Der deutsch-türkische Straßenköter

Der deutsch-türkische Straßenköter

Kemal Kayankaya ermittelt nach über zehn Jahren wieder in Frankfurt! - Es geht nicht gerecht zu auf dieser Welt!

Ganz und gar nicht! Denn wie könnte es sonst sein, dass so ein begnadeter Schriftsteller wie Jakob Arjouni uns schon mit 49 Jahren verlässt und das Jahr 2013 zu einem traurigen Jahr macht. Nicht nur für seine Leserschaft. Und die hatte es sowieso nicht leicht, weil dieser Ausnahme-Autor zuletzt sehr „grausam“ sein konnte.

    Erst ließ uns Jakob Arjouni, dieser waschechter Deutscher, der oft für einen „Sohn türkischer Gastarbeiter“ gehalten wurde, zehn lange Jahre warten! Dann lieferte er uns auch noch einen völlig veränderten türkischen Privatdetektiv Kemal Kayankaya, den wir kaum wieder erkennen! Und doch lesen wir begierig Zeile für Zeile und sind dankbar, dass „Bruder Kemal“ endlich wieder im Einsatz ist und im Frankfurter Dreck wühlt.

    Der ist mittlerweile 53 Jahre alt, säuft kein Bier mehr, hat reichlich Bauch angesetzt, mit dem notorischen Rauchen aufgehört, fährt schwitzend Fahrrad, lebt mit einer ehemaligen Prostituierten in einer gepflegten Vier-Zimmer-Altbauwohnung im Frankfurter Westend und liebäugelt mit dem Vaterwerden. Willkommen im gutbürgerlichen Lager! Was würden die Kollegen Philip Marlowe und Sam Spade wohl zu soviel Demütigung sagen? Doch noch ist nicht alles verloren. Denn von seiner alten Straßenköter-Mentalität und seinem unfehlbaren Auge hat Kemal Kayankaya scheinbar nichts eingebüßt. Das wird schon auf den ersten Seiten klar, als er eine bildhübsche und reiche Mandantin aufsucht.

    Valerie de Chavannes ist eine französische Bankierstochter und Künstlergattin, bewohnt eine noble Villa im Frankfurter Diplomatenviertel und macht sich große Sorgen um ihre verschwundene Tochter, die vermutlich mit einem Fotografen durchgebrannt ist. Kayankaya soll die 16-jährige Marieke gegen ein imposanten Tages- und Schweigesatz finden und heimbringen. Sieht aus wie leicht und schnell verdientes Geld, zumal Mutter de Chavannes die Adresse des reizenden Fotografen (und Ex-Liebhabers) kennt.

    Doch Arjouni wäre nicht Arjouni, wenn sich dieser Fall nicht als ein Sumpf aus Prostitution, Vergewaltigung, Drogenhandel und Mord entpuppen würde. Und wenn er seinem arg gebeutelten deutsch-türkischen Privatdetektiv nach solch einer Dekonstruktion nicht noch eine weitere Bürde aufhalsen würde: Kayankaya wird zeitgleich von der Pressefrau eines Verlages engagiert, für einen bedrohten islamischen Autor auf der Frankfurter Buchmesse Bodyguard zu spielen. Der „Skandalautor“ Malik Rashid kommt aus Marokko und schreibt in seinem Roman über den Umgang mit Homosexualität in einem arabischen Land. Auch hier rechnet Kayankaya mit einem leichten Spiel, zumal er gleich die Drohkulisse als Marketingmittel durchschaut.

    Pech nur, dass Malik Rashid entführt wird und der Fall vollends aus dem Ruder gerät. Am Ende finden wir einen - immer noch - hart gesottenen Kayankaya, der um Haaresbreite einer Mordanklage entgeht und sich glücklich schätzen kann, dass er einen rumänischen Freund im Polizeipräsidium hat, der so deutsch aussieht, „als hätte Himmler ihn für den Erhalt der öffentlichen Ordnung noch persönlich züchten lassen“.

    Vollbärtige Islamisten, die mit Drogen dealen, skrupellose Zuhälter, die in feinen Kreisen verkehren, übereifrige Verlagsangestellte, die mit „getürkten“ Gefahrenszenarien den Buchverkauf ankurbeln, religiöse Eiferer, die vor Kidnapping nicht zurück schrecken, von Botox gezeichnete Upperclass-Frauen mit dunkler Vergangenheit. Arjouni bietet ein wahrhaft beeindruckendes Arsenal an Figuren auf und bettet sie in zwei komplexe Handlungsstränge ein, an deren Zusammenführung zweitklassige Autoren kläglich vollends gescheitert wären.

    Bei Arjouni entsteht daraus mit sarkastischem Humor und doppelbödigen Witz, mit Tempo und einer unbeschreiblichen Leichtigkeit eine ausgeklügelte Story. Anders gesagt: Arjouni bietet uns hohe Krimi-Kunst, die reichlich mit überzeugenden Milieustudien angereichert ist! Und keine Frage: Hierzulande gibt es niemanden, der so sympathische Figur erschaffen und so virtuos und gekonnt Dialoge schreiben kann (leider: konnte!) wie Arjouni! Möge seine Seele gut im Schriftsteller-Himmel ruhen.

Nevfel Cumart

Jakob Arjouni: Bruder Kemal. Kayankayas fünfter Fall. Roman. Diogenes Verlag; Zürich, 240 Seiten, 19,90 Euro.

Arjouni über Arjouni

„1964 in Frankfurt am Main geboren, aufgewachsen in Frankfurt und Oberroden. Mit zehn auf ein Internat im Odenwald. Mit zwölf zum ersten Mal ‚Rote Ernte‘ von Hammett gelesen – nicht alles verstanden, aber begeistert. Von vierzehn bis achtzehn regelmäßige Fahrten ins Frankfurter Bahnhofsviertel zum Pool-Billard. Sergio-Leone-Filme gesehen. Nach dem Abitur nach Montpellier, Südfrankreich. Abgebrochenes Studium. Zweieinhalb Jahre Arbeit als Kellner, Badeanzug- und Erdnussverkäufer. Ersten Roman geschrieben, ‚Happy Birthday, Türke!‘, und erstes Theaterstück, ‚Die Garagen‘. Mit zweiundzwanzig nach Berlin auf eine Schauspielschule. Schnell abgebrochen. Studium an der Freien Universität. Noch schneller. Hugo, Faulkner und Irmgard Keun gelesen. Roman ‚Mehr Bier‘ geschrieben, Theaterstück ‚Nazim schiebt ab‘, Roman ‚Ein Mann, ein Mord‘. Beruf gefunden. Umzug nach Paris. Theaterstück, ‚Edelmanns Tochter‘. Zurück nach Berlin. Roman, ‚Magic Hoffmann‘.“

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