Aktuell - tiefgründige Begegnung in Alexandroupolis

Begegnung in Alexandroupolis

Auf der Durchreise zum Balkan sind wir im Rahmen unserer Projekttour erneut auf dem Campingplatz in Alexandroupolis eingetroffen. Das Ereignis, das uns hier begegnen sollte, ist zwar bereits fast 10 Jahre her, von seiner Brisanz allerdings aktueller denn je. Zeigt es doch einmal mehr den Schrecken von Terror, Gewalt, Krieg und den Folgen mit Flucht und Migration.

Schon während der Anfahrt zum Campingplatz war uns ein schwer bepackter Landrover an der Straße aufgefallen, der auch nach einem Platz zum Übernachten zu suchen schien. Aber dazu später mehr.

Fahrt Richtung Canakkale - warten auf die Brücke

herz von jenin 08Wir hatten den Oba Campingplatz in Güzelbahce bei Izmir am frühen Vormittag verlassen und waren dann Richtung Canakkale gefahren, zunächst dem Verlauf der E87 / D550 folgend, die jetzt in einem weiteren Teilstück als Autobahn fertig gestellt ist, was leider für den wirklich nervigen, kurvigen Pass bei Yesilyurt noch nicht gilt. Schwere LKW "blockieren" den Verkehr dort manchmal extrem. Trotzdem erreichten wir den Hafen von Lapseki zur Überfahrt nach Gelibolu recht zügig. Wir ziehen die Überfahrt in Lapseki der Fähre in Canakkale vor, da die Weiterfahrt in Richtung Kozan von Gelibolu aus auf der neuen Straße einfacher zu bewältigen ist. Bis zur Grenze nach Griechenland sind es dann auch nur noch rund dreißig Kilometer. Erstaunt waren wir über die Schlange der wartenden LKW, somit war klar, das der Streit in der Grenzabfertigung zwischen der Türkei und Bulgarien noch immer nicht beigelegt ist.

Ankunft in Alexandroupolis - eine Überraschung erwartet uns

herz von jenin 01Mit nur geringer Verzögerung waren aber alle Grenzformalitäten erledigt und auch die letzten 40 Kilometer bis Alexandroupolis abgefahren. Einmal auf dem Campingplatz angekommen, war auch der Wohnwagen schnell aufgebaut und eingerichtet, so das wir noch einen Rundgang über den Platz, der uns übrigens zunehmend besser gefällt, vornehmen konnten. Und siehe da, auch die Insassen des bereits erwähnten Landrovers waren dabei, ihr Dachzelt zu errichten. Am frühen Morgen des nächsten Tages wollte ich nach ihren Reisezielen fragen, denn die Ausstattung sah nach einer wirklich interessanten Expedition aus.

Gesagt, getan und schnell waren wir am nächsten Vormittag tief in ein Gespräch verwickelt. Die beiden Schweizer Filmemacher Philip Spaar und Fabian Senn waren zusammen mit dem Kameramann Stefan Schöbi über den Balkan reisend in Richtung Israel unterwegs, um einen Dokumentarfilm über einen Dokumentarfilm über einen Dokumentarfilm – so könnte man die Geschichte des Filmprojekts „Road to Cinema Jenin“ nennen, zu erstellen. An verschiedenen Orten unterwegs wird der Dokumentarfilm "Das Herz von Jenin" vorgestellt und die nachfolgenden Reaktionen und Diskussionen des Publikums sowie die so verschiedenartigen Veranstaltungsorte werden filmisch dokumentiert.

Organfreigabe inmitten des Nahostkonflikt

herz von jenin 04Der Dokumentarfilm „Das Herz von Jenin“ erzählt die tatsächliche Geschichte des Ismael Khatib, der im Flüchtlingscamp von Dschenin im Westjordanland leben muss. Sein 11-jähriger Sohn Ahmed wurde im Jahr 2005 wegen einer realistisch wirkenden Spielzeugwaffe und der damit einhergehenden Verwechslung mit einem bewaffneten Palästinenser von Schüssen israelischer Soldaten tödlich am Kopf getroffen. Ärzte im Krankenhaus von Haifa können nur noch seinen Hirntod feststellen. Vater Ismael Khatib muss entscheiden, ob die Organe seines Sohnes gespendet werden sollen. Mit seiner und seiner Ehefrau´s Entscheidung beweist er Menschlichkeit im Moment seines größten Schmerzes. Der Palästinenser ermöglicht durch die Organfreigabe inmitten des Nahostkonflikt israelischen Kindern das Weiterleben. Insgesamt fünf Patienten können Organe von Ahmed Khatib erhalten.

Der Film begleitet Ismael Khatibs Besuche bei drei der fünf Familien, deren Kinder dank Ahmeds Organen gerettet wurden. Die unterschiedlichen Begegnungen – mit einer jüdisch-orthodoxen, einer Drusen- und einer Beduinenfamilie, aber auch mit Soldaten am Checkpoint – spiegeln immer auch die Situation in der konfliktbelasteten Region wider.

