Zwangsheirat auch für türk. Männer / Chr. Eichelmann
Nicht nur muslimische Frauen werden zwangsverheiratet, auch die Männer dürfen oftmals nicht selbst bestimmen, wer ihre Ehefrau werden soll. Mahmut Hayat aus Berlin ist einer der wenigen, der bereit ist, darüber zu reden.
Die Kehrseite des Klischees: Oft können sich auch muslimische Männer nicht aussuchen, wen sie heiraten
Was echte Liebe ist, weiß Mahmut Hayat*. Er hat sie erlebt, damals, als Junggeselle. Seine Angebetete war minderjährig. Das wäre für eine Heirat in Ostanatolien kein Hindernis. Wohl aber, dass er, wie auch das Mädchen, jemand anderem versprochen war. Die jungen Leute aber hatte es voll erwischt. Selbst eine Gefängnisstrafe konnte Hayats Willen nicht brechen. Schließlich gab die Familie nach und dem Paar ihren Segen.
Murat Hayat kennt die Geschichte von der Liebe seiner Eltern. In dem Vater diesen tapferen, unabhängigen Menschen zu erkennen, das aber fällt dem in Berlin geborenen Türken schwer. Denn wie seine Geschwister wurde auch er zur Ehe gezwungen. Von den Eltern. „Ich habe meinen Vater gefragt, erinnerst du dich nicht an damals“, sagt Hayat und zuckt die Schultern. Irgendwo auf dem Weg in die Fremde war dem Gastarbeiter der ersten Stunde der Mut zur eigenen Courage abhanden gekommen.
In einem Berliner Café sitzt Murat über einer Bitter Lemon und versucht, nicht den Faden zu verlieren. Die Erzählung drängt einfach immer weiter, jetzt, wo Hayat beschlossen hat zu reden. Früher schrieb er Tagebücher, die er wieder vernichtete aus Angst vor fremden Lesern. Sie wären auf viel Traurigkeit gestoßen: In Hayats Familie ging man in die Ehe wie zu einer notwendigen, aber folgenschweren Operation. „Keiner von uns ist glücklich geworden“, sagt Hayat.
Männer profitieren bei einer Zwangsehe noch eher!
Vielleicht wäre die Bilanz weniger deprimierend, wenn es mehr Söhne als Töchter gegeben hätte. „Männer profitieren bei einer Zwangsehe noch eher“, weiß Ahmet Toprak. Der türkischstämmige Erziehungswissenschaftler an der Fachhochschule Dortmund forscht seit Jahren zu dem Thema. „Die meisten“, so Toprak, „orientieren sich an den Eltern, die ja auch nicht selbstbestimmt heirateten.“ Diskrete Seitensprünge werden Männern nachgesehen. Wie schwer die Last dennoch sein kann, weiß Kazim Erdogan. Der Neuköllner Psychologe hat in Deutschlands erster türkischer Männergruppe schon vermeintlich beinharte Patriarchen weinen sehen. „Es gibt einige, die durch eine Zwangsheirat unglücklich geworden sind. Aber nur wenige sind bereit, darüber zu reden.“ Rund 150 Männer kamen in Erdogans Projekt, kaum ein halbes Dutzend offenbarte, in der Zwangsehe zu leiden. „Wenn ich aber beobachte, wie gebannt die schweigende Mehrheit zuhört, weiß ich, auch dort stimmt einiges nicht.“
Anfang der 90er-Jahre wurde im Hause Hayat wieder einmal Verlobung gefeiert. Murat war 16. Die Älteste war zwei Jahre aus dem Haus, jetzt kam seine Lieblingsschwester an die Reihe. Selbstbewusst war sie, gut in der Schule, eine klasse Sportlerin. Als die 17-Jährige dem Bruder von ihrem heimlichen Freund erzählte, gab Murat den Verlobungsring dem Vater zurück mit den Worten: „Wir wollen das nicht.“ Der Vater war wütend, wurde handgreiflich. „Damals habe ich mich nicht durchgesetzt“, sagt Hayat. Noch vor der Hochzeit nahm sich seine Schwester das Leben.
Zur Beerdigung in der Heimat kamen sie alle, die ganze Verwandtschaft. Es wurde geweint und geklagt. Murat Hayat: „Wir dachten, jetzt wird mein Vater wach.“ Doch zurück in Berlin schien es, als habe die Verstorbene nie existiert. Kein Foto, keine Silbe erinnerte an sie. Stattdessen begann für Murat eine Zeit latenter Bedrohung. Nicht nur, weil die Heiratsfolge nun an ihm war. Peinlich genau hatte er sein Interesse am männlichen Geschlecht geheim gehalten. „Homosexualität ist bei uns tabu, tabu, tabu“, sagt Hayat, und seine sonst so freimütigen Augen werden mit jeder Wiederholung größer. Dann aber kam der Tag, als der Vater ihn in einer zweideutigen Situation sah. Bis heute weiß Murat nicht, ob dieser seine Homosexualität damals realisierte. Er habe was mit Drogen gedreht, redete sich der Junge raus, und der Vater schimpfte nicht. „Aber wenn er nachts an mein Bett kam, hatte ich jedes Mal Angst, jetzt tut er mir etwas an.
"Multikulti" ist natürlich die Abkürzung für multikulturell. Doch woher kommt der Begriff eigentlich
Ob das immer stärkere Drängen zur Heirat auch damit zusammenhing, hat Hayat nie erfahren. Schwulen Söhnen eine bürgerliche Identität zu geben, sei der Klassiker, sagt Ahmet Toprak. Fünf Jahre lang flog Hayat nicht in dieTürkei aus Angst, verkuppelt zu werden. Dann beugte er sich dem permanenten Druck. Von drei Fotos wählte er eines, ohne nachzudenken. „Für mich war es sowieso egal, ob es eine Fatima war, eine Dilan oder eine Nesrin.
Kennenlernen sollte er das anatolische Mädchen erst am Hochzeitstag. Dass sie noch keine 14 Jahre alt war, hatte der 22-Jährige nur von den Geschwistern erfahren – und noch einmal die Rebellion geprobt. „Sie war ja so jung wie meine kleine Schwester.“ Die immerhin sollte Hayat zwei Jahre später aus der Türkei zurückholen, ehe der Vater auch sie verloben konnte. Da endlich setzte er sich durch. Noch aber war er nicht so weit. Auf seinen Einspruch hin, hieß es lapidar, eine ältere, die passabel und noch nicht unter der Haube sei, finde er ohnehin nicht. Die Hochzeitsnacht überwachte Murat Hayats Oma. Eine strenge Frau, die vor ihrer Tür stehen blieb. Die jungen Leute aber redeten nur. Am zweiten Abend holte Hayat heimlich eine Rasierklinge und schnitt sich in die Hand.
Den Bruch mit der Tradition wagen
Heute hat das Paar Kinder. Für sie ist Hayat dankbar. Keinen Geburtstag seiner Frau, keinen Hochzeitstag hat er vergessen. „Sie ist eine tolle Frau und Mutter“, sagt er. Und, dass sie Freunde hätten sein können. Wenn es nicht in einer Ehe gewesen wäre. Manchmal, wenn er sehr deprimiert war, schimpfte er, er habe sie doch nie gewollt. „Hinterher entschuldige ich mich. Dabei stimmt es ja.“ Gelegentlich hatte er kurze Liaisons mit Männern. „Aber das ist es nicht. Ich will einen Partner fürs Leben“, sagt Hayat.
Zuletzt gab ihm wohl das den nötigen Mut. Er leitete die Scheidung ein, öffnete sich auch seinen drei besten Freunden. Zwei sind seither keine Freunde mehr. Gerne würde Hayat auch mit der Mutter reden. Er würde ihr sagen, dass er nicht versteht, warum sie ihm das Leben so schwer machen musste. Sie würde es wohl nicht verstehen, glaubt Hayat. Trotz ihrer Geschichte. Oder gerade deswegen: „Wer selbst unter Sanktionen der Gesellschaft gelitten hat, will das den eigenen Kindern ersparen“, sagt Professor Toprak. So könne ein Bruch mit der Tradition später umso strengere Traditionalisten hervorbringen. In Hayats Familie scheitert diese Strategie gerade gründlich. „21 Jahre ist meine älteste Schwester verheiratet, 21 Jahre unglücklich. Jetzt will sie sich auch trennen“, sagt Hayat.
*Namen von der Redaktion geändert