Von der Ungerechtigkeit Gottes - Nevfel Cumart
- Geschrieben von Portal Editor
Mathias Enards Abenteuer- und Bildungsroman spielt rund um das Mittelmeer und thematisiert die aktuellen Krisen in islamischen Gesellschaften
Wenn es nach Literaturpreisen und Auszeichnungen geht, so hat der Franzose Mathias Énard einiges vorzuweisen. Alleine schon für seinen fulminanten Roman „Zone“ (2008) erhielt er in Frankreiche den „Prix Décembre“ und den „Prix du Livre Inter“ und in Deutschland den „Candide Preis 2008“. Ungewöhnlich war dieses knapp 600 Seiten starke Buch allemal: In 21 Kapitel bietet Enard einen endlos langen Gedankenstrom, der ohne einen einzigen Punkt auskommt und die Leser wie ein Sog mit sich zieht. Dabei seziert Enard das Leben und Sterben rund um das Mittelmeer von der Antike bis zum heutigen Tag. Selbst zurückhaltende Kritiker sprachen von einem „literarischen Wunder“ und lobten das Buch unisono in den höchsten Tönen. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an Énards neuen Roman „Straße der Diebe“ Um es vorab zu sagen: An das Mammutwerk „Zone“ kann der neue Roman nicht reichen. Aber das wäre ja auch ein neues Wunder. Und für den Lesegenuss sicher auch nicht notwendig.
„Grand Socco nach Touristinnen schielen“
Der 1971 geborene Mathias Énard studierte Arabisch und Persisch und verbrachte viele Jahre in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens. Seit drei Jahren lehrt er als Arabisch-Dozent an der Universität in Barcelona Mit dieser Biographie fand er auch sicher den Stoff für seinen neuen Roman. Er präsentiert die Geschichte des jungen Marokkaners Lakhdar vor dem aktuellen Hintergrund der Revolution in Ägypten und des Bürgerkriegs in Syrien und wählt als zweites Setting Barcelona im krisengebeutelten Spanien.
Énards Protagonist stammt aus der Banlieue von Tanger und macht sich trotz der Armut nicht so viele Gedanken um seine Zukunft, solange er mit seinem besten Freund Abbas am „Grand Socco nach Touristinnen schielen“ kann. Aus dem jugendlichen Rausch wird Verzweifelung, als er eines Tages beim heimlichen Liebesspiel mit seiner Kusine vom Vater überrascht und in Schande von der Familie verstoßen wird.
Lakhdar lebt zwei Jahre auf der Straße, bettelt, prostituiert sich, landet ganz unten und gerät irgendwann über seinen Jugendfreund Bassam an die „Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts“, die ihm Unterstützung und Unterschlupf gewährt. Um welchen Preis ihm diese Hilfe zuteil wird, kann oder will er vielleicht nicht erahnen. Er betreut die Bibliothek voller islamischer Erbauungsliteratur, liest Krimis westlicher Autoren in den Nächten und mischt sich in die gewalttätigen Aktionen der Gruppe unter der Führung des fanatischen Predigers Cheikh Nouredine nicht ein. Stattdessen verliebt er sich in die spanische Studentin Judit.
„Straße der Diebe“ ist immer noch eine gut konstruierte Mischung
Als nach einem Terroranschlag das Haus der Gruppe in Brand gesteckt wird, beginnt das Leben auf der Straße und die Reise ins Ungewisse aufs Neue für Lakhdar. Auf mehr oder weniger abenteuerlichen Wegen gelangt er schließlich mit Hilfe eines alten Seemanns aufs europäische Festland und macht sich auf nach Barcelona. Das Leben im Untergrund kennt er. Neu ist, dass er in einem der heruntergekommensten Viertel der Stadt ein illegales Dasein führt. Doch muss Lakhdar in der berüchtigten Straße der Diebe nicht nur die Polizei fürchten, sondern auch die ehemaligen Mitglieder der „Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts“. Denn eines Tages taucht sein Jugendfreund Bassam auf, der die vergangenen Monate im Untergrund gelebt hat. Als kurz darauf auch Cheikh Nouredine vor Ort ist, sprechen viele Indizien dafür, dass ein großes Attentat geplant ist. Lakhdar ist zwar geschwächt und unglücklich, weil seine Freundin Judit an einem Tumor erkrankt ist, doch stellt er sich auf seine Art und Weise den Islamisten in den Weg. Und zieht die weit reichenden Konsequenzen daraus.
Énard hat sich – so scheint es nach der Lektüre – ein wenig übernommen in dem Versuch, einen Bildungs- und Abenteuerroman gleichzeitig zu liefern, dabei noch die aktuellen Krisen in Ägypten, Tunesien und Syrien auf Umwegen zu beleuchten und die Auswirkungen der europäischen Wirtschaftskrise exemplarisch an seinem Protagonisten aufzuzeigen. Und gelegentlich wird man das Gefühl nicht los, dass der Figur Lakhdars zu viel Last aufgebürdet wird. Sei es drum! Das ist nur ein kleines Manko. „Straße der Diebe“ ist immer noch eine gut konstruierte Mischung aus Roadmovie und Thriller rund um das Mittelmeer und allemal lesenswert.
Nevfel Cumart
Mathias Énard: Straße der Diebe. Roman. Hanser Verlag, Berlin, 2013. 345 S. 19,90 Euro.
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