Jenin war für lange Zeit die Hochburg der Al-Aqsa-Brigaden

herz von jenin 05Als im Jahr 2008 der Film „das Herz von Jenin“ erschien, gab es ein weltweites positives Medienecho, so erzählt Philipp Spaar, denn für einmal stand nicht die Eskalation des Nahost-Konflikts im Zentrum, sondern die Bereitschaft zur Versöhnung. In vielen Medien dominieren grundsätzlich die Kämpfe zwischen den Israeli und den Palästinensern die Schlagzeilen. Auch die Stadt Jenin im Westjordanland war immer ein Ort des Kampfes. Jenin heißt auch das angrenzende Flüchtlingslager, welches von Palästinensern im Jahre 1953 gegründet wurde. Jenin war für lange Zeit die Hochburg der Al-Aqsa-Brigaden, welche für zahlreiche Terroranschläge verantwortlich waren. Im Jahre 2002 führte Israel eine Militäroperation durch, um die Al-Aqsa-Brigaden unschädlich zu machen. Dabei wurde auch das Flüchtlingslager zu großen Teilen zerstört.

Unser Filmprojekt "Road to Cinema Jenin" geht der Frage nach, ob und wie Versöhnung oder Vergebung in Zeiten des Krieges möglich ist. Der "Weg nach Jenin" führt uns dabei über den Balkan – eine Region, die in jüngster Vergangenheit immer wieder von Kriegen und Konflikten heimgesucht wurde.

Der Nahost-Konflikt und der Balkan-Konflikt haben

herz von jenin 06Selbstverständlich hat jeder Krieg seine Eigenheiten und eine Geschichte. Der Nahost-Konflikt und der Balkan-Konflikt haben – wie alle Kriege – eines gemeinsam: Es ist immer die Bevölkerung, die darunter leidet. Fast immer trifft es überwiegend die Zivilbevölkerung.

So auch im Film „Das Herz von Jenin“, wo es um Ismail Khatib und seine Familie geht, dessen außergewöhnliches Handeln nicht in Vergessenheit geraten darf. Ihren Verlust und ihren Schmerz können viele Menschen auf dem Balkan während unserer Filmvorführungen spürbar nachvollziehen, sie erlebten ähnliches während der Jugoslawien-Kriege. Wir zeigen ihnen diesen Film und dokumentieren ihre Reaktionen darauf mit der Kamera. Wir möchten herausfinden, was sie von der versöhnlichen Geste des Palästinensischen Protagonisten halten. Herausfinden, was ihnen die Kraft gibt weiterzumachen und ob sie tatsächlich verzeihen können.

Deutscher Filmpreis als Bester Dokumentarfilm

herz von jenin 03"Das Herz von Jenin" ist ein Dokumentarfilm von Marcus Vetter und Leon Geller aus dem Jahr 2008. Im April 2010 erhielt „Das Herz von Jenin“ den Deutschen Filmpreis als Bester Dokumentarfilm. Der Film ist außerdem Ausgangspunkt des Projekts Cinema Jenin.

Vetters Kinodokumentarfilm "Das Herz von Jenin" über den Palästinenser Ismail Khatib erhielt den Deutschen Filmpreis 2010 als Bester Dokumentarfilm. Nach dessen Fertigstellung gründete Vetter den Verein Cinema Jenin e. V., der es sich zum Ziel gesetzt hat, das seit 1987 geschlossene Kino in Dschenin im Westjordanland wieder aufzubauen. Seit 2008 reist Vetter regelmäßig nach Dschenin, um das Projekt voranzubringen; zugleich drehte er einen Film über das Projekt, der 2012 vorgestellt wurde.

herz von jenin 07Wir sind tief beeindruckt vom Projekt der drei, die für ihre Idee den gewohnten und das eigentlich einfache Leben zu Hause eintauschen, um an ihrem Projekt zu arbeiten, das über fast zufällig zu nennende Termine und Orte zu Aufführungen des Films führt, wobei die Reaktionen des Publikums völlig unterschiedlich sein können. Wirklicher Mut und Willen gehört dazu, solch ein Projekt zu betreiben. Zumal allein die Projektausstattung nicht allein von den Dreien zu stemmen war, Leihgaben des Fahrzeugs sowie einige weitere Ausstattungselemente wurden von Freunden der drei zur Verfügung gestellt. Auch Marcus Vetter unterstützt das Projekt. Wir denken spontan und laut auch darüber nach, ob es nicht auch eine Option sein könnte, das Projekt im Rahmen von Vorführungen oder Filmnächten in der Türkei zu präsentieren. Dies vor allem auch vor dem Hintergrund, das auch die Wurzeln von Marcus Vetter zumindest teilweise in der Türkei liegen. Vielleicht in Kooperation mit dem Goethe Institut und alaturka.

Als im Verlauf des Nachmittags Philip an unserem Wohnwagen erscheint und erzählt, das die drei sich entschlossen haben, am Abend für uns eine Filmpräsentation vorzuführen, sind wir mehr als nur erfreut. So gibt es einen beeindruckenden und tiefgründigen Filmabend in Alexandroupolis.

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