Götterdämmerung im Feuersturm / Werner Koschan
Götterdämmerung im Feuersturm von Werner Koschan / Fortsetzung des Romans um die Flucht der Hauptperson Jakob Löwental
DRITTES BUCH
1.
»Raus aus dem Bett! Mitkommen!« Einer der beiden Polizisten schlägt die Bettdecke zurück und zerrt mich aus dem Bett. Der Schmerz in der Leiste wird unerträglich und ich sacke einfach zusammen. Kräftige Arme zerren mich unter den Achseln auf die Beine, halten mich fest umklammert. Vor Schmerz habe ich nur Schlieren vor den Augen. Fanny beschwert sich heftig über die unangebrachte Härte der beiden Beamten.
»Wenn hier etwas faul ist, Frau Schreiner, werden Sie erst merken, was es bedeutet, hart angefasst zu werden. Wir tun nur unsere Pflicht. Sobald der Ortsgruppenleiter auftaucht, hat er umgehend bei uns zu erscheinen. Aber Sie nehmen ja an, dass er nicht zurückkommt. Welche von beiden Versionen für Sie nun besser wäre, können Sie selbst ausknobeln.«
Mit diesen Worten tragen die beiden Männer mich eher, als dass ich selbst laufe, die Treppe hinunter und schieben Carola und mich in einen Wagen. Mit jaulendem Motor fahren wir ab.
Unterwegs erzählt mir Carola, was vorgefallen war. Im Meldeamt hatte sie eine Weile warten müssen. Zahlreiche Personen wollten sich melden und Marken beantragen. Offenbar trafen Flüchtlinge aus vielen Regionen in Hof ein. Das beruhigte Carola. In der Masse der Leute würde man sich kaum intensiv für uns interessieren. Schließlich war Carola an der Reihe. Sie legte die Meldekarten auf die Sperre aus Holz, die die Beamten vom Volk trennte.
»Ich möchte die Meldekarten für mich und meinen Mann abgeben. Bitte.«
»Herr und Frau Anders?«
»Ja.«
»Aus Dresden?«
»Ja.«
»Wann sind Sie angekommen und wo ist Ihr Mann?«
»Der liegt zu Hause im Bett. Er hat eine starke fiebrige Erkältung. Könnte er vielleicht erst nach der Genesung hierher kommen? Ich befürchte, dass er Sie anstecken könnte.«
»Wir sind nicht aus Zucker. Der soll nur kommen. Ordnung muss sein. Na, fangen wir mal mit Ihnen an.«
»Name? Anders?«
»Ja.«
»Mädchenname?«
Bevor Carola antworten konnte, rief eine Stimme vom Fenster her: »Tening. Carola Tening. Grüß Gott, Carola.«
Carola blickte den untersetzten Mann, der vom Fenster aus zu ihr gesprochen hatte, verwundert an. »Kennen wir uns?«
»Na sicher, meine Süße.« Er trat ebenfalls an die Sperre. »Nur dass ich seinerzeit mehr Haare auf dem Kopf hatte, weizenblonde Locken. Alle haben mich deswegen gehänselt, du ganz besonders. Na?«
Weizenblonde Locken? Das Gesicht? Keine Ahnung, dachte Carola, aber die Stimme. Die Stimme erinnerte sie an etwas. »Johannes? Johannes Sauermilch?«
»Ja, weizenblonde Locken und dazu dieser Name. Was für eine Tortur für einen Jungen. Du erinnerst dich also. Schön, dass man sich mal wieder trifft nach so vielen Jahren. Du warst ein bildhübsches Mädchen. Nun gut, als Frau hast du dich nicht zu deinem Nachteil verändert. Eher im Gegenteil.« Seine Augen hafteten auf Carolas Brust. »Dein Busen ist sogar noch hinreißender als damals. Hahaha.«
Ekel stieg in Carola empor. Ja, sie erinnerte sich an Johannes. Er hatte ihr täglich aufgelauert und war ihr bis nach Hause hinterhergelaufen. Nicht abzuschütteln. Und eines Tages hatte er sie im Schwimmbad unsanft und von niemandem bemerkt in eine Umkleidekabine geschubst, sie mehrmals sehr kräftig ins Gesicht geschlagen und ihr den Mund zugehalten. Mit der anderen Hand hatte er ihr den Badeanzug vom Oberkörper gezerrt und ihre Nacktheit mit geöffneten Lippen angestarrt. Dann nahm er unter Drohungen, sie abzumurksen, wenn sie den Mund auch nur zum Piepsen öffnen würde, die Hand von ihren Lippen und begann ihre Brüste mit beiden Händen roh zu kneten. Vor Angst gab Carola keinen Ton von sich, der Schmerz ließ Tränen in ihre Augen steigen. Nach endlos langen Minuten hielt sie den Schmerz nicht mehr aus und schrie laut auf. Johannes sprang förmlich aus der Kabine und verschwand. Nachdem Carola den Badeanzug über die Schultern gestreift hatte, schaute sie aus der Kabine. Kein Mensch war zu entdecken, der den Vorfall hätte bemerken können.
Sie hatte lange überlegt, ob sie sich der Peinlichkeit der Aufklärung unterwerfen sollte und kam zu dem Schluss, dass sie nicht die Chance einer Möglichkeit besäße, den Übergriff zu beweisen. Sie wurde regelrecht krank über dieses Geschehnis und fehlte tagelang im Unterricht. Die hinzugezogenen Ärzte fanden keinen körperlichen Grund für Carolas Verfassung. Nur ihre Freundin Hilde, die jeden Nachmittag zu Carola kam, um mit ihr die Hausaufgaben durchzugehen, damit Carola den Anschluss an die Klasse nicht verpasste, drang durch beinahe nebensächliches Fragen zum Kern des Problems in Carola vor. Schließlich erzählte Carola von dem peinlichen Geschehen.
Hilde hörte still zu, nickte und versprach, nur ihrem Bruder von den unerwünschten Nachstellungen zu berichten und ihn zu bitten, Johannes davon abzubringen, Carola weiter zu verfolgen. Genau so geschah es und Carola wurde bald wieder das freundliche, aufgeschlossene Mädchen von vorher. Nur, dass sie sich nicht mehr gerne ohne Begleitung auf die Straße traute. Und nachdem Johannes’ Vater nach Süddeutschland versetzt worden war und die Familie mitzog, begann Carola den Vorfall zu verdrängen. Vergessen würde sie ihn wohl nie.
Und nun stand sie mit der gleichen Angst Johannes gegenüber. Er wirkte triumphierend.
»Ich hatte gehört, dass du dich mit einem stinkigen Jud eingelassen hast. Hättest besser mich nehmen sollen, einen anständigen, aufrechten Deutschen, aber du hast dich lieber in eine verabscheuungswürdige Judenhure verwandelt. Nun gut, wirst schon sehen, was du davon hast. Papiere her!«
Der andere Mann, der mit Johannes am Fenster gestanden hatte, näherte sich ebenfalls der Sperre. »Du solltest ein wenig vorsichtiger sein, Johannes«, sagte er gedämpft. »Wir waren heute früh im Haus vom OGL Schreiner.«
»Na und?«
»Nun, diese Dame wohnt dort und ist anscheinend sogar mit dem Schreiner verwandt. Und der Mann, mit dem wir sie im Schlafzimmer angetroffen haben, hat Emil und mich ganz schön zusammengeschissen. Sagt, er sei ein bekannter Schauspieler am Theater und er kenne den Gauleiter von Dresden persönlich. Munschmann oder so.«
»Martin Mutschmann.«
»Ja, genau.«
»Na, schau mal einer an. Mit dem Martin.« Er lächelte dunkel. »Nun zeig mir zunächst mal deinen Pass, Carola. Ich darf doch noch du sagen, oder?«
Carola schwieg und reichte den Reisepass.
Der Mann blätterte in den Seiten des Dokumentes, betrachtete die Bilder und nickte schmunzelnd.
»Das ist also dein Judenschwein. Und wieso bekommt so einer einen gültigen Reisepass? Steht nicht mal irgendwas von Israel drin. Willst du mich für dumm verkaufen?«
Carola griff zur erstbesten Notlüge, das Schlimmste, was sie tun konnte.
»Mein erster Mann war Jude, aber der ist gestorben.«
Johannes Sauermilch lachte erheitert. »Hab davon gehört, dass Martin so etwas in der Art verkündet hatte. Wir sind seit unserer gemeinsamen Militärzeit weiterhin in Kontakt. Dass er sich nun plötzlich für irgendeinen albernen Mimen interessieren soll, glaub ich keine Sekunde lang. Es sei denn, dein Schauspielermann wäre ein weibliches Wesen. Das können wir ja überprüfen. Stutzig macht mich besonders, dass Joseph Schreiner mir nie etwas von deiner Witwenschaft erzählt hat und wir haben eine ganze Menge von dir erzählt. Er hat von dir bekommen, was er wollte. Das Glück hatte ich leider nicht. Noch nicht. Gut, lassen wir das.«
Er wandte sich dem Gestapomann zu. »Emil und du, ihr nehmt Carola in die Mitte und schafft mir den angeblich kranken Kurt Anders hierher. Wir werden ihn vernehmen, Fotos machen, Fingerabdrücke, das ganze übliche Programm. Vorwärts, Kameraden!«
Der Wagen hält und die beiden Männer schleppen mich in eine der Dienststuben und ich spüre den unbändigen Wunsch, mich zu setzen.
»Wollen Sie wohl stehen bleiben, Mann!«, befiehlt Johannes Sauermilch, den ich nach Carolas Beschreibung unzweifelhaft erkenne.
»Mir geht es sehr schlecht«, versuche ich zu erklären.
»Wenn wir mit Ihnen fertig sind, werden Sie Ihren jetzigen Zustand beinahe als paradiesisch betrachten.« Drei Männer lachen. Carola und ich zucken vor Angst zusammen. Vernehmung durch die Gestapo - so viele geheimnisumwitterte Geschichten kursieren im Land.
»Mit wem fangen wir an?«
»Erst den Kerl, nicht wahr, Carola, das ist dir bestimmt lieber, wenn dir ein wenig Zeit zum Nachdenken bleibt. Oder?«
Sie antwortet nicht.
»Wenn ihr mit ihm fertig seid, schafft ihn in eine Zelle. Die Frau bleibt vorsichtshalber ebenfalls zunächst in Gewahrsam. Na los, Herr Anders, oder wie immer Sie auch heißen, das kriegen wir schon schnell heraus.«
Die beiden Polizisten nehmen mich erneut zwischen sich und tragen mich beinahe wieder. Ein letzter Blick zu Carola. Sie schaut mich mit tränenüberströmten Augen an. Das wird wohl unser Abschiedsblick sein. Ich werde zur Tür hinausgeschoben. Hinter mir höre ich die Stimme von Johannes Sauermilch. »Halt, bringt ihn erst zum Fotografieren, sonst ist womöglich nicht mehr viel von ihm zu erkennen.«
Von den beiden lauthals lachenden Männern werde ich weitergeschoben. Schließlich landen wir in einem Raum, der wie ein Laboratorium wirkt. Ein Männlein in wehendem weißem Kittel betrachtet mich aus dunklen Augenhöhlen. »Setzens Eahna«, hustet er mir zu.
»Wie bitte?«, frage ich.
»Sie solln sich setzen. Dort aufn Schemel. Und ihr zwoa Deppen schleicht’s euch. I brauch euch net. Kummts in zwoanzig Minuten, dann bin i hier kloar.«
»Wir gehen einen Schnaps trinken, das gibt Kraft«, sagt einer der beiden. Sie ziehen die Tür ins Schloss und versperren von außen.
»Was haben S’ denn ausgfressen?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Dös ham die meisten nicht. Die finden scho wos. Wos hocken S’ denn so krumm?«
»Ich bin verletzt.«
»Sakra, ham die Teufel schon vorher angefangen?«
»Womit? Ach so, nein. Ich bin gestern angeschossen worden.«
»Von den Burschn?« Er weist mit dem Kinn zur Tür.
»Nein, von ... ach, das ist eine lange Geschichte.« Lieber nichts erzählen, denke ich mir. So lange wie irgend möglich nichts erzählen.
»Ja sagens amol, wos tropft denn da aus dem Morgenmantel? Sie wern mir net etwa des Pieseln anfangen? Hier passiert Eahna nix. Heilige Maria, dös is ja Blut. Sauerei verdammte. Zeigen S’ mir die Wunde.«
Ich schlage den Morgenmantel auf, der Stoff des Schlafanzugs ist vom Blut dunkel gefärbt, ebenso der darunter liegende Verband. Mir wird prompt schlecht und ich rutsche vom Hocker. Das Männlein scheint sonderbarerweise recht kräftig zu sein, denn er fängt mich auf und legt mich auf den Steinboden. Dann stürzt er zum Telefon und berichtet irgendwem von meinem Befinden. Mehrmals ruft er ›Schusswunde‹ in den Apparat. Dann drückt er ein paarmal schnell auf die Gabel des Telefons und verlangt Sanitäter in sein Laboratorium zu schicken und hängt dann ab.
Kurz darauf wird die Tür geöffnet, zwei Sanitäter erscheinen mit einer Trage. Einer fühlt meinen Puls, der andere untersucht die Wunde.
»Der ist ganz übel dran, muss sofort auf die Krankenstation, allerhöchste Eisenbahn. Ruf den Franz an, der soll sich fertig machen, Noteingriff. Schwere Blutung im Leistenbereich, sieht bös aus.«
Sie heben mich auf die Trage, binden mich daran fest. Ja glauben die denn, ich könnte so einfach wegrennen? Sie tragen mich aus dem Raum und mir wird erneut schwindelig. Dort, wo sie mich hintragen, riecht es nach Essig oder irgendetwas Ähnlichem. Von der Trage heben sie mich auf einen Tisch. Die Verbände werden entfernt.
»Was für ein Stümper hat denn an dem herumgeschnippelt?«
Ich merke, wie ich bewusstlos werde.
2.
»Frau Hrdlitschka, würden Sie mich für eine Weile mit dieser Dame alleine lassen? Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich gleich selbst mit der Vernehmung beginne. So sparen wir eine Menge Zeit. Wir haben wirklich sehr viel miteinander zu besprechen und aufzuklären, nicht wahr, Carola? Sie können für heute Schluss machen, Frau Hrdlitschka.« Johannes Sauermilch versperrte hinter ihr die Tür. Nun war Carola mit ihm allein im Raum. Carola war unfähig, auch nur ein einziges Wort zu sagen.
»Was machen wir beiden Hübschen denn nun vor lauter Freude?« Er öffnete die Barriere der Schaltersperre und trat zu Carola, die zurückwich. »Du solltest mich nicht unnötig böse machen, Carola. Das wird dir wenig bekommen.« Er schlug sie unvermittelt ins Gesicht. Genauso wie damals. Offenbar hatte er diesen Augenblick in Gedanken immer wieder genossen. »Zieh dich aus!«
»Johannes, bitte?!«
»Ach so, es ist dir lieber, wenn ich das mache? Mir übrigens auch. Besonders, weil du hier schreien kannst, so laut und so viel du möchtest. Das stört niemanden.« Er griff mit beiden Händen in ihren Ausschnitt, um den Stoff der Bluse mit einem Ruck zu zerreißen, als das Telefon klingelte.
»Verdammte Sch... Na schön, du läufst mir nicht weg.« Er nahm den Hörer. »Ja.« Mit der freien Hand griff er sich in den Schritt und grinste Carola an. Dann schlug er plötzlich unvermittelt auf den Schreibtisch. »Kurt Anders? Na klar weiß ich Bescheid, der sitzt gerade beim Erkennungsdienst. Wieso Schusswunde? Nein, nein, nein, Schusswunde muss aufgeklärt werden, da hatte ich schon mal Riesenärger wegen. Wir müssen erst sicher sein, dass was nicht stimmt, dann ist es egal. Ruf die Sanis, die sollen den Kerl solange wach halten, bis ich weiß, woran ich bin. Ein paar Stunden. Krankenstation? Lohnt sich das? Vielleicht simuliert der nur! Meinetwegen, aber passt auf den Kerl auf. Ich werde mich informieren. Keine Ahnung, wie schnell ich eine Leitung kriege bei dem Durcheinander. Ja, ich komme gleich rüber. Habe hier noch eine Kleinigkeit zu erledigen.« Er nickte Carola zu und drückte mehrmals schnell auf die Gabel. »Sauermilch am Apparat, habe hier einen Gast für Raum sieben. Ja, genau die. Nein, ich vernehme persönlich!« Er hängte ab und trat wieder zu Carola. »Jetzt hast du sogar ein paar Stunden Zeit, dich auf mich einzustimmen.« Er kniff ihr in die Brust. »Nummer sieben ist ein spezieller Raum für Leute, die ganz besonders intensiv vernommen werden müssen. Da gibt es Dinge, herrlich.« Er entriegelte die Tür und ein schlaksiger Mann mit militärischem Haarschnitt betrat den Dienstraum.
»Ich soll den Mann für Nummer sieben abholen ...« Er stutzte und schaute Carola zweifelnd an. »Nanu, das ist ja gar kein Mann.« Er senkte den Blick. Dreckiger Schweinehund, dachte er und fragte: »Soll ich Handschellen benutzen?«
»Selbstverständlich. Und fein an den Ring hängen. Wenn sie Ihnen entwischt, kommen Sie selbst in den Genuss, dort zu enden. Und nun ab, ich habe zu tun.« Er griff erneut zum Hörer. »Sauermilch hier. Ich versuche seit Stunden eine Leitung nach Dresden zu bekommen. Dringende Dienstsache zur Gauleitung, den Chef persönlich. Was soll das heißen, der Herr Gauleiter sei nicht zu sprechen. Durcheinander? Dass ich nicht lache. Gibt es denn irgendeine Stadt im Reich, wo kein Durcheinander herrscht? Wie ich das meine? Na, für den Endsieg braucht es doch jetzt jeden Mann, jede Frau, jedes Amt, jedes Dienstzimmer. Na also, was wollten Sie mir denn unterstellen?« Johannes Sauermilch setzte sich seiner Machtposition entsprechend auf und stemmte eine Faust in die Hüfte.
Am anderen Ende der Leitung, in einem nur wenig zerstörten Raum in der Wüste des Stadtgebietes von Dresden, saß ein Mann, der die Sprechmuschel seines Apparates mit der Hand bedeckt hielt. Er sprach zu einer jungen Frau, die auf einer Schreibmaschine tippte.
»Da ist so ein Armleuchter aus Bayern, der den Chef sprechen will. Was soll ich denn bloß machen?«
»Sag ihm, der Chef sei in Berlin beim RSHA, um mit Himmler das weitere Vorgehen in Sachen Flüchtlingsevakuierung zu besprechen. Vorrangige Dringlichkeit. Worum geht es denn überhaupt?«
Der Mann fragte in die Sprechmuschel. Dann schaute er richtig belämmert zu der Frau und wiederholte laut. »Ob der Martin ... Wer? Ach so, Sie sind miteinander befreundet, ja verstehe.« Er hob die Brauen. »Ob der Herr Gauleiter einen Schauspieler vom Staatstheater in Dresden kenne, der Anders heißt. Ja, mein Gott, wie heißt der denn? Ach so, der heißt mit Nachnamen Anders. Bin im Bilde.« Er tippte mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Weil Sie den aufgegriffen haben und er verdächtig ist, ein Jude zu sein? Und das nennen Sie dringend? Also hören Sie mal. Bei uns ist der Teufel los und Sie kommen mit solch einer Lappalie daher? Wieso Unverschämtheit? Was interessieren denn mich irgendwelche Juden? In Dresden gibt’s seit Langem keine mehr. Wieso eben. Ach so.« Er hielt wieder die Sprechmuschel bedeckt. »Was für ein Arschloch«, flüsterte er der Frau zu. »Als ob wir nichts Wichtigeres zu tun hätten. Was soll ich dem sagen?«
Die junge Frau erhob sich, trat zu ihm und flüsterte ebenfalls. »Sag ihm, dass die Privatsekretärin des Herrn Gauleiter gerade hier eingetroffen sei und nun statt deiner mit ihm sprechen wird.«
Der Mann mit dem Hörer in den Händen zwinkerte und sprach in den Apparat: »Verzeihen Sie, Herr Sauerbier, die Privat ... Was? Ach so, Milch nicht Bier, bin im Bilde. Gerade kommt die Privatsekretärin des Herrn Gauleiters ins Zimmer, Herr Sauermilch. Würden Sie ihr vielleicht die Einzelheiten mitteilen? Gerne? Gut, ich übergebe.«
Johannes Sauermilch in Hof wiederholte sein Anliegen. Die junge Frau in Dresden empfand sichtbar Freude an der neuen Aufgabe. »Ja, ich kann bestätigen, dass Martin in Berlin beim Reichsführer-SS weilt. Ja, wir sind persönlich miteinander befreundet und duzen uns. Martin und ich kennen uns seit Jahren.«
»Ach, dann sind Sie das?«, fragte Johannes Sauermilch schmunzelnd in Hof.
»Was bin ich dann?«, hinterfragte die Frau in Dresden schnippisch. »So so, Sie haben das anders gemeint. Lassen wir das, die Zeit ist bei uns knapp. Ob der Herr Gauleiter (oho, nun sagt der bayerische Scheißer lieber Herr Gauleiter, so weit habe ich den) gerne ins Theater geht? Oh ja, ich muss häufiger Karten für ihn besorgen (wenn der Mutschmann Sinn für Kultur hätte, wäre er sicher nicht Gauleiter geworden!). Ob er mit einem Schauspieler namens Kurt Anders bekannt ist? (Wer soll das sein und woher soll ich das wissen?) Aha, Kurt Anders (nie gehört). Ja selbstverständlich, der Kurt - ich bewundere ihn selbst - ist mit Martin bestens persönlich bekannt (der Mutschmann hält Goethes Faust für eine starke Hand!). Und den Kurt haben Sie festgenommen? Papiere scheinen in Ordnung? Den wollen Sie einer Vernehmung unterziehen? Sind Sie lebensmüde? Konnten Sie nicht wissen? Wer nichts weiß, den können wir nicht gebrauchen, hat der Führer gesagt, solche Dummköpfe müssen schleunigst ausgeschaltet werden! Ich soll bitte den Anruf vergessen? Kommt nicht infrage. Diese Meldung kann ich nicht unterschlagen, wofür halten Sie mich? Solch eine Unverschämtheit ist mir ja noch nie untergekommen. Ja, der Kollege hat alles mit angehört. Wenn der Martin das erfährt, sind Sie erledigt, mein Herr, wie war Ihr Name? Sauermilch, Johannes Sauermilch. Danke, habe ich notiert. Wenn ich Sie wäre, würde ich entweder verschwinden oder mich am besten sofort erschießen. Einfach einen Kulturschaffenden zu kassieren, das kostet Sie den Kopf, mein verehrter Herr Sauermilch! Mindestens! Wieso? Na Sie machen mir Spaß, das ist doch Hoch- und Landesverrat, was Sie da getan haben! Nein, nein, nein, da greife ich jetzt rigoros durch! Heil Hitler!«
Sie legte den Hörer auf. »Na, wie war ich?«
»Bisschen starker Tobak für mein Gefühl. Also Hoch- und Landesverrat finde ich schon einen richtig schlimmen Vorwurf. Was ist, wenn der sich wirklich was antut?«
»Na hoffentlich, besser als wenn der irgendetwas erzählt! Aber drauf gepfiffen. Wenn dieser Karl Anders oder wie er heißt, ernsthaft Jude sein sollte und ich ihn durch diese Komödie vor einer Vernehmung und somit zumindest der Folter und letztendlich dem sicheren Tod gerettet haben sollte, hätte ich zumindest dieses eine Mal ein ruhiges Gewissen. Immerhin der allererste Jude, mit dem ich auf dienstlichem Wege zu tun habe. Und dies glücklicherweise zu einer Zeit und in einer Situation, in der ich möglicherweise helfen kann. Das fühlt sich gut an.«
»Und wenn der Chef dahinterkommt?«
»Erst einmal weiß im Augenblick kein Mensch, wo der hin ist. Wer sagt denn, dass der sich doch wieder in Dresden blicken lässt. Und selbst wenn, dann kenne ich eben tatsächlich einen Schauspieler mit dem Namen Anders. Meinst du, das interessiert irgendjemanden? Ein bisschen Flunkern ist ein geringer Preis für ein gutes Gewissen.«
3.
Carola war von dem schlaksigen jungen Mann in den Keller des Gebäudes geführt worden. Er war vor einer schweren Tür stehen geblieben, hatte die Tür geöffnet und Carola aufgefordert, in den dahinter befindlichen Raum zu gehen. Dann hatte er Carolas Handschellen von einer Hand gelöst und diesen Teil der Fessel an einen im Mauerwerk verankerten Stahlring verschlossen.
»Glauben Sie an Gott?«, hatte er gefragt.
»Weshalb fragen Sie?«
»Weil an diesem Ort Endstation ist.«
»Was meinen Sie mit Endstation?«
Er senkte den Blick. »Weil niemand, der in diesem Raum vernommen worden ist, dies überlebt hat. Und um Sie tut es mir richtig leid. Verdammter Scheißkerl dort oben! Was glauben Sie, wie die Leichen aussehen, die wir rausbringen. Schauen Sie sich nur mal um.«
Carola sah sich um und erschauderte. »Können Sie mir nicht helfen?«, bettelte sie.
»Nein. Sie haben ja gehört, dann lande ich selbst hier. Das möchte ich mir so lange es geht ersparen. Mir ist vor einiger Zeit mal etwas aufgefallen.« Er berührte Carolas Hand, die an den eingemauerten Ring gefesselt war. »Der Ring ist zu hoch angebracht, um sich setzen zu können und zu niedrig, um sich daran zu erhängen. Nach ein paar Stunden werden Sie so fertig sein, dass Sie kaum noch wissen, was Sie tun. Und wenn der Kerl konsequent nachfragt, werden Sie nicht nur alles Mögliche zugeben, sondern sogar irgendwelchen erfundenen Unsinn gestehen, ganz gleich. Die Prozedur hält keiner aus. Um Sie ist es viel zu schade, deswegen möchte ich Ihnen einen Rat geben, wie Sie sich zumindest um die Folter drücken können. Außerdem wird es den widerlichen Sadisten dort oben um den Verstand bringen, das gefällt mir. Also, Sie sind mit nur einer Hand an den Ring geschlossen. Das macht der Sauermilch absichtlich, damit der Befragte versucht, sich mit der freien Hand zu schützen - so kann der Kerl noch brutaler werden, verstehen Sie? Der hat da ordentlich was von. Aber, eben weil Sie mit nur einer Hand an den Ring gefesselt sind, können Sie sich wenigstens etwas bewegen. Wenn Sie meinen Rat annehmen, dann beten Sie zu Gott um ein Wunder. Oder, wenn ein Wunder nicht eintritt, was zu vermuten ist, so holen Sie kräftig aus und schlagen Ihren Kopf so stark wie möglich gegen die Wand. Genau dorthin«, er bezeichnete einen bestimmten Punkt an der Wand. »Da steht ein Stahlanker eine Handbreit weit aus der Mauer hervor, den hat wohl bisher niemand entdeckt. Wenn Sie mit aller Kraft Ihre Stirn dagegen stoßen, ist es vorbei. Das hört sich widerlich an, ich weiß, trotz allem ist das wesentlich besser, als sich endlos quälen zu lassen, glauben Sie mir. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen ... Außerdem wird das den Sauermilch zu rasender Weißglut reizen, allein schon wenn Sie sich das vorstellen, wird Ihnen der Entschluss vielleicht etwas leichter fallen. Natürlich gehört dazu eine gehörige Portion Selbstüberwindung, aber wenn Sie dem Sauermilch in die Hände fallen, wird es tausendmal unerträglicher. Ich lasse das Licht an, damit Sie sicherer zielen können.« Außerdem muss ich das sowieso, dachte er, verließ den Raum und schloss die Tür sorgfältig.
Carola schaute sich schaudernd in dem Raum um. Sie diagnostizierte Werkzeuge und Gerätschaften, welche die heilige Inquisition sich nicht hätte sinnreicher einfallen lassen können.
Aufs Neue betrachtete sie den verrosteten Stahlanker. Sie benötigte einige Versuche, um herauszufinden, wie sie sich bewegen müsste, um mit der Stirn genau auf das Stück Stahl zu treffen. Manchmal war sie fest entschlossen, dem Grauen ein Ende zu bereiten, dann wiederum suchte sie verzweifelt nach einem Hoffnungsschimmer. Eine endlose Quälerei.
Wenn sie die Geräte betrachtete und sich ausmalte, wie man diese an ihr verwenden würde, blieb ihr der Atem stehen. Der Mensch ist doch wirklich das brutalste Tier auf der Welt, stellte sie mit Grausen fest. Sie nahm Anlauf, holte tief Luft und schloss die Augen.
4.
Ein lauter Knall hallte durch das Gebäude. Was war geschehen? Die Türen der Amtsstuben wurden nacheinander von verstört wirkenden Männern und Frauen geöffnet, die auf die Flure schauten und nach der Ursache der Störung suchten.
Lediglich die Tür der Dienststube 224 blieb geschlossen. Ein Beamter in ausgeblichenem Kammgarnanzug nahm die kalte Pfeife aus dem Mund (Tabak war Mangelware und er rauchte selbst fermentierte Kirschblätter - was das Rauchverbot für ihn im Amt nach sich zog), ging zur Tür von 224 und klopfte.
»Sauermilch, san Sie da herinnen?«
Niemand antwortete. Der Pfeifenträger drückte die Klinke, öffnete vorsichtig die Tür und blickte in den Raum. »Jessas, Maria und Josef. Da schlägt’s einen lang hin.« Er betrat die Dienststube, andere Kollegen folgten. Ihnen bot sich ein schauderhaftes Bild.
Vornübergebeugt lag der Vorgesetzte Johannes Sauermilch mit zerschmettertem Kopf auf dem Schreibpult. Eine Pistole lag in der schlaffen Hand des Mannes und qualmte leicht. Die Kugel hatte die halbe Hirnschale weggeschleudert. Unmengen Blut bedeckten die Pultplatte um den Leichnam und tropfte zu Boden. Graue Hirnmasse klebte am Schirm der Schreibtischlampe. Frau Neugebauer, die Klatschbase des Amtes, hatte sich neugierig in den Raum geschoben, stöhnte und sank bewusstlos zu Boden. Sie blieb nur unverletzt, weil ein schlaksiger junger Mann, der hinter ihr stand, sie im letzten Augenblick auffing, den schlaffen Körper vor seinen Füßen absetzte und ihr mit einer Hand Luft zufächelte.
Die beiden Polizisten vom Sicherheitsdienst hatten ihren Schnaps gehabt und waren nun ebenfalls schnell erschienen. Sie verwiesen die anderen Menschen des Raumes.
»Raus mit euch, ihr zertrampelt nur die Spuren. Hier sind wir zuständig. Einer bleibt als Wache vor der Tür, aber von draußen. Ja, Sie da, und hören Sie auf zu wedeln, die Frau hat längst die Augen wieder geöffnet. Na los, hoch mit Ihnen und dann raus. Es kommt niemand rein, bevor ich es gestatte, ist das klar? Na prima.«
Nachdem die beiden SD-Männer allein mit der Leiche im Raum waren und der schlaksige junge Mann mit dem militärisch kurzen Haarschnitt die Tür geschlossen hatte, die er bewachen sollte, untersuchten sie den Toten.
»Na, der hat sich ja sauber die Rübe weggepustet. So eine Schweinerei.«
»Pfeif auf die Schweinerei. Viel lieber möchte ich wissen, wieso der sich erledigt hat. Wo ist denn nur die Schnepfe, die normalerweise für ihn arbeitet?«
»Warte mal, ich habe eine Idee.« Er griff mit spitzen Fingern zum Telefon. »Hallo, Vermittlung? Eva, bist du am Stöpsel? Gut, ich bin es. Sag mir mal, mein Schätzchen, mit wem hat der Sauermilch zuletzt telefoniert? Mit Dresden? Hat wütend auf eine Verbindung zur Gauleitung gewartet. Falls jemand danach fragen sollte, behalte das bitte für dich. Danke.«
Die Männer schauten sich an.
»Das hat garantiert etwas mit dem sonderbaren Paar zu tun. Die waren nämlich aus Dresden. Was mag da nur vorgefallen sein?«
»Nehmen wir mal an, der Kerl war wirklich ein Liebling von dem Oberbonzen in Dresden. Der wiederum könnte ja durchaus von der Frau vom Ortsgruppenleiter Schreiner informiert worden sein, die Frau von dem Schauspieler war doch ihre Nichte oder so.«
»Und die könnte alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, um die Vernehmung zu unterbinden. Nun ist der Kerl aber verletzt, wer weiß von wem. Vielleicht sogar schon tot?«
»Frau Schreiner hat angezeigt, dass der OGL selbst abgehauen sei.«
»Na und, hast du das etwa weitererzählt?«
»Nein, keiner Menschenseele.«
»Na also. Es ist alles in bester Ordnung. Weshalb wir die beiden Leute herbringen sollten, wissen wir nicht. Geht uns nichts an. Ob der Schreiner abgehauen ist oder was sonst, auch nicht. Seine Frau bleibt eine bedeutende Person im Ort, bis sie selbst etwas anderes erzählt. Bleibt noch die Nichte. Wo ist diese Nichte denn überhaupt?«
»Na, wahrscheinlich längst bei ihrer Tante. Hier ist sie jedenfalls nicht mehr.«
»Deswegen muss der Idiot sich ja nicht gleich erschießen!«
Der Mann, welcher Emil gerufen wurde, schlug sich an die Stirn.
»Mensch, wir sind selber Idioten.«
»Wieso?«
»Die Verletzung, denk nur mal nach. Der Mann von der Nichte der Frau des OGL musste doch dringend in den Sanibereich, schwere Blutung oder so. Was denn, wenn es nun heißt, die Verletzung hätte er bei uns zugefügt bekommen?«
»Dann sind wir im Arsch.«
Während dieses Dialoges waren die beiden Männer ständig zwischen dem Pult, auf dem die Leiche ausblutete, und der Sperre zum öffentlichen Bereich hin und her gewandert. Emil blieb stehen und starrte zum Pult.
»Was liegt denn da?«
»Wo?«
Emil kniete bereits vor dem einsehbaren Fußbereich des Pultes und langte einen Gegenstand hervor.
»Gib mir mal ein Taschentuch oder ein Blatt Papier.«
Auf dem Pult der Kollegin des toten Sauermilch fand sich ein Stoffschal. Den benutzte Emil, um den Gegenstand näher zu untersuchen.
»Das ist ein Pass.«
»Jetzt sag bloß, das sei der Pass von den Dresdenern?«
»Und ob. Die äußeren Blätter sind zwar völlig vom Blut getränkt, aber den Namen Anders kann ich ausgezeichnet erkennen.«
»Weg, weg mit dem Zeug! Los, verpack den Pass mit dem Schal. Da steckt ein Stürmer im Papierkorb. Hinein mit dem Dreck und dann in die Manteltasche. Die Zeitung wird niemand untersuchen wollen.«
»Und dann?«
»Ganz einfach. Wir haben auf Befehl von Sauermilch zwei ihm Verdächtige hergeführt und sie ihm abgeliefert. Wir wissen nur, dass beide kriminaltechnisch untersucht werden sollten und haben den männlichen Verdächtigen zum Fotografieren begleitet. Alles andere ist nicht mehr unser Bereich. Wir haben auf weitere Befehle gewartet und sind erst hergekommen, nachdem dieses Unglück hier geschehen ist.«
»Na ja, Unglück bei diesem Mistkerl?«
»Schnauze - oder hast du Lust auf die Front?«
Emil griff erneut zum Telefon.
»Eva, ich bin es noch mal. Vergiss das, was ich gerade gesagt habe. Wenn jemand nach dem Sauermilch fragt, ob und wann er telefoniert hat und mit wem, musst du die Wahrheit sagen - bloß auf gar keinen Fall, dass wir beide miteinander gesprochen haben. Das geht nämlich niemanden etwas an. Klar? Gut.«
»Und jetzt?«
»Jetzt rufe ich die Kripo an, melde den Vorfall und kann somit belegen, dass ich den Hörer nur angefasst habe, um sie zu informieren. Alles andere ist nicht mehr unser Bier. Der Kerl draußen vor der Tür soll besser verschwinden, geht die Kripo nichts an.«
»Haben wir irgendetwas übersehen?«
»Nee, glaub ich nicht.«
»He Sie, Lulatsch!«
Was die zwei Männer nicht bemerkt hatten, war, dass der schlaksige Mann, der vor der Dienststubentür Wache hielt, dieselbe nicht ganz geschlossen hatte. Er war von Hause aus sehr neugierig, was ihm schon so manchen Rüffel eingebracht hatte. Und dass er außerdem derselbe schlaksige Mann war, der Carola in die Zelle für Spezialvernehmungen, die Nr. 7 gebracht hatte, konnten sie noch viel weniger wissen. Er hörte den Ruf und öffnete die Tür, ohne dass der vorherige Zustand bemerkt wurde und betrat den Dienstraum. »Zu Befehl!«
»Sie können abrücken. Falls jemand fragt, weshalb Sie Wache stehen sollten, sagen Sie, es wäre angeordnet, damit die neugierigen Leute nicht die Spuren verwischen würden. Klar?«
»Jawoll!«
»Raus!«
Er enteilte in den Keller. An der Unterlippe knabbernd und mit dem Schicksal hadernd, ob die sympathische Frau in Nummer sieben nicht vielleicht schon seinen Vorschlag zum Selbstmord verwirklicht hatte.
Carola hörte in dem Vernehmungskerker, dass die Tür von außen geöffnet wurde. Sie spürte ihr Herz wild schlagen und hatte sich in den letzten Stunden fest vorgenommen, sobald sie die Gestalt des Johannes Sauermilch wahrnähme, würde sie sich endgültig zum Sterben entschließen.
Der Schlaksige betrat den Raum. »Nicht!«, rief er eindringlich. »Tun Sie das nicht! Es geschieht Ihnen nichts. Sauermilch ist tot! Ich werde Sie nicht anfassen, haben Sie keine Angst. Es ist vorüber. Ich komme jetzt etwas näher, seien Sie ohne Furcht.«
Schritt für Schritt näherte er sich Carola, hielt ihr den Schlüssel zur Öffnung der Handschelle hin.
»Schließen Sie mich bitte los«, bat Carola. »Ich kann das nicht selbst.«
Er löste die Handfessel. »Können Sie überhaupt stehen, nach der langen Zeit?«
»Wenn Sie mich stützen würden, ich will nur noch hinaus.«
Sie verließen den Raum und bewegten sich langsam durch den kühlen Flur.
»Ist das wirklich alles wahr?«, fragte Carola. Sie fühlte sich wie eine Katze, die in einem verschnürten Sack ins Wasser geworfen worden war und nun wieder Luft bekam.
»Sie müssen verdammt gut gebetet haben, das ist nicht nur ein Wunder, sondern ... sondern? Weiß nicht. Auf jeden Fall freue ich mich für Sie.«
Im selben Moment versperrte ihnen ein Schwarzuniformierter den Durchgang.
»Was ist denn hier los?« Finsterster Kasernenton aus einem weit geöffneten Mund unter dem Totenkopfsymbol der Mütze. »Was haben Sie hier zu suchen?«
»Ich habe der Nichte des Ortsgruppenleiters Schreiner unsere Örtlichkeiten gezeigt, auf Anordnung vom Chef, Herrn Sauermilch.«
»Sauermilch? Der ist doch ... wann hat er Ihnen den Befehl erteilt?«
Der Schlaksige schaute Carola an und hob die Schultern. »Wie lange sind wir schon unterwegs, gnädige Frau? Eine Stunde? Vielleicht etwas weniger oder sogar etwas länger. Hier unten vergeht die Zeit so rasch!«
Der Schwarzuniformierte wirkte etwas verwirrt. »Ach so, dann können Sie ja nicht wissen ...«
»Was?«
»Ach, das geht Sie gar nichts an. Nun, bringen Sie die Nichte vom Ortsgruppenleiter ... sehr erfreut.« Er schlug die Hacken zusammen und hob zackig den rechten Arm. »Bringen Sie die Dame nach Hause. Sie stört im Augenblick ein wenig. Entschuldigen Sie bitte.« Er nickte Carola zu. »Vorm Eingang steht mein Wagen. Bestellen Sie meinem Fahrer Kommandosache eins eins drei, dann wird er Sie fahren. Danach soll er wieder herkommen. Sie können laufen. Tut gut bei der frischen Luft. Meine Verehrung und beste Grüße an den Herrn OGL.«
5.
»Was um Himmels willen wird denn nun geschehen?«, fragte sich Fanny Schreiner, als sie sah, dass Carola in Begleitung eines schlaksigen Mannes mittels eines SS-Kübelwagens vorgefahren wurde. Auch noch Waffen-SS, schauderte sie entsetzt.
Dann fuhr der Wagen weg, ein schlaksiger junger Mann drückte Carolas Hand und entfernte sich ebenfalls. Bevor Carola vor der Haustür stand, hatte Fanny von innen geöffnet. »Du schaust aus, als wärst du dem Tod begegnet. Komm rein, mein Kind.« Fanny schloss die Tür, nachdem sie den Eingangsbereich des Hauses aufmerksam betrachtet hatte.
In der Küche begann Carola zu erzählen. Und je mehr sie erzählte, desto unglaubwürdiger erschien ihr der eigene Bericht. »Irgendetwas muss mit Jakob passiert sein. Sauermilch hatte sich maßlos aufgeregt. Aber ich habe keine Ahnung, was los ist. Er hat auf jeden Fall nicht gewollt, dass Jakob in die Krankenstation gebracht wird. Weiter weiß ich nichts.«
Fanny schaute aus dem Fenster. »Nehmen wir an, Kurt - wir sollten uns konzentrieren und beide nur Kurt sagen - Kurt liegt tatsächlich im Krankenbereich. Dein Jugendfreund, entschuldige, der Sauermilch hat sich getötet und nach Joseph wird bisher ergebnislos gesucht. Das hieße, dass ich als Ehefrau des Ortsgruppenleiters Schreiner im Krankenbereich erscheinen könnte, um zu verlangen, dass mein Gast, der Schauspieler Kurt Anders, in ein ordentliches Krankenhaus gebracht wird.«
»Und was nützt das?«, fragte Carola.
»Das nützt insoweit, dass wir ihn erst einmal aus den Klauen des SD heraus hätten.«
Die beiden Frauen beratschlagten eine ganze Weile, wie sie am sichersten vorgehen könnten.
6.
»Wenn Sie gerne mit mir streiten möchten, wäre dies an und für sich nicht weiter schlimm, weil Sie in meinen Augen nur ein alberner Flegel sind, der sich auf den silbernen Totenkopf an der Mütze eine Menge einbildet!«
Ich hätte fast ins Bett gemacht, als Tante Fanny dies sagt, Auge in Auge mit einem sehr jungen Mann in schwarzer Uniform, dessen großer Mund unter der Totenkopfmütze nach anfänglichen Schnauzereien nur noch ein sprachloses Kanonenrohr ohne Feuerkraft darstellt. Sie stehen am Fußende des Bettes, in dem ich liege. Zahlreiche Menschen stehen ebenfalls im Raum und zur Tür hinaus bis in den Gang.
»Da ich in Vertretung meines Mannes tätig bin, legen Sie sich ebenfalls mit dem Ortsgruppenleiter an. Ich hatte zunächst angenommen, dass mein Mann seinen Posten verlassen haben könnte, aber ich habe mich geirrt. Er hat sich vergangene Nacht aus der Reichshauptstadt bei mir gemeldet. Er kontaktiert justament Ihren obersten Dienstherrn in Berlin und wenn ich ihm nun melden müsste, dass Sie sich meinen Wünschen bezüglich der Gesundheitsfürsorge eines hervorragenden Künstlers der Reichskulturkammer«, sie drückt mir fest die Hand, »in den Weg stellen, sind Sie geradewegs dabei, sich bei der obersten Führung in Verruf zu bringen. Sollen wir mal sehen, welche Bedeutung Ihre Äußerungen an jener Stelle haben ...?«
Zum allerersten Mal in den vergangenen zwölf Jahren habe ich die unsägliche Freude, einen SS-Mann schwer schlucken zu sehen - vor lauter Wut, gut, das kennt man - aber der hier schluckt auch vor Angst. Die unermessliche Glückseligkeit darüber lässt mich beinahe weinen!
»Ich möchte nur ...«, stottert der Mund unter dem Totenkopf.
»Sie möchten mir also behilflich sein?« Fanny hat mir späterhin erklärt, wie sie die Rolle mit Carola eingeübt hatte. Sie spielt ihre Rolle grandios.
»Jawoll, Frau Ortsgruppenleiter.«
»Ich würde Herrn Anders gerne im Führerbereich unseres Krankenhauses sicher untergebracht wissen. Und zwar umgehend!«
Einer der Ärzte hat sich während des Disputs zwischen Fanny und dem SS-Mann krampfhaft an meinem Krankenblatt festgehalten. »Ja, das geht schon. Aber wir wüssten gerne, welcher Pfuscher an ihm herumgeschnitten hat?«, fragt der Mann in weißem Kittel, der unablässig seine Nasenspitze reibt.
»Herr Doktor, seien Sie gewiss, dass unser Ortsgruppenleiter, mein Mann, dies ebenso zu wissen wünscht. Man wird es herausfinden. Und ich möchte nicht in der Haut desjenigen stecken!«, droht Fanny. »Nun, meine Herren, ich wäre dankbar, wenn Sie alles Notwendige veranlassen würden. Dann bitte ich um Mitteilung, wo mein verehrter«, sie nickt mir zu, »Kurt untergebracht sein wird.«
Sie wendet sich fast liebenswürdig an den SS-Mann. »Es wäre mir sehr recht, wenn Sie mich persönlich über die erfolgreiche Überführung des Patienten und danach über die weitere Entwicklung detailliert unterrichten würden. Ich hoffe für Sie, dass Ihr Bericht sämtliche Irritationen glaubhaft erhellen wird. Indessen werde ich mich in diesem Sinne bemühen, meinen Mann in Berlin zu erreichen, um ihn zu besänftigen, damit die Wellen nicht weiterhin so hoch schlagen. Ich würde es begrüßen, wenn Sie heute Abend, sagen wir so gegen neun Uhr bei mir vorsprechen und mir berichten, wie es meinem lieben Kurt Anders ergangen sein wird.«
Das scharfzügige Gesicht unter dem Totenkopf zuckt. »Zu Befehl, gnädige Frau! Heil ...!« Der Mund kriegt das letzte Wort nicht mehr heraus.
Fanny schaut den SS-Mann geringschätzig von den blanken Stiefeln bis zur Totenkopfmütze an und verneigt sich dann in die Runde. »Guten Tag.«
7.
»Sie möchten mir wirklich nicht sagen, wer auf Sie geschossen hat?«, fragt mich der Mund unter der Totenkopfmütze. Ein freundlicher SS-Mann ist, glaube ich, dreimal so gefährlich wie die normalerweise brutalen Gewaltmenschen dieser Sorte. Vorsicht, Jakob, mahne ich mich selbst.
»Mögen möchte ich schon, bloß können kann ich nicht.«
»Wieso können Sie nicht?«
»Weil ich eigentlich gar nichts mitbekommen habe.«
»Wieso haben Sie nichts mitbekommen?«
»Na, es ging alles so schnell. Zack, war es geschehen.«
Der Mann scheint nachzudenken und lächelt mich dann plötzlich wieder so unangenehm freundlich an. Wir schauen uns in die Augen und ich habe den Eindruck, dass der Mensch in meinen lesen kann und sehr genau weiß, was geschehen war.
»War es vielleicht ein Polizist, der einen Verbrecher verfolgte und Sie mit jenem verwechselt hat? Oder etwa irgendein Staatsbeamter, der aus heiterem Himmel auf Sie geschossen hat?«
»Ich habe ihn leider nicht erkannt.«
»Na bitte, sehen Sie, nun sind wir einen Schritt weiter, Sie wissen demnach, dass ein Mann auf Sie geschossen hat.«
Ich spüre Schweiß auf der Stirn. Noch so einen Fehler kann ich mir nicht erlauben, überlege ich. »Nein.«
»Somit hat eine Frau auf Sie geschossen?«
»Nein!« Laut und gehetzt stoße ich das Wort hervor. Diese im Grunde harmlose Fragerei geht bereits über meine Kraft.
Er legt eine Hand auf meine Schulter. »Ganz ruhig bleiben, nur nicht aufregen. Also ein Mann war es nicht. Eine Frau ebenso wenig. Tja, da bleibt dann nicht mehr viel. Wieso können Sie nicht mal diese Angabe machen?«
Tja wieso?, denke ich, kluger Schachzug. Der Mensch ist mir weit überlegen und er weiß das, hm. Vielleicht so rum.
»Weil ich nichts gesehen habe.«
»Ach so, dann ist demnach in der Nacht auf Sie geschossen worden? Da sind wir auch wieder einen Schritt weiter. Wo waren Sie denn in jener Nacht?«
»Das kann er Ihnen später erzählen«, erlöst mich der just ins Zimmer getretene Doktor mit kraftvoller Stimme. »Der Patient benötigt unbedingte Ruhe.«
»Aber ...«
»Nichts aber. Dies ist mein Patient, ich bin für ihn verantwortlich. Sie haben die Anordnung des Herrn Ortsgruppenleiters, respektive seiner Frau selbst gehört. Wenn Ihnen das nicht passt, bitte. Es steht Ihnen frei, sich eine höherrangige Anordnung zu besorgen, der werde ich mich dann nicht in den Weg stellen. Nun fordere ich Sie auf, mich den Patienten für den Transport vorbereiten zu lassen. Danke.«
»Wo wird er hingebracht?«
»Sie haben es gerade selbst gehört, KKH Führerbereich. Es steht Ihnen gleichwohl frei, dem Transport zu folgen. Das wäre sogar klüger. Immerhin haben Sie ja gerade den Auftrag erhalten, der Frau Ortsgruppenleiter Schreiner heute noch zu berichten.«
»Sie können mich nicht leiden, nicht wahr?«
Der Doktor wendet sich gelangweilt dem Frager zu. »Dazu müsste ich Sie erst mal, ohne dass Sie diese Uniform tragen, gesellschaftlich treffen.«
Das Gesicht unter der Totenkopfmütze wirkt beklommen. »Ich warte auf dem Flur«, entgegnet er und verlässt den Raum.
»Sie sind mutig, Herr Doktor«, sage ich.
»Ja jetzt, jetzt kann ich leicht mutig sein. Leider viel zu spät, denn im Grunde meines Herzens bin ich nur ein erbärmlicher Feigling. Wie Millionen andere. Der Junge da draußen ist ja vielleicht gar nicht wirklich schlecht - er hat sich nur aus lauter Dummheit von den Möglichkeiten der Macht blenden lassen. Und nun ist er immer noch zu dumm, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Nicht mehr lange und er wird wie alle anderen beginnen zu beten und zu bereuen - wenn auch nur, dass er die Nummer sich hat tätowieren lassen.« Er beugt sich zu meinem Ohr. »Ich weiß nicht, wer Sie sind. Ich weiß nicht, wie Sie mit dem OGL in Verbindung stehen, das ist mir völlig egal, nur Ihr, hm, bestes Stück sollte möglichst niemand sehen. Die meisten Männer schämen sich, wenn sie dort von einer Schwester gewaschen werden sollen und verzichten lieber aufs Waschen. Seien Sie beschämt im Quadrat, denn Ihr Genital ist verräterisch. Meinetwegen ziehen Sie einen Strumpf drüber und spielen den Verklemmten. Man wird Sie auslachen, aber das tut nicht weh.«
Der Führerbereich des KKH wird von einem bewaffneten Posten bewacht. Das Bett, in dem ich liege, wird dort in ein Zimmer geschoben, in welchem bereits zwei belegte Krankenbetten an der Wand zwischen Tür und Fenster nebeneinander stehen. Nach kurzem Rangieren unserer mit Rollen versehenen Betten, stehen diese schließlich zu dritt nebeneinander. Es stinkt geradezu nach Sterilität. Man spricht kein Wort. Eine pausbäckige junge Pflegerin hängt die Tafel mit meinen Daten ans Fußende des Bettes und liest. Dann lächelt sie, beinahe sogar verführerisch.
»Servus, Herr Kurt Anders. I bin die Hanni aus’m Zillertal. Hui, Sie kemma vom OGL Schreiner? Na, da samma hocherfreut, gelt? O mei, an Bauchschuss, und keine Schonkost? Na, mir ham an sauguts Kraut heuer mit Püree, mögens nacha ein Schlag?«
Um Himmels willen, denke ich. Bloß kein Sauerkraut. Damit hat doch alles angefangen. »Nein, bitte kein Kraut. Nur ein wenig Püree.«
»Na, Sie könn fei auch etwas anderes bekommen.«
»Nein danke. Das genügt mir.«
Geradezu bezeichnend, dass die Bonzen sogar im Krankenhaus stets die freie Auswahl haben, während das restliche Volk hungern muss. Der Mensch neben mir verlangt Seezunge und der am Fenster Beinfleisch mit Schwarzbiersoße und böhmischen Knödeln.
Mich würde es glatt umhauen, wenn ich nicht schon läge, die bekommen das auch! Und ich Idiot begnüge mich mit Kartoffelbrei. Ich könnte mich ohrfeigen. Zur Verdauung erhalten wir echten Bohnenkaffee mit einem Schuss Cognac veredelt.
Zur Zerstreuung und Erbauung erhalten wir Zeitungen, linientreue selbstverständlich, die mit großartigen Schlagzeilen die Wehrkraft zu stärken suchen, indem sie von angeblichen Heldentaten berichten, die den Endsieg einleiten würden. Glorifizieren hanebüchene Meldungen mit dem üblichen unerträglichen Stil von der ersten bis zur letzten Zeile. Man könnte meinen, dass die Alliierten täglich unzählbare Verluste an Menschen und Material erleiden und dass durch geniale Frontverkürzungen der Sieg der deutschen Truppen geradezu vor der Tür steht. Aber bei konzentriertem Lesen - zwischen den Zeilen - wird klar, dass stattdessen die gegnerischen Verbände unmittelbar vor unserer Tür stehen. Wie ich durch eine dieser Türen bis nach München kommen soll, an Amerikanern, Engländern und wem sonst noch vorbei, ist mir schleierhaft. Vielleicht wäre es besser, in Hof zu bleiben, das Ende abzuwarten, um danach Richtung München zu ziehen. Wozu mich der Gefahr aussetzen, aufgegriffen oder abgeschossen zu werden oder sonstwie zwischen die Mühlen der Zeitenwende zu geraten? Von Tag zu Tag werde ich unruhiger.
Im Krankenhaus bedeuten Besuchszeiten für das Personal nichts als lästige Unterbrechungen des festgestampften Tagesablaufs, wie wir aus den Bemerkungen der Schwestern heraushören können. Und zum Ärger der Damen in Weiß dürfen wir besondere Persönlichkeiten jederzeit Besuch empfangen. Nur nachts selbstverständlich nicht, versteht sich.
Carola und Fanny besuchen mich täglich. Da ich nach wenigen Tagen wieder laufen darf, haben sie mir Straßenkleidung und einen Mantel mitgebracht, weil es draußen ziemlich kühl und ungemütlich ist, wo ich doch so gerne durch den Garten des Krankenhauses wandere. Sie begleiten mich in den winterlich kahlen Garten. Fannys Sorgen vergrößern sich täglich, da zunehmend mehr Offizielle und selbst einfachere Leute der Ortsgruppe sowie eindringlich fragende Mitarbeiter des SD wissen wollen, weshalb ihr Mann nicht aus Berlin zurückkehrt. Da war auch die Anzeige, er sei möglicherweise mit einer heimlichen Geliebten verschwunden. Mitsamt dem Sparbuch. Wer war diese Frau? Name, Adresse. Seit wann unterhält der OGL dieses Verhältnis? Und so weiter. Fanny hatte eingesehen, dass sie sich mit der Meldung keinen guten Dienst erwiesen hatte. Zu spät.
Der SS-Mann, der meinen Transport ins Krankenhaus begleitet hatte, war während der vergangenen Tage nicht an meinem Krankenbett erschienen. Er gehört ebenfalls zu den Leuten, die Fanny nachdrücklich befragen, berichtet Fanny und Carola stimmt zu. Die beiden besuchen mich nun sogar zweimal täglich und wirken von Mal zu Mal unsicherer. »Mir glaubt kein Mensch mehr ein Wort. Die Stimmung kippt immer schneller«, argwöhnt Fanny. »Und ich befürchte, dass ich schon bald ohne Samthandschuhe angefasst werde.«
Mist, überlege ich, da habe ich mich auf ein in aller Ruhe abzuwartendes Kriegsende gefreut, aber nichts ist mit Ruhe. Dieser verflixte Joseph Schreiner ist noch mal mein Ende.
Fanny knetet die feinen Lederhandschuhe. »Sieh zu, dass du entlassen wirst! Bei mir wird es wirklich unheimlich brenzlig.«
»Prima Idee«, sage ich, »nur, wenn ich hier offiziell entlassen werde, wird mich sicherlich sofort die Gestapo hoppnehmen. Ich meine, dass der junge schwarze Schreihals sich so in diesem Sinne geäußert hat. Und wenn die mich zwischennehmen, ist alles aus. Da muss uns irgendetwas Besseres einfallen. Nur was?«
Bis zum Abend grübele ich. Einfach so von der Station zu verschwinden ist kaum machbar, wegen der Wache. Obwohl die ja eigentlich zu unser Sicherheit da steht, versteht sich. Haha. Jedes Mal, wenn ich mit Fanny und Carola zum Spazierengehen in den Garten will, wird uns ein anderer bewaffneter Mann zur Seite gestellt, der sich dann am Eingang des Krankenhauses postiert. Mag ja sein, dass sich der eine oder andere auf unserer Station darüber freut, dass kein böser Feind reinkommen kann, nur ich finde es blöde, dass ich nicht unbemerkt raus kann. Die Schmerzen sind nicht mehr nennenswert und ich fühle mich kräftig genug, bis zu Fannys Haus zu laufen, zumal sie mir den Weg dorthin vorsorglich beschrieben hat. Bloß, dass man mich nicht entlassen will. Das geschieht sicherlich auf Anordnung der SS. Klar, die wollen ja wissen, was los ist mit dem OGL und seiner Frau. Wie hier rauskommen? Wie, wie, wie?
Auf unserer (pfui Teufel!) Führerstation liegen ausschließlich Männer und es gibt nur ein ›stilles Örtchen‹, das aus diesem Grunde nicht zu verriegeln ist. In unseren Heldenzeiten hat ein Mann nichts zu verbergen. Ich stehe an der Rinne, um mich zum Schlafengehen zu erleichtern. Hinter meinem Rücken betritt ein Mensch den Lokus und stellt sich neben mich, aber es plätschert nicht. Ich schaue zu dem trockenen Nachbarn auf.
»Ah so ist dös«, sagt die Hanni, unsere Krankenschwester aus dem Zillertal, die neben mir an der Rinne steht. Ungeniert betrachtet sie mein bestes Stück, das sich deswegen sofort beschämt zurückzieht.
»I hob scho einige Schniedelbiesel gsehn, aba so an gspaßigs wie den do noch net. Es gibt net viel inDeutschland, die wo so sind. Des is selten. Wissen S’, mach ma an Gschäft. I erzähl nix von dem da.« Das liebe Mädchen bemüht sich regelrecht um mich. »Dafür tun S’ ma an Gfallen. I mecht so gern wieda heim nach Tirol. Können S’ ma dabei helfa?«
»Wie soll ich denn das fertigbringen? Sie benötigen Reiseerlaubnis, Papiere, Marken, weiß der Himmel, was alles. Wo soll ich das alles herkriegen? Wie stellen Sie sich das vor? Oder haben Sie eine Idee?«
»Nona, aba, wenn S’ beim Ortsgruppenleita seiner Frau, die wo doch jeden Tag herkimmt, nachfragn tun tätn, ob der net mia solche Papiere geben könnt?«
»Das wäre gegen jede Vorschrift, weshalb sollte er so etwas tun?«
Ich habe mittlerweile meine Blöße wieder bedeckt. Hanni schaut schmunzelnd auf meine Hose. »Na, an Ortsgruppenleita mit eim Judn im Gspann, dös is schiach.«
»Was ist das?«
»Net korrekt. So an gschamtes Ding hot koan Deitscher in der Hosn; net amol bei uns. Also entweder i kriag mei Papiere um nach Hause zu foarn, oda i wird’s melden, des Dings. Nacha wern ma schon sehn!«
Zu allem Überfluss auch noch Erpressung, mir bleibt rein gar nichts erspart.
»Heut tu ich nix«, sagt Hanni beim Verlassen des Aborts. »Aber bis morgen möcht i scho gern Bscheid wissen. Pfüati.«
Ich kriege die ganze Nacht kein Auge zu und wälze mich nur ruhelos hin und her.
Jugendlich frisch und freudestrahlend serviert Hanni das Frühstück. Sie zwitschert wie ein vergnügtes Vögelchen an einem Maimorgen. Ich weiche ihrem Blick aus und spreche kein Wort. Das Frühstück lasse ich unberührt.
Hanni nimmt mein Tablett, nachdem die beiden anderen Männer im Zimmer fertig gefrühstückt haben und schaut mich äußerst mitleidig an. »Des sollten’s net tun. Des is net gsund.«
Ich würde sie erwürgen, wenn ich nur könnte. Wenn doch nur endlich Carola und Fanny kämen, damit wir uns beratschlagen können. Ich ziehe den Anzug an, den Fanny für mich gekauft hat. Sobald die beiden kommen, werden wir in den Garten gehen. Da hört wenigstens niemand zu.
Üblicherweise erscheint die Hanni stets eine Weile nach dem Frühstück, um bei uns den Blutdruck zu messen und den Puls zu fühlen. Heute Morgen kommt eine Krankenschwester zu uns, die ich bisher nie gesehen habe. Schwester ist übertrieben, wenn ich Schwester im Sinne von hilfsbereiter Menschlichkeit definiere. Diese Person wirkt eher wie Graf Drakulas älterer Bruder in Schwesterntracht und kaum wie eine hilfreiche Seele. Außerdem trägt sie den Parteibonbon am Kittel. Habe ich bisher auch noch nicht gesehen. Sie rückt einen der Stühle neben die Zimmertür, setzt sich und schaut uns unentwegt an.
Nach einer völlig unbestimmbaren Zeit erscheint der junge und unangenehm freundliche SS-Mann, der meine Einlieferung begleitet hatte, im Zimmer und fordert mich trocken auf, ihm zu folgen. »Ziehen Sie Ihren Mantel an, draußen ist es kalt.« An Drakulas Schwester gewandt sagt er: »Danke, Sie können gehen!«
Schweigend schlägt er automatisch den Weg ein, den ich bereits in den vergangenen Tagen mit Carola und Fanny durch den Garten genommen habe. Dort setzt er sich wie selbstverständlich als Erster auf meine Bank. Er legt die Fingerspitzen seiner Hände gegeneinander und fährt mit den Daumen die Lippenlinien ab und wartet offensichtlich, dass ich mich setze. Er schaut mich weder an, noch beginnt er das Gespräch. Er wartet einfach ab. Wahrscheinlich glaubt er an seine Überlegenheit und Macht. Es ist zwar lediglich die Macht einer untergehenden Diktatur der Dummheit, sowie die Überlegenheit der Uniform, aber dieser Rotzlöffel bildet sich eben sonst etwas drauf ein. Na, da wollen wir mal sehen, denke ich und setze mich neben ihn. Wir schauen uns nun lange schweigend an ohne zu blinzeln. Schließlich nickt er beinahe unmerklich.
»Gut«, sagt er, »lassen wir die Spielchen. Unsere Zeit ist sehr knapp bemessen.«
»Meine nicht«, gebe ich zurück.
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich bin mit einem ganz lieben Mädchen befreundet. Sie arbeitet als Krankenschwester. Sie kennen sicher Hanni?«
»Daher weht der Wind«, stelle ich fest. Das ist wesentlich übler, als ich gestern befürchtet habe. Deswegen hat der Mann mich in letzter Zeit nicht mehr besucht, er ist durch Hanni bestens informiert über mich. Und darüber hinaus über meinen ...
»Hanni hat mir viel von Ihnen erzählt und heut früh über eine ganz besonders delikate Pikanterie an Ihnen berichtet.«
Verdammt!
»Ich möchte Ihnen ein Geschäft vorschlagen. Was halten Sie davon?«
»Am liebsten Abstand. Nehmen Sie es nicht persönlich, aber Ihr Verein gefällt mir nicht.«
Er lacht kurz. »Verein? Na, Sie machen mir Spaß. Auch wenn ich eine Uniform trage, die Sie anscheinend nicht schätzen, können Sie unsere Organisation nicht einen Verein nennen. Wir sind maßgeblich für die Sicherheit des Reichs verantwortlich.«
»Verantwortung? Das ist gut. Ja, das ist sogar sehr gut! - Werden Sie die Verantwortung für alles übernehmen, wenn es dieses Reich nicht mehr gibt?«
»Allein dafür könnte ich Sie standrechtlich erschießen lassen.«
»Ich weiß. Im Verantwortungsbereich Ihrer Organisation, wie Sie gerade so schön sagten, werden immer häufiger auch die eigenen Leute ermordet, wenn sie die Wahrheit aussprechen. Werden Sie dafür ebenfalls die Verantwortung übernehmen?«
Er senkt kurz den Blick. »Ich bin in dieser Regierungsform erzogen worden und glaube an sie. Vielleicht ist es falsch, vielleicht nicht. Ich denke seit einiger Zeit darüber nach.«
»Weil Sie wissen, dass es zu Ende geht?«
Er hebt wütend den Kopf, die Kiefer mahlen. Womöglich knallt er mich nun direkt über den Haufen? Stattdessen schürzt er die Lippen und senkt ganz kurz den Blick. »Nun, ich möchte mir das gar nicht vorstellen, andererseits ... Auf jeden Fall muss ich des Öfteren nachdenken. Das ist nicht verboten!«
»Ach nein?! Seit wann denn nicht mehr? Ist nicht jeder, der seit zwölf Jahren in Deutschland nach- oder vordenkt und über seine Gedanken redet, schnellstens von den Behörden kassiert und mundtot gemacht worden? Meist endgültig?!«
Er atmet hörbar ein. »Wahrscheinlich haben Sie recht, zugegeben. Und gerade deswegen möchte ich zum Beispiel wissen, was mit dem Ortsgruppenleiter geschehen ist. Wenn sich meine Theorie bestätigt, dann muss ich befürchten, tatsächlich einem Irrglauben gefolgt zu sein. Trotzdem fühle ich mich an meinen Schwur gebunden und ich stehe zu meinem Wort.«
»Mein Gott, wie heroisch. Weshalb hören Sie nicht auf, schmeißen die Uniform in den Dreck und verschwinden?« Ich kann dem jungen Mann doch jetzt nicht so einfach sagen, dass ich das mit meiner Vergangenheit genauso gemacht habe.
»Weil es Verrat wäre.«
»Menschenskind, Verrat woran?«
»An allem, woran ich geglaubt und wofür ich gelebt habe.« Er atmet tief durch. »Aber das geht schließlich nur mich etwas an. Beantworten Sie mir einige Fragen?«
»Können Sie mir versprechen, dass ich niemandem damit schade?«
»Das liegt letztlich an Ihren Antworten.«
»Gut, versuchen wir es«, stimme ich zögernd zu.
»Ich möchte lediglich von Ihnen hören, wer auf Sie geschossen hat und weswegen. Ich stelle seit zwei Wochen diesbezüglich Nachforschungen an und anhand diverser Widersprüche habe ich mir, wie gesagt, eine Theorie zusammengestellt, untermauern oder zerstören kann diese nur jemand, der bei der Schießerei zugegen war. Und Sie als verletztes Opfer waren ja wohl zugegen. Sagen Sie mir bitte, wer auf Sie geschossen hat.«
»Das weiß ich nicht.«
Er lächelt müde. »Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Das steht Ihnen frei.«
Er reibt sein Kinn. »Gut. Ist es richtig, dass der- oder diejenige nicht im Hause des Ortsgruppenleiters Schreiner auf Sie geschossen hat?«
»Ja, das stimmt.« Das wird doch jetzt hoffentlich kein Fehler gewesen sein?
»Schön, das deckt sich mit meinen Informationen.«
Dem Himmel sei Dank, atme ich auf.
Er wirkt nachdenklich. »Wenn ich Ihnen nun glaube, und das tue ich, dass Sie eine recht strapaziöse Reise hinter sich haben, dann ist es somit wahrscheinlich, dass Sie an diesem oder jenem Ort eine Pause, eine Etappe eingelegt haben. Ist das zutreffend?«
Vorsichtig, Jakob! »Hm.«
»Dieses Hm deutet darauf hin, dass Sie über mögliche Zwischenstationen nicht sprechen möchten. Aus irgendwelchen Gründen. Gut. Sie können ja durchaus irgendwo im Freien genächtigt haben oder unberechtigterweise in einer Scheune. Es wäre sogar viel günstiger, wenn Sie sich derartig verhalten hätten.«
Was soll denn das jetzt?
»Denn im Meldebuch eines bestimmten Gasthofes hat sich ein Besucherpaar unter dem Namen Anders eingetragen. Nun habe ich mir vorgestellt, dass es sich dabei um ein gewisses Ehepaar Anders aus Dresden gehandelt haben könnte. Und da dieses Gasthaus in Hof liegt und an selbigem Gasthaus unser Ortsgruppenleiter Schreiner, nun sagen wir mal so, stiller Teilhaber war, wie ich herausgefunden habe und weiß, dass der OGL dort nahezu täglich spätabends dort einkehrte, gehe ich davon aus, dass er ebenso an dem bewussten Freitag das Gasthaus besuchte. Vielleicht war ihm nach Musik, Gesellschaft oder neuesten Nachrichten, Sie wissen schon! Nun ist der Herr ausgerechnet seit jener Nacht spurlos verschwunden und stattdessen tauchen Sie plötzlich auf, verletzt, angeschossen sogar. Und nun hat sich mein, wie Sie ja glauben, krankes Hirn an dem Gedanken festgebissen, dass die Schießerei eben dort stattgefunden haben könnte. Könnte es so gewesen sein?«
Lisa und Stani, mein Gott, wenn ihr wüsstet, in welcher Gefahr ihr schwebt!
»Nein«, sage ich schnell. »Ich erinnere mich jetzt, aus einem Tiefflieger hat man auf mich geschossen.«
Nun lacht er laut. »Diese Antwort hatte ich nicht erwartet. Das erklärt selbstverständlich eine ganze Menge. Wirklich ausgezeichnet!«
Ich atme auf.
»Das Dumme daran ist nur«, hält er dagegen, »dass es seit Längerem keine solchen Angriffe bei uns in der Gegend gegeben hat. Und Ihre Verletzung, besser gesagt die Behandlung der Wunde, konnte erst wenige Stunden alt sein, bevor man Sie beim SD eingeliefert hat, wie mir der Chirurg der Krankenstation versicherte. Also Tiefflieger scheiden aus. Denken Sie bitte ganz genau nach.«
Von SS-Leuten befragt zu werden ist sehr übel, aber dabei auf einen freundlichen Frager zu treffen, kommt mir schon beinahe hinterlistig vor. Wie soll ich mich denn darauf äußern? Ich schweige lieber. Der Mann fragt in diesem Stil weiter und immer häufiger weigere ich mich zu antworten, denn er stellt die Fragen derart, als hätte er das Geschehen persönlich miterlebt.
»Eine letzte Frage«, sagt er wieder sehr freundlich. »Hanni hat Sie um einige Papiere zur Heimreise gebeten. Bei Ihren Beziehungen zur Ortsgruppenleitung könnten Sie dem Mädchen sicherlich diese Gefälligkeit erweisen. Sie hätte mich dann ja nie eingeweiht.«
»Das hat das feine Mädel doch längst getan. Wahrscheinlich wäre dann alles noch viel schlimmer. Vetternwirtschaft innerhalb der Partei? SS und SD drehen krumme Dinger, und ich wüsste davon. Da wär mein Leben erst recht keinen Pfifferling mehr wert. Außerdem glaube ich nicht, dass Männer Ihres Schlages sich um irgendeine Frau bemühen. Und wenn, dann höchstens wie die Neandertaler - mit ‘ner dicken Keule auf den Kopp und ab!«
Die Knöchel an seinen Fäusten treten weiß hervor. Der ist so wütend, der weiß gar nicht mehr, was er sagen soll. Ein sprachloser SS-Mann, das gefällt mir.
»Ich weiß gar nicht, warum ich mir das anhöre!«, bringt er gepresst hervor.
»Na, weil es stimmt, denke ich.«
Er verfügt über eine unglaubliche Selbstbeherrschung, streckt die Finger und legt die Spitzen gegeneinander. »Sie irren sich, Herr Anders. Nennen wir es mal so, ich wüsste die Hanni gerne in Sicherheit. Und wenn Sie mir, das heißt der Hanni, helfen würden, könnte ich mir vorstellen, mich nicht weiter um Ihre körperliche Besonderheit zu kümmern. Wenn Sie wenigstens mit dem Herrn Schreiner darüber reden würden, genügte mir dies vollkommen.«
Das geht doch nicht mehr, und dieser Mensch ist darüber genau im Bilde. Ich schüttele verlegen den Kopf. Er reibt die Handflächen gegeneinander und redet ruhig weiter: »Das heißt, Sie würden schon, aber Sie können nicht, weil ... weil er nicht in der Lage ist, diesen Dienst zu erweisen, nicht wahr?«
»Nein, das heißt, ich kann nicht. Wie soll ...«
Er legt mir unvermittelt eine Hand auf die Schulter. »Halten Sie den Mund, ich glaube, ich weiß, woran ich bin und das widert mich an. Sehen Sie zu, dass Sie Hof so schnell wie möglich verlassen. Die Suche nach dem verschwundenen Joseph Schreiner wird nämlich erheblich verstärkt und auf gehobener Dringlichkeitsstufe erledigt. Und wer irgendwie damit zu tun hat, spielt mit dem Feuer. So, ich muss jetzt dringend zur Toilette und verlange von Ihnen, dass Sie hier auf mich warten.« Er kneift mir ein Auge zu. »Jeder Fluchtversuch wäre zwecklos und obendrein eine Unverschämtheit meiner Behörde gegenüber!« Er reckt sich ausgiebig und flüstert: »Leben Sie wohl, solange Sie können.« Dann schlendert er zum Krankenhausgebäude.
Also wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann soll ich mich schleunigst aus dem Staube machen. Der Garten ist menschenleer. Ob der das so eingerichtet hat? Weswegen? Die Zwischentür zum Eingangsbereich und die Außentür sind nur angelehnt und ich schlüpfe unbemerkt ins Freie. Ist ja mächtig nett von dem SS-Mann. Hm. Vielleicht handelt es sich um eine Falle, um wegen dieses Fluchtversuchs aus dem Krankenhaus eine Festnahme von Carola, Fanny und mir zu begründen. Und dann könnte der SD uns ohne weitere Mühe kurzerhand zu Befragungen kassieren. Ich habe keine Zeit, länger zu überlegen, entweder oder. Mal sehen, ob das Schicksal an unsere Tür klopft.
Den Weg zum Haus hatte mir Tante Fanny haarklein beschrieben. Besonders die paar markanten Punkte des Weges, an denen ich jeweils einer bestimmten Richtung folgen soll. Kinderleicht, hatte sie mir gesagt. Ich verlaufe mich prompt. Und jedes Mal, wenn ich endlich begriffen habe, dass ich nicht mehr auf dem vorgezeigten Weg bin, kehre ich um und suche nach dem einen oder anderen markanten Punkt, um von dort aus den Weg erneut zu gehen. Es kommt mir immer sinnloser vor, jedes Haus, jede Straße sind mir mittlerweile bekannt. Bestimmt irre ich schon stundenlang in der Stadt umher und habe bereits jegliche Orientierung verloren. Nicht mal das KKH würde ich wiederfinden, will ich ja auch gar nicht. Der Bauch schmerzt, durstig bin ich und hungrig.
Déjà-vu - in Lyon hatte ich mich mal sehr verlaufen. Ich war damals als Gastredner der Universität eingeladen gewesen und hatte mich in den engen und unüberschaubaren Gassen und Gässchen des frivol-hübschen Ortes verlaufen, weil ich ihn auf eigene Faust erwandern und erkunden wollte. Dass ich Jude war, interessierte dort niemanden und über meine deutsche Kleidung schauten die Leute zurückhaltend hinweg. Beneidenswertes Frankreich.
Aber ich bin nicht in Frankreich. Ich irre durch diese verfluchte Dreckstadt in Deutschland. Und hier ist es ebenso gefährlich wie in Köln oder Dresden oder sonst wo im Reich unter der Knute des geistigen und kulturellen Abschaums. Meine unkontrollierte Wanderung kann sogar tödliche Folgen haben, denn möglicherweise wird ja inzwischen nach mir gefahndet. Vielleicht sind Fanny und Carola derweil verhaftet? Ich erreiche eine Straßenkreuzung, die mir bekannt vorkommt. Der Durst macht mich wütend, am liebsten würde ich einfach nur mit Carola aus der Stadt verschwinden!
Auf einer herrschaftlichen, breiten, geteerten Straße bleibe ich stehen. Hier bin ich heute garantiert schon mehrmals gewesen. Klar, die kaputte Uhr an dem Haus hat mir ständig die immer gleiche Tageszeit angezeigt und nur wenige Schritte weiter sind mir jedes Mal die zahlreichen Plakate mit Durchhalteparolen der Partei aufgefallen. Ich werde den Eindruck nicht los, dass in dieser Region diese scheußlichen Dinger viel zahlreicher herumhängen, als ich von Dresden her gewohnt war. Besonders ärgern mich die vielen Litfaßsäulen mit ein und demselben ekelhaften Plakat, auf dem ein niedliches Mädel mit blonden Zöpfchen in Kittelschürze über schneeweißen Kniestrümpfen dem Despoten in Feldgrau ein buntes Sommerblumensträußchen überreicht. Und dazu die Überschrift: ›Ich danke meinem Führer‹, bringt mich nahezu außer Fassung. Zumal ich erst jetzt bemerke, dass es sich immer um ein und dieselbe Litfaßsäule gehandelt haben muss, an der ich vorbeigelaufen bin. Ich würde so gerne diese Litfaßsäule mit dem Plakat zerstören, dagegen pinkeln, irgendetwas dagegen unternehmen. Ich sammle gerade Spucke im Mund, um das Plakat wenigstens heimlich anzuspucken, da bemerke ich aus den Augenwinkeln, dass sich zwei Feldjäger nähern. Die Maschinenpistolen halten sie mannhaft quer vor den Bäuchen. Und weil ich noch ganz in wütenden Gedanken bin, suche ich wie gewohnt automatisch den Bürgersteig vor ihnen zu verlassen, wie es uns vorgeschrieben ist. Nachdem ich bereits einen Fuß auf die Straße setze, kommt mir mein Ausweichmanöver viel zu verräterisch vor. Ich halte inne, lege den Zeigefinger an die Lippen und schüttele den Kopf.
Die Feldjäger bleiben neben mir stehen. Sie riechen nach öliger Luft, Bohnerwachs und heldenhafter Kampfgemeinschaft. Die Haare des einen leuchten rötlich blond unter dem Stahlhelm hervor, die geäderte Haut wirkt fahl. Er tippt ununterbrochen mit dem aufliegenden Daumen gegen die glänzende Waffe.
»Na, Meester«, spricht er mich jovial an, »ham wa Sorjen? Oder jefällt Ihnen an det Plakat wat nich?« Die Stimme klingt warm und freundlich, überhaupt nicht nach Militär. Ich schaue den Mann an. Er erinnert mich automatisch an Gottlieb.
Gottlieb Kremer, farblose Haut, fleischlicher Körper und schütteres rötlich blondes kurzes Haar auf dem Schädel, der viel eher zu einem Gelehrten gepasst hätte. Er liebte Bücher, besonders von Gottfried Keller und Jean Paul und wäre so gern Deutschlehrer geworden am Lyzeum (er war förmlich vernarrt in weibliche Zartheit und mädchenhafte Anmut, wir lärmende Jungs widerten ihn nur an). Sein Vater besaß die am besten frequentierten Metzgerläden Dresdens und verlangte Gehorsam vom Sohn. So wurde Gottlieb ins Metzgerhandwerk geprügelt. Er übernahm die Läden und hatte eines Tages eine rosige Frau geheiratet. Bald folgten wohlgenährte Kinder und Aufgaben in der höheren Gesellschaft. Die lyrischen Ambitionen hatte er restlos abgelegt, denn ein lyrischer Metzger wirkt eher eigenartig. Obwohl - manche Kriegsgerichtsräte lasen ja schließlich auch Gedichte.
»Na?« Dieser Kettenhund gleicht selbst auf den zweiten Blick einem gemütlichen Metzgermeister, dem Hunger ein Fremdwort sein mag. Der andere bohrt ständig mit einem Streichholz in den Zähnen und betrachtet dann interessiert das Ergebnis seiner Bemühungen. Die beiden wirken sehr gelangweilt, lediglich die übergroßen Blechschilder, die an stabilen Ketten um ihre Hälse hängen, vermitteln den wohl gewünschten Eindruck der Brachialgewalt.
Mein Mund ist staubtrocken, die Zunge klebt am Gaumen, Angstschweiß strömt aus allen Poren. Hoffentlich können die meine Angst nicht riechen. Wenn die mich nach Papieren fragen, renne ich Idiot bestimmt auch noch weg. Ganz automatisch und mit dem üblichen Ergebnis - Ordnungshüter laufen nicht hinter jemandem her. Die schießen in aller Ruhe ein ganzes Magazin hinter dem Flüchtenden leer und schauen dann mal.
Also stehen bleiben, Jakob, präge ich mir ein. Nur schön stehen bleiben. Frechheit steh mir bei. »Entschuldigen Sie, meine Herren, können Sie mir vielleicht erklären, wie ich zur Ortsgruppenleitung komme? Ich muss mich völlig verlaufen haben.«
Der Zähnebohrer unterbricht seine Tätigkeit und mustert mich skeptisch.
»Ortsgruppenleitung? Weswegen?«
»Nun, unter anderem habe ich vor, mich in der Partei einschreiben zu lassen.«
Die beiden werfen sich unsichere Blicke zu. »Sie wollen sich jetzt noch eintragen lassen?« Fassungslosigkeit steht deutlich in den Augen der beiden.
Ich stoße mit dem Zeigefinger in Richtung der Kettenhunde. Der mit dem Metzgergesicht zuckt ein wenig zurück, während ich ihn anblaffe. »Was heißt denn ›jetzt noch‹? Wollen Sie mit Ihrer Ausdrucksweise etwa Zweifel am sicheren Endsieg erkennen lassen?« Sonderbar, diese Kerle sind jederzeit in der Lage, unsereinen wegen Nichtigkeiten auf der Stelle zu erschießen, aber wenn man sie selbst attackiert, haben die genauso Schiss wie wir. Macht eigentlich sogar Spaß.
»Nein, selbstverständlich nicht«, antworten beide Münder gleichzeitig. Der Zahnbohrer spuckt erst das Zündholz aus und dann sogar eine Begründung hinterher. »Ich meinte nur, weil es schon Nachmittag ist und ob man Sie um diese Zeit empfängt, würde mich wundern.«
Der Mensch hat prima die Kurve gekriegt, denke ich. Kompliment.
»Nun, vielleicht nicht wegen der Partei. Ich habe nämlich gehört, dass die Ortsgruppenleitung wehrfähige Männer für den Volkssturm sucht. Ich bin zwar in einer u.k.-Position, trotzdem halte ich es für meine Pflicht, mich selbst zum Einsatz für den Endsieg zu melden. Jeder Mann wird doch gebraucht.« Ich stemme die Hände in die Hüften und setze eine wichtige Miene auf.
Die beiden blicken sich ratlos an und sind augenscheinlich um Fassung bemüht. Armer Irrer, lese ich in ihren Gesichtern.
»Das ist sicherlich richtig. Deshalb wollen Sie zur Ortsgruppenleitung? Seit wann sind die denn dafür zuständig?«
»Na«, komme ich in Fahrt, »soll ich mich vielleicht bei der Hitlerjugend melden, Mann? Mir hat man diese Adresse mitgeteilt.« Ich nenne den Straßennamen. »Da dort der Herr Ortsgruppenleiter Schreiner wohnt.«
Zwei Augenpaare schauen mich weiter an wie einen Verrückten.
»Lass man«, sagt der Metzger. »Bei det jelbe Haus mit die hohen Fenster da vorne müssen Se rechts rein.«
Anscheinend bin ich den ganzen Tag ständig gedankenverloren im Kreis gelaufen und habe dieses gelbe Haus, einen der markanten Punkte, die Fanny hervorgehoben hat, glatt übersehen. Jetzt erinnere ich mich. So was Blödes.
»Und denn müssen Se die zweete noch ma rechts und die dritte wieda nach links. Denn sind Se schon da.«
Ich bedanke mich markig, schlage die Hacken zusammen, hebe den gestreckten rechten Arm und rufe den Gruß aller deutschen Nationalidioten. Dann gehe ich in Richtung des gelben Hauses.
»Na, da wern sich die Amis ja in die Hosen scheißen«, höre ich einen der beiden hinter mir lästern. Egal, nur weg hier.
8.
Es dämmert leicht, als ich endlich Fannys Haus erreiche. Zunächst gehe ich selbstverständlich erst mal am Haus vorbei und beobachte die Umgebung. Nicht, dass der SD bereits auf mich wartet. Ein Opel Wanderer steht ein paar Häuser weiter geparkt. Ich schlendere an dem Wagen vorbei und werfe einen Blick hinein. Das Fahrzeug ist leer. Schön. Aber genauso gut können die Kerle im Garten, im Haus oder sonst wo auf mich warten. Ich kann ja schlecht den ganzen Abend hier in der Gegend hin und her wandern. Das wäre auch auffällig.
Mit der Hose voll Mut betrete ich Fannys Garten, gehe zur Haustür und drücke den Messingknopf, der die Schelle zum Schnarren bringt. Ich höre Schritte und halte den Atem an. Fanny öffnet und macht dann verwirrt einen Schritt zurück.
»Kurt?« Sie späht vorsichtig in den Garten.
»Keine Sorge, ich bin allein. Und ihr?«
Fanny verzieht verständnislos die Miene. »Natürlich. Wen hast du erwartet?«
Ich folge ihr ins Haus und schließe die Tür hinter mir, nachdem ich eingehend den Vorgarten beobachtet habe. Kein Busch bewegt sich, niemand tritt ins Freie. Ich folge Fanny in die Küche. Dort steht Carola und hält eine Schüssel mit Kartoffeln in den Händen. Sie schaut mich ebenfalls verständnislos an. Ich nehme ihr die Schüssel ab.
»Wir müssen sofort verschwinden. Ich habe vorhin erfahren, dass nunmehr verstärkt nach deinem Mann gefahndet werden wird, Fanny.«
»Hast du erfahren? Aha. Mir ist nichts Derartiges bekannt. In welchen Kreisen verkehrst du neuerdings, wenn du so etwas wissen willst?«
»Will ich gar nicht. Aber der SS-Mann, den du seinerzeit zusammengestaucht hast, war heute nach längerer Zeit mal wieder bei mir im Krankenhaus und hat recht eindrucksvolle Dinge von sich gegeben. Auch, dass der SD jetzt nach Joseph suchen wird. Und nicht nur so aus Jux und Tollerei. Zudem habe ich den Eindruck, der Mann weiß ganz genau, wie der Hase läuft.«
»Der war oft bei uns und hat die ungewöhnlichsten Fragen gestellt. Geradezu unheimlich.«
»Sag ich doch! Und ich möchte nicht mehr hier sein, wenn herauskommt, was geschehen ist. Lasst uns verschwinden. Vorher möchte ich nur etwas trinken, ich habe nämlich großen Durst. Und dann hauen wir ab.«
»Lass uns zunächst zu Abend essen«, sagt Fanny. »Und dabei wollen wir überlegen, wohin wir denn abhauen sollen.«
»Und wenn die Kerle derweil eintreffen?«
»Die halbe Stunde spielt nun wirklich keine Rolle mehr. Ob man uns im Haus antrifft oder ein paar Kilometer weiter, das ist gleichgültig. Das heißt, wenn wir erst mal unterwegs sind, sieht es für uns ungleich übler aus. Dann wird es nämlich heißen, wir seien auf der Flucht. Und dazu kommt, dass wir uns gar nicht einig sind, wohin die Reisegehen soll.«
Während des schnellen Abendessens rät uns Fanny eindringlich, von Hof aus die Richtung zum Frankenwald zu nehmen, um dann einen Haken zum Fichtelgebirge zu schlagen. Sie zeigt sich geradezu besessen von dem Gedanken, möglichst schnell den Bodensee zu erreichen. Sie ist nämlich überzeugt, eine Passage in die Schweiz kaufen zu können. Sie deutet verhalten eine finanzielle Verbindung dorthin an.
Meinen Hinweis auf das Versprechen, das ich im Inferno der Dresdner Bank gegeben habe, wischt sie mit einer Handbewegung vom Tisch.
»Ich halte dieses Vorhaben für ausgemachten Unsinn. In dieser Zeit sterben Tag für Tag Tausende, was bedeutet da ein Versprechen? Das weiß doch kein Mensch auf dieser Welt. Und außerdem würde ich besonders größere Städte umgehen. Zum einen wegen der Luftangriffe, und zum anderen weil dort vor allem annähernd geordnete Strukturen der Behörden existieren. In den ländlichen Gegenden ist der Parteigehorsam weitgehend erloschen. Da denkt jeder an die Zeit danach und möchte sich wohl kaum eine Leiche in den Keller legen. Ich sage es gern ein zweites Mal, auf dem direktesten Weg zum Bodensee und dann nichts wie rüber in die Schweiz. Warum kommt ihr nicht mit mir? Dort können wir in aller Ruhe abwarten, bis der Spuk vorüber ist.«
»Hm.« Ich sehe Carola an.
»Das wäre vernünftig, Jankele.«
»Tja, eigentlich schon, aber ...«
»Vergiss dein Aber. Wenn der Krieg vorüber ist, kannst du ohne Sorgen um deine Abstammung nach München gehen und in Ruhe und Frieden nach den Leuten suchen. Wer weiß denn, ob es die überhaupt noch gibt?«
Ich muss an Bruno Bierlos denken, wie er uns in Dresden aufgefordert hatte, in die Schweiz zu gehen. Damals ein wahrlich verführerischer Gedanke und ebenso heute - mit einem obligaten Schönheitsfehler.
»Ohne Papiere sind wir Freiwild«, halte ich dagegen. »Na ja, ich zumindest. Carola hat ja ihre Kennkarte, mein Kram liegt indessen bei der Meldebehörde. Bei dem Namen Anders wird mir ganz anders.«
»Unsinn, mein Junge. Kommt mit in Josephs Büro.«
Fanny öffnet dort einen stählernen Aktenschrank. Unzählige Formulare, Meldeblätter, Stempel und Kennkarten liegen darin.
»Joseph hat in den letzten Monaten die Kennkarten der Verstorbenen aufbewahrt. ›Man kann nicht wissen‹, hat er stets gesagt, ›ob wir das Zeug nicht irgendwann mal gebrauchen können.‹ Suchen wir doch einfach nach einem passenden Ausweis für dich.«
Wir blättern in den Meldekarten von längst verstorbenen Personen. Ein ungemütliches Gefühl, weil ich immer dran denken muss, dass irgendwann von jedem von uns nur ein solch erbärmliches Stück Papier übrig bleiben würde.
»Hier!«, ruft Fanny. »Der ist goldrichtig! Auf dem Bild ist das halbe Gesicht angeschmort. Was noch zu erkennen ist, ist dir beinahe ähnlich, finde ich.« Sie reicht mir den Ausweis.
Karl-Heinz Lange, lese ich. Geboren am 1. August 1914, genau am Tag des Beginns des großen Krieges. Na ja, des ersten unüberschaubar großen Krieges, den wir vom Zaun gebrochen haben - auch mal ein Geburtstagsdatum. Ich habe nie daran gedacht, dass an solch einem Tag Kinder geboren werden. Karl-Heinz Lange, Beruf - Jurist. Mein Herz hüpft in die Höhe - endlich wieder Jurist sein zu dürfen. Zumindest auf der Kennkarte des anderen. Keine unveränderlichen Kennzeichen hatte der Karl-Heinz Lange. Habe ich ebenfalls nicht, bloß dass ich eigentlich tot zu sein hätte, im Gegensatz zu ihm.
Ich habe mich niemals richtig angesehen in einem Spiegel, fällt mir auf. Mein Bild habe ich betrachtet, ja. Aber nicht mich angesehen, nicht wirklich. Sehe ich aus wie ein Jude? Wie sieht ein Jude überhaupt aus? Im Flur des Hauses steht ein bodenlanger Spiegel und ich will das nun wissen, gehe in den Flur, stelle mich vor den Spiegel und schaue mich sehr genau an.
Ich sehe aus, wie ich nun eben mal aussehe. Ein stinknormaler Mensch männlichen Geschlechts. Beinahe achtunddreißig Jahre alt, nicht fett, nicht blond. Der brünette Oberösterreicher liebt ja Blonde; vielleicht hasst er ja uns Nichtblonde, weil er selbst einer ist? Meine Nase kommt mir nicht größer oder krummer vor als die des Verbrechers aus Braunau am Inn. Und wenn ich mich so betrachte, habe ich nicht den Eindruck, einer Bestie gegenüberzustehen, sondern lediglich einem recht unauffälligen Mann. Von Hitler weiß ich es nicht, ich habe ihm nie gegenübergestanden. Im Spiegel erscheinen Carola und Fanny, die im Türrahmen hinter mir stehen bleiben. Ich schaue sie seitenverkehrt an. »Sehe ich aus wie ein Insekt, das man möglichst schnell umbringen sollte? Was ist an mir so unendlich ekelhaft, dass man mich - wie heißt es doch so wortgewaltig - ausmerzen muss?«
Sie blicken mich eine Weile schweigend an.
»Nichts.« Carola versucht zu lächeln.
»Diese Leute haben Angst vor euch.« Fanny massiert ihre Schläfen. »Sie stellen die Nation, das Große, in den Vordergrund, weil sie selbst erbärmlich sind. Miese Kleinbürger, die sich im Größenwahn gefallen. Verkrachte Existenzen, welche die einzige Chance ergriffen haben, endlich auch mal etwas zu sein scheinen - und sei es nur für ein paar Jahre. Ich habe viele kennengelernt. Joseph, dein Onkel Joseph war ein klassisches Beispiel für diese Einstellung. Verliebt habe ich mich in ihn, weil er so zärtlich war und in vielen Situationen so hilflos erschien. Ein großer Junge, der nicht so recht wusste, was ihm geschah. Zuvorkommend war er, freundlich, ruhig und zurückhaltend. Dann kam die Partei ans Ruder und er hatte urplötzlich eine Chance, über Macht zu verfügen, den kraftvollen Mann zu spielen. Und ganz besonders, für seine Taten nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden zu können - zumindest nicht, solange es das Reich gibt. Danach würde man einen Ausweg finden. Ob nun durch Kennkarten von Verstorbenen oder deren Geld. Wir, also Joseph und ich haben in Luzern ein Konto, auf dem liegt ein Vermögen in Schweizer Franken. Joseph hatte immer davon geträumt, sobald es mit seiner Stellung im Reich vorbei sei, würde er von hier verschwinden und dort ein neues Leben beginnen. Und ihr könnt es mir glauben oder nicht, sehr viele - sehr sehr viele andere werden genau dies tun. Werden ganz plötzlich verlässlichste Demokraten sein. Werden von den Früchten ihrer Tätigkeiten für das Regime, über sehr gute Startbedingungen in der hoffentlich kommenden Demokratie verfügen. Und daraus die beste wirtschaftliche Entwicklung nehmen, Ansehen und einen Haufen Ehre empfangen, weil sie der Demokratie großzügige finanzielle Hilfe spenden, die reichhaltig wieder auf sie zurückfließen wird. Ihr glaubt ja gar nicht, was für einen Haufen Geld mit dem Wiederaufbau verdient werden wird, wenn dieser Krieg verloren sein wird. Und wer wird’s verdienen? Hahaha, selbstverständlich diejenigen, die auch das Regime in den Sattel gehoben haben. Wer im Reich bisher kräftig verdient hat, wird an der kommenden Regierungsform - wenn wir Glück haben, wird’s wirklich eine Demokratie werden - ebenso kräftig verdienen. Was glaubt ihr wohl, was dann für Patentdemokraten aus dem Nichts auftauchen werden, und in welchen Massen. Millionen Widerstandskämpfer! Schlagartig! Dass irgendjemand Hitler gewählt hat, davon wird man möglicherweise mal gehört haben - wer weiß, wer das nur gewesen sein könnte? Wahrscheinlich die Juden. Verzeih, Jakob.«
»Wenn schon, dann Karl-Heinz, bitte. Hast du Hitler gewählt?«
Fanny lacht bitter. »Selbstverständlich. Joseph hätte mir niemals verziehen, wenn ich es nicht getan hätte. Ich wusste doch überhaupt nicht, was ich da wähle. Ich habe ein Bild gewählt, keine Person. Das war wie ein Gespenst. Nein, Gespenst ist falsch. Wer Hitler wählt, ist auch für Hindenburg, so hat mir Joseph das erklärt. Wer für Hitler ist, wählt Freiheit, Arbeit, Fressen. Natürlich habe ich den gewählt; Joseph hätte mich andernfalls erschlagen, er stand in der Wahlkabine hinter mir in seiner nagelneuen Uniform und hat aufgepasst, dass ich das Kreuz an der richtigen Stelle mache. Menschenskinder, war der plötzlich ein Mann. Wenn er in seiner Uniform heimkam, roch er so stark, so machtvoll, als wäre er der persönliche Stellvertreter vom Führer.«
Carola klatscht in die Hände. »Nun hör aber auf, du übertreibst maßlos.«
Fanny grinst gequält. »Du hast ja keine Ahnung. Bist du Hitler jemals begegnet?«
»Um Himmels willen nein!«
»Ich bin ihm begegnet. Zweimal«, sagt Fanny. »Das erste Mal zur Amtseinführung der neuen Ortsgruppenleiter in Bayern. In der ersten Reihe standen unsere Männer, die neuen Machthaber in unseren Städten, wir Ehefrauen dahinter. Dann trat uns der Mann in seiner penibel sauberen Uniform gegenüber und wirkte auf mich wenig führerhaft, eher bescheiden, bis ich seine Augen sah. Beglückwünschte unsere Männer, schaute uns Ehefrauen dann eindringlich an. Durchbohrte uns mit seinen Blicken, erstickte uns mit seiner Aura. Und als er mich ansah, war ich vollkommen willenlos. Und ich wette mit dir, Carola, jeder anderen ging es genauso. Wenn der Kerl von uns verlangt hätte, sich ihm als Sklavin anzubieten, hätten wir alle es getan. Ein Teufel, ein Geisterbeschwörer, ein fanatisches Tier.« Fanny atmet hörbar aus. »Zu der Zeit habe ich an jedes Wort von ihm geglaubt. Alles war richtig, was er sagte. Ich bin ihm nochmals begegnet, am Obersalzberg. Er spielte mit seinem gehorsamen Köter und führte uns seine ebenso dressierte Eva Braun vor an diesem 20. Juni 1941, einem Freitag. Für zwölf Uhr waren wir bestellt und ich habe bis heute keine Gewissheit, weswegen. Ich vermute, weil am nächsten Morgen der Russlandfeldzug begann, denn er sprach viel über den großartigen Verlauf des Krieges und über das nahe ruhmreiche Ende. Und er sprach über die bisher gefallenen Soldaten seiner Feldzüge, nannte sie eine glänzend geringe Opferzahl, als rede er über Staub im Wind. Da war kein Zauber mehr, nur noch Teufelei. Und es roch nicht mehr nach Macht und Größe, es stank! Und seine Hand, die schlaff auch meine ergriff, schwitzte. Seine Augen blitzen, aber jetzt grässlich, kalt, unmenschlich und irre. Ich ekelte mich nun vor der Todesaura des Mannes. In jener Nacht verlangte Joseph von mir sein Recht. Er wollte und ich wollte nicht, da hat er mich vergewaltigt. Seitdem habe ich den modrigen Dunst des Obersalzbergs in der Nase. Ich war nie prüde und mochte es, genommen zu werden. Meinetwegen von einer ganzen Kaserne voll junger Männer - einer nach dem anderen. Diesen Modergeruch wurde Joseph einfach nicht mehr los. Er roch nur noch nach Hitler, faulig, sauer, eklig. Kann man eklig eigentlich steigern?« Fanny schweigt eine Weile und schüttelt sich dann. »Wie sind wir jetzt darauf gekommen?«
»Jankele wollte wissen ...«
»Du sollst mich doch nicht so nennen!«
Carola schaut mich an wie eine junge Braut. »Karl-Heinz wollte wissen, weshalb man ihn seit Jahren unbedingt umbringen möchte. Nein, ausmerzen hast du gesagt.«
»Richtig!«
»Ach so, ja. Weil diese Kerle Angst haben vor dir und vor euch Juden im Allgemeinen. Ihr seid sehr gut ausgebildet. Selbst