkei bekannt ist.Weitere Städte und Dörfer finden sich vor allem in den Provinzen Aydın, Çanakkale, Balıkesir, Denizli, Antalya, Konya und anderen. Einige, aber nicht alle von ihnen sind auf der Karte unten markiert.
Bereits Tage vor dem eigentlichen Wettstreit haben sich die Straßen des pittoresken Orts Selçuk in ein einziges pulsierendes Dorffest verwandelt. Es gibt kaum ein Haus, von dem nicht die türkische Nationalflagge weht oder an dem nicht ein Porträt von Kemal Mustafa Atatürk, dem Staatsgründer der modernen Türkei, prangt. Die Lokale im Zentrum des Orts sind bis auf den letzten Platz besetzt, davor tanzen Männer mit orangefarbenen Halstüchern durch die Nacht, ständig begleitet vom prägnanten Klang der Trommeln und der türkischen folkloristischen Oboe (Zurna), gespielt von Roma-Musikern.
Der Duft von gegrilltem Fleisch durchzieht die nächtliche Kulisse, über den Köpfen der Gäste werden Platten mit lokalen Köstlichkeiten balanciert, fast sekündlich wird der Raki nachgeschenkt. Das Kamelwrestling hat in der Türkei eine lange Tradition, wird in Selçuk aber erst seit etwas mehr als dreißig Jahren wieder regelmäßig betrieben. Während zwischen Frühjahr und Herbst Hunderttausende Touristen ins nahe gelegene Ephesos reisen, um die antiken Ruinen der berühmten Celsus-Bibliothek und des Hadrian-Tempels zu erkunden, finden sich in den Wintermonaten kaum ausländische Gäste in der Region. Bislang hat sich das trotz des einmaligen Kulturereignisses auch nicht geändert, und so gehört Selçuk in diesen Tagen ausschließlich den Einheimischen.
Heute nur mehr Zweikämpfe
Am Vortag des eigentlichen Wettkampfs werden die wunderschön dekorierten Kamele mit erheblichem Pomp durch das Stadtzentrum von Selçuk geführt. Während viele der Männer den Kater des exzessiven Raki-Konsums der vergangenen Nacht mit reichlich Chai oder türkischem Kaffee wegspülen, inspizieren neugierige Kinder mit ihren Müttern und Großeltern die Kamele, die darauf warten, vom Preisrichter prämiert zu werden. Wer dabei gewinnt, erscheint für viele der Männer nebensächlich, das eigentliche Ereignis in der antiken Arena von Ephesos steht noch bevor. Stattdessen wird jeden Abend bis spät in die Nacht gegessen, getrunken und getanzt. An einem der Tische in Gökhans Lokal sitzt Hussein, ein erfahrener Festivalteilnehmer. Knapp ein Dutzend Mal hat er sein Kamel Süleyman, benannt nach dem bedeutenden Osmanenherrscher, in den Wettkampf geschickt und ging, wie er betont, immer als Sieger hervor. „Früher kämpfte ein Kamel mehrere Runden bis ins Finale, doch heute gibt es so viele Teilnehmer, dass nur mehr Zweikämpfe stattfinden“, erläutert Hussein die Entwicklungen im Wettkampfgeschehen.
Knapp 1200 Wettkampfkamele, genannt Tulu, soll es in der Türkei mittlerweile geben. Die meisten davon wurden eigens gezüchtet und für viel Geld aus dem Iran oder Afghanistan importiert.
Umgeben von ergebenen Zuhörern erzählt Hussein abenteuerliche Geschichten vergangener Kämpfe, deren Intensität mit jedem Glas Raki zuzunehmen scheint. Viele der gegnerischen Kamele seien bereits beim Anblick von Süleyman geflohen. Die Männer lachen laut über die Feigheit der Kamele aus Husseins Anekdote.
Laut Wettkampfregeln kann ein Kamel auf drei Arten siegen: Bei der ersten Methode vertreibt das Kamel den Rivalen durch seine imposante Erscheinung, bei der zweiten brüllt das unterliegende Kamel, sobald es der Stärke des anderen nicht mehr entgegenwirken kann. Bei beiden Ereignissen verlassen der Verlierer und somit auch sein Besitzer unter dem Gelächter der Masse die Wettkampfarena. In den meisten Fällen jedoch versuchen sich die Kamele gegenseitig niederzudrücken oder umzustoßen, um somit die Überlegenheit und den daraus resultierenden Anspruch auf das Weibchen klarzustellen. Dabei können die Tiere schon einmal wilder werden. Wird eines der Kamele niedergedrückt, versucht es, dem Rivalen in die Haken zu beißen, um die Situation wieder auszugleichen. Dies kann jedoch gefährlich werden, und es besteht die Gefahr, dass sich die Tiere gegenseitig verletzen. „In diesem Fall ist der Besitzer des unterlegenen Kamels verpflichtet, ein Seil in die Mitte zu werfen und seine Niederlage einzugestehen, um Gefahr für die Tiere abzuwenden“, erklärt Hussein den Verhaltenskodex. „Das Kamel ist seinem Besitzer mehr wert als das eigene Leben“, fügt er hinzu. Nie würde er zulassen, dass Süleyman verletzt wird.
Kurze Konfrontationen
Bereits in den frühen Morgenstunden sammeln sich Tausende Besucher in der Arena nahe Ephesos, um sich die besten Plätze für den bevorstehenden Wettkampftag zu sichern. Holzstühle werden aufgestellt, Picknickdecken ausgebreitet, Grillmöglichkeiten aktiviert und Dutzende Raki-Flaschen in Position gebracht.
Der erste Kampf beginnt knapp nach zehn Uhr morgens. Zwei Kamelbullen werden unter tosendem Applaus der Menge in die Arena geleitet. Die beiden wirken zunächst etwas träge, denken nicht daran, um das in der Nähe stehende Weibchen zu buhlen. Die Besitzer gehen mit den Kamelen im Kreis, bis plötzlich doch der Funke der Rivalität überspringt und das natürliche Brunftverhalten aktiviert wird. Immer wieder versuchen die Tiere, mit ihren langen Hälsen den Gegner niederzudrücken. Gefahr droht den Tieren dabei nicht. Schon bald entscheidet sich eines der Kamele, den Rückzug anzutreten. Die Menge jubelt. Gemeinsam trotten die Paarhufer relativ unbeeindruckt aus der Arena. Die Spiele mögen beginnen. Über 60 Zweikämpfe stehen auf dem Programm, wobei jeder etwas weniger als zehn Minuten in Anspruch nehmen wird.
Nach einigen Stunden sind die Besucher in der Arena so richtig in Fahrt. Im Akkord kündigt der Ansager die Namen neuer Wettkampfteilnehmer an, Männer tanzen zu den Klängen der Trommeln und der Zurna, an jeder Ecke werden Kamelwürste gebraten und in Sandwiches verkauft. Als endlich auch Hussein und sein Kamel, Süleyman, die Arena betreten, scheint die Stimmung des Publikums an ihrem Höhepunkt angekommen zu sein.
Der Kampf beginnt. Routiniert sucht Süleyman seinen Vorteil und beginnt, das generische Kamel zu Boden zu drücken. Beide Tiere versprühen Unmengen an schaumigem Speichel, ein für brunftige Bullen typisches Verhalten, während sie sich wieder aufrichten und die Situation neu abwägen. Abwechselnd scheint eines der Kamele die Oberhand zu behalten, nur um sich dann dem Gegner wieder unterwerfen zu müssen. Husseins Blick wirkt angestrengt. Der Mann weiß, dass keines der Tiere flüchten wird. Es könnte für die Kamele bald zu anstrengend werden, dann müssten die Männer eine Entscheidung treffen.
Noch einmal scheint sich das Blatt zu wenden, doch bald sind beide wieder gleichauf, gehen in die Knie und beginnen, einander in die Haken zu beißen. Die Männer wissen: Der Kampf muss zum Wohl der Tiere beendet werden, bevor sich Süleyman und/oder sein Rivale ernsthaft verletzen. Beide Männer werfen die Seile. Jubelnd erhebt sich das Publikum von seinen Plätzen. Was für ein Kampf! Unter tosendem Applaus urteilt schließlich auch der Schiedsrichter: „Unentschieden.“ Beide Kamele gehen als Sieger hervor. Voller Stolz verlassen Hussein und Süleyman die Arena. Bereits in wenigen Tagen werden sie bei einem anderen Wettkampf im Süden der Türkei antreten. Bis dahin heißt es verschnaufen und bei einem Glas Raki den Kampf des Tages nochmals Revue passieren lassen.
(Text überwiegend von Michael Biach)
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