Der Kanun - Mythos um die uralte Gesetzgebung der Ehre

Der Kanun - Mythos um die uralte Gesetzgebung der Ehre

In und um Shkodra war mit Beginn der 1990er Jahre und dem Niedergang der Diktatur des Envar Hoxha das albanische Gewohnheitsrecht, oftmals mit Kanun bezeichnet, wieder aufgelebt.

Ohne diese Gesetzgebung tatsächlich genau zu kennen, glaubten viele Menschen, Blutrache ausüben zu dürfen. Hunderte von Familien in der Region konnten ihre Häuser nicht mehr verlassen, Männer flüchteten in so genannte Fluchttürme (im Bild) und verbarikadierten sich, weil sie von der Blutrache bedroht waren. Inzwischen sind viele unabhängige Organisationen und auch Privatpersonen in der Versöhnung der teilweise seit ewigen Zeiten verfeindeten Parteien sehr erfolgreich engagiert. Dank dieser Vermittlung und dem intensiven Einsatz der Organisationen hat sich die Lage in den letzten Jahren merklich entspannt. So wurden in den Jahren 2004 bis 2006 im Qark Shkodra nur noch ein oder zwei Blutrache-Morde pro Jahr registriert.

Der Kanun ist das ursprünglich nur mündlich übertragene Gesetz des albanischen Gewohnheitsrecht. In den nordalbanischen Bergen wie im Kelmend oder Valbona waren die Bewohner durch die dortigen geografischen Gegebenheiten so von der Außenwelt abgeschottet, dass sich hier ein aus dem Mittelalter stammendes, möglicherweise sogar vorrömisches Gewohnheitsrecht bis in die Neuzeit erhalten hat. Dieses wird in seiner meistzitierten Fassung als Kanun des Lekë Dukagjini bezeichnet, nach einem zu Skanderbegs Zeiten lebenden mächtigen Fürsten. Unwahrscheinlich ist die häufige These, dass Lekë (Alexander) Dukagjini (1410–1481) Namensgeber oder sogar Urheber dieser Gesetzessammlung war.

Der Kanun hatte oftmals Vorrang vor staatlichen oder religiösen Rechtssystemen. Im Kosovo florierte dieses Konkurrenzrecht insbesondere während der Osmanischen Zeit (15. bis Anfang 20. Jahrhundert). In den unzugänglichen nordalbanischen Gebirgen hatten die Osmanen, die das Land rund 500 Jahre lang besetzten, nie wirklich die Macht erlangt. Somit konnten sie dort auch nicht ihre Gesetze einführen. Mangels anderer staatlicher Macht konnte sich der Kanun deshalb bis in die Neuzeit erhalten, später aber auch unter serbischer Herrschaft. Experten wie der kanadische Albanienforscher Robert Elsie mutmaßen, der Kanun könnte im kosovarischen Hochland auch heute neu aufflammen, als Konkurrenzrecht zu dem der internationalen Truppen.

Der Kanun regelt die wesentlichen Aspekte des Sozialverhaltens. Wesentlicher Bestandteil ist dabei die Ehre des Mannes. Bekannt ist er wegen seiner verstaubten archaischen und patriarchalischen Werte. So werden schwere Verletzungen des Rechts „mit Blut gerächt“. Solche Blutschulden wurden innerhalb der Familie vererbt, was in der Vergangenheit immer wieder zu blutigen Fehden über Generationen ausartete.

Grundlage des Kanuns ist eigentlich das Leben in der typischen Großfamilie, in der meist drei Generationen unter der Anführerschaft des ältesten Mannes unter einem Dach wohnten. Die Gesetzessammlung regelt die Bereiche Schuldrecht, Ehe- und Erbrecht, Strafrecht sowie Kirchen-, Landwirtschafts-, Fischerei- und Jagdrecht ziemlich umfassend. Im Strafrechtsbereich ist der Kanun noch von der Ehrverletzung geprägt, wobei der Begriff des Gottesfriedens als Teilaspekt der Besa bekannt ist. Da der Kanun bis heute tief im Denken der nordalbanischen Gegend verwurzelt ist, entsteht oft ein Konflikt zwischen modernen Gesetzen und dem Kanun.

Frauen spielen im Kanun eine marginale Rolle und haben kaum Rechte. Sie galten als „Schlauch“ (shakull), „in dem die Ware transportiert wird“, sind aber auf der anderen Seite unverletzlich, wenn es zu Ehrverletzungen kommt. Die Frau wird geboren, um Kinder zu kriegen. Noch vor einer Generation folgten die Kosovaren diesen mündlich überlieferten Gesetzen. Danach diente die Ehe außerdem dazu, nützliche Familienbande zu knüpfen. Die Wahl des Ehepartners regelten die Väter. Braut und Bräutigam sahen sich erst am Hochzeitstag.

Unbekannter ist das ebenfalls im Kanun enthaltene Gastrecht. Als Gäste werden Freunde und Schutzsuchende gleichermaßen verstanden. Sie werden mit größtmöglichem Aufwand bewirtet und beschützt. Erst wenn der Gast über die Dorfgrenze gebracht wurde und dem Gastgeber den Rücken zugekehrt hat – so heißt es im Kanun – endet die Pflicht zur Gastfreundschaft für den Albaner. Und gerade diese Gastfreundschaft spürt man in Nordalbanien als Camper oder Wanderer bis heute.

Der ganze Kanun baut auf der Ehre auf, aus der sich zahlreiche Pflichten, negative Aspekte wie die Blutrache, aber auch positive Aspekte wie das Gastrecht und die Besa ableiten. Letztere lässt sich nicht direkt ins Deutsche übersetzen, sondern umfasst die Begriffe „Friedenspakt, Allianz, Waffenstillstandsabkommen, gastfreundschaftliches Bündnis, Ehre des Hauses, Ehrenwort, Schwur, Sicherheitsgarantie, Loyalität, Treue und anderes mehr“. Die Besa schützt von der Blutrache Bedrohte für gewisse Zeiten oder Orte vor Verfolgung und entbindet gleichzeitig den zur Blutrache Verpflichteten, ein Verbrechen zu rächen.

Die Besa konnte einerseits zwischen Personen oder Familien vereinbart werden. Sie wurde zum Beispiel für wichtige Besorgungen, Feldarbeit, familiäre Feiern oder kirchliche Feiertage gewährt. Meist wurde auch einem Mörder für gewisse Zeit nach einer Blutrachetat Besa gewährt. In der Besa für Vieh und Hirten erlaubten Stämme untereinander, das andere Stammesgebiet zu bestimmten Zeiten und auf bestimmten Strecken bereisen zu dürfen. Die allgemeine Besa unterband alle Sühnetaten in Kriegszeiten.

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