Türkei: Aleviten demonstrieren für mehr Freiheiten

Zehntausende Angehörige der alevitischen Gemeinschaft der Türkei gingen am vergangenen Sonntag in Istanbul für mehr Freiheiten auf die Straße.

Aleviten aus mehreren Städten strömten in Istanbuls Hafenviertel im asiatischen Teil der Stadt, weil sie sich von Erdogans Reformen vernachlässigt fühlten.

Aleviten sind Mitglieder einer auf das 13./14. Jahrhundert zurückgehenden, mit dem Zuzug von turkmenischen Stämmen nach Anatolien entstandenen islamischen Glaubensrichtung. Die Beziehung zum schiitischen Islam lässt sich über Ismail I. herstellen. Die Konfession an sich wird als Alevitentum bezeichnet.

Während der sonntäglichen Demonstrationen in Istanbul riefen sie Slogans für Gleichheit und Religionsfreiheit und verurteilten die Politik der Regierung Erdogan, hinter der sie intensive Assimilierungsbestrebungen vermuten. Sie forderten auch weiterhin die Anerkennung ihrer Gotteshäuser sowie die Abschaffung des sunnitisch ausgerichteten Religionsunterrichts an Schulen.

Das Alevitentum ist eine moderate islamische Sekte, der rund ein Sechstel der türkischen Bevölkerung angehört. Während des Ramadans müssen Aleviten nicht fasten, sie dürfen Alkohol trinken und sind bei der Religionsausübung nicht nach Geschlechtern getrennt.

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Sie stellen mit etwa 12,5 Millionen Anhängern schätzungsweise über 15 Prozent der Bevölkerung. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es noch 30 Prozent. Die offiziell-staatliche Statistik weist 99,8 % allerTürken als Muslime aus.

Die Aleviten leben in allen Provinzen der Türkei; traditionell sind dies allerdings vor allem die Provinzen Çorum, Amasya, Tokat, Sivas, Erzincan, Erzurum, Tunceli, Malatya, KahramanmaraÅŸ und Hatay (insbesondere Antakya). Durch Binnenmigration leben sie heute mehrheitlich in Großstädten wie Istanbul, Gaziantep, Ankara, Izmir undBursa. Unter den Aleviten existieren unterschiedliche Richtungen:

Die Gruppe der „modernen Aleviten“ sieht das Alevitentum als Teil des Islams. Dieser Gruppe ist bewusst, dass das Alevitentum nicht so wie vor mehreren Jahrzehnten in türkischen Dörfern praktiziert werden kann. Statt einer Isolierung vertreten diese Aleviten die Öffnung hin zur Gesellschaft, beispielsweise durch die Forderung, den alevitischen Glauben gesetzlich anzuerkennen und eigenen Religionsunterricht erteilen zu dürfen. Nach dieser Ansicht ist das Alevitentum eine Religion unter vielen in einer multireligiösen Gesellschaft, und es ist deswegen auch selbstverständlich, dass Menschen dem Alevitentum beitreten können.

Eine andere Gruppe von Aleviten mit politischer Unterstützung durch islamisch geprägte Interessengemeinschaften sieht sich in erster Linie als Muslime und nicht als Aleviten. Sie versuchen deswegen auch eine Annäherung an die Sunniten zu erreichen, indem sie z. B. neben dem Cem-Gottesdienst auch das sunnitische Gebet in einer Moschee verrichten. Gleichzeitig will diese Gruppe aber das ursprüngliche Alevitentum bewahren und lehnt jede „Modernisierung“ ab.

Eine weitere Gruppe sieht das Alevitentum als eine eigenständige Religion an und beharrt, wie die erste Gruppe, auf den Unterschieden zwischen Sunniten und Aleviten. Sie lehnen einen Beitritt zur sunnitischen Gemeinschaft ab und wollen das Alevitentum nicht einer breiteren Öffentlichkeit bekanntmachen, sondern weiter als eine Art „Geheimlehre“ praktizieren. Erklären lässt sich dies durch die Erfahrung der Unterdrückung und Verfolgung durch Sunniten.

Aufgrund ihrer Unterdrückung im Osmanischen Reich wurden die meisten Aleviten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Unterstützer Kemal Atatürks, da ein laizistischer Staat ohne Kalifat den Aleviten mehr Freiheiten gab als vorher. Durch die neuen Gesetze des Staates wurden aber auch alle alevitischen Orden und Sekten geschlossen. So wurde das Haci-Bektas-Veli-Tekke in Nevşehir zu einem Museum umgebaut. 1937/38 fielen im Massaker von Dersim wahrscheinlich mehr als 10.000 Aleviten der türkischen Armee zum Opfer.[16]

Trotz der gesetzlichen Besserung kam es aber in der jüngeren Geschichte der Türkei zu Pogromen gegen Aleviten, so zum Beispiel 1978 in den Städten Çorum und KahramanmaraÅŸ. 1993 wurden bei einem alevitischen Kulturfestival in Sivas ein Brandanschlag auf ein Hotel verübt, bei dem 37 Menschen – meist alevitische Künstler und Sänger – ums Leben kamen. Die Teilnehmer hatten sich dorthin zurückgezogen, nachdem Gegner das Fest angegriffen und die Teilnehmer massiv bedroht hatten. Ziel der Attacken war der Schriftsteller Aziz Nesin, der zuvor das Buch „Satanische Verse“ Salman Rushdies ins Türkische übersetzt und die zunehmende Islamisierung und allgemein die Zustände in der Türkei kritisiert hatte. Die Duldung dieses aggressiven Massakers und die nur sehr zögerlichen Rettungsaktionen ließen den Verdacht aufkommen, dass örtliche und staatliche Organe Partei für die Mehrheitsbevölkerung genommen hätten. Religiöse Extremisten bewerteten die Einladung von Aziz Nesin als Ehrengast zu einem alevitischen Fest als eine „politische und bewusste Provokation“ und als „Zeichen der Ablehnung der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft“.

Nach den seit 1924 gültigen Verfassungen der Türkei sind Sunniten und Aleviten gleichberechtigt. Allerdings werden sie in den letzten Jahren zunehmend diskriminiert und geraten besonders seit der Jahrtausendwende unter Druck der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft. Anschläge auf Aleviten häufen sich.

Der türkische Staat subsumiert die Aleviten unter die islamischen Glaubensrichtungen. Auch heute noch betrachten die Aleviten eine laizistische Staatsform als Grundlage und Garantie ihrer Existenz. Doch wurden viele Aleviten und alevitische Gemeinden seit der Reislamisierung der Republik Türkei ab den 1970er Jahren durch die staatliche Behörde für (sunnitische) Religionsangelegenheiten, genannt Diyanet, assimiliert.

Einige Aleviten vertreten die Meinung, dass das Alevitentum den „wahren“ Islam der Türkei geschaffen habe, ihr Islam entspräche den Eigenheiten der Türken mehr als die den Arabern entlehnte Orthodoxie. Besonders jugendliche Aleviten jedoch versuchen wegen der Diskriminierung aus der sunnitischen Umgebung sich den Sunniten anzugleichen und besuchen Koranschulen, fasten im Ramadan und halten die Geschlechtertrennung ein.

Die Europäische Kommission hat die zunehmende Diskriminierung der Aleviten in der Türkei im Rahmen der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union mehrfach kritisiert, unter anderem in der „Empfehlung zu den Fortschritten der Türkei auf dem Weg zum Beitritt“ vom Oktober 2004. Ein Beitritt der Türkei zur EU ohne Anerkennung der Aleviten als konfessionelle Minderheit ist aufgrund der alle EU-Staaten verpflichtenden Religionsfreiheit daher undenkbar.

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