Doppelte Heimat: 60 Jahre Anwerbeabkommen

Doppelte Heimat: 60 Jahre Anwerbeabkommen

Das vor 60 Jahren von Deutschland und der Türkei unterzeichnete Anwerbeabkommen regelte die vorübergehende Beschäftigung türkischer Gastarbeiter. Inzwischen leben knapp drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland.

 

ARD: Weltspiegel-Reportage "Doppelte Heimat"

Haydar Zorlu rezitiert oft und gerne Goethes Faust. Der deutsch-türkische Schauspieler erhebt mit großer Geste und Mimik die Stimme, wenn er beispielsweise selbst hergestelltes Johannis-Kraut-Öl in seinem Olivenhain bei Izmir abfüllt. Dann nimmt er mit stechendem Blick das kleine Glasgefäß mit dem Öl ins Visier und tief aus seinem Innersten, so scheint es, kommen die nicht nur bei Faustkennern bekannten Sätze: "In dir verehre ich Menschenwitz und Kunst, du Inbegriff geheimnisvoller Zaubersäfte, du Auszug aller magisch feinen Kräfte. Erweise mir nun deine wunderbare Gunst."

"Gastarbeiter" der ersten Stunde

b_450_450_16777215_00_images_kultur_ausbildung_deutsch-tuerkische-universitt-eroeffnung.jpgDer 54-Jährige ist Enkel eines türkischen sogenannten "Gastarbeiters" der ersten Stunde: Zorlu kam als Kind nach Köln, wo er aufwuchs. Inzwischen besitzt seine Familie einen Feinkostladen in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Eitorf. Seit mehreren Jahren lebt Zorlu im Land seiner Vorväter, in besagtem Olivenhain in Izmir. Dort hat er sich ein Amphitheater gebaut. Er nennt es sein Theatron.
Als Jugendlicher musste er für den Wechsel von der Hauptschule ins Gymnasium kämpfen. Die Lehrer förderten damals eher eine Karriere als Facharbeiter bei den Ford-Werken, erzählt Zorlu mit feiner Ironie. Der sprachlich Hochbegabte kann sich durchsetzen, macht sein Abitur, studiert zwei Semester Jura, um dann zur Germanistik zu wechseln. Er beendet sein Studium mit einem Diplom und beginnt die Karriere auf der Bühne. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Goethes Faust: Das meist zitierte und bedeutendste Werk der deutschen Literatur spielt er im Alleingang auf Deutsch und Türkisch in Theatern in Deutschland und der Türkei und hatte inzwischen 40.000 Zuschauer.

Wo ist Heimat?

Für eine 30-minütige Weltspiegel-Reportage hat das ARD-Studio Istanbul Haydar Zorlu mehrere Monate begleitet. Am Ende des Films kann Zorlu in seinem Theatron nach langer pandemiebedingter Pause endlich wieder vor Gästen ein Schauspiel inszenieren. Die Reportage spürt der Frage nach, wo Heimat ist, denn der deutsche Staatsbürger Zorlu lebt und arbeitet in zwei Sprachen, reist mehrmals im Jahr nach Deutschland und sagt, beide Länder seien für ihn Heimat.
Anlass der Reportage ist das am 31. Oktober vor 60 Jahren von Deutschland und der Türkei unterzeichnete deutsch-türkische Anwerbeabkommen, das die vorübergehende Beschäftigung türkischer Gastarbeiter regelte. Aus "vorübergehend" wurde für viele andauernd. Inzwischen leben knapp drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland. Viele von ihnen sind die Urenkel der ersten Gastarbeiter, die 1961 am Bahnhof in München ankamen, um für eigentlich nur ein Jahr in deutschen Betrieben zu arbeiten.

Deutschland als Exil

b_450_450_16777215_00_images_wirtschaft_woman-self-employed.jpgEinige in Deutschland lebende Deutsch-Türken kamen aber auch, weil sie Anfang der 80er-Jahre nach einem Militärputsch in der Türkei aus politischen Gründen das Land verlassen mussten. Dilsad Budaks Vater war damals Gewerkschafter, wie auch sein Bruder Kenan. Das Regime verfolgte Oppositionelle. Ein Polizist erschoss Kenan hinterrücks. Daraufhin flüchteten Dilsads Eltern mitsamt den Kindern aus der Türkei. Dilsad wächst im nordrhein-westfälischen Velbert auf. Seit zehn Jahren lebt sie mit ihrem türkischen Mann in Istanbul. Die Flucht nach Deutschland, die Kindheit in Velbert, das neue Leben in Istanbul hat Dilsad Budak verwoben in die Geschichte der Gastarbeiter und als Schauspiel inszeniert.
Die Weltspiegel-Reportage begleitet neben Haydar Zorlu auch die Bühnenkünstlerin Dilsad Budak durch die vergangenen Monate bis zu einem Auftritt im August in Deutschland. (Quelle)
Die ARD zeigt die Weltspiegel-Reportage mit dem Titel "Doppelte Heimat" am Samstag, den 2. Oktober um 16.30 Uhr im Ersten.

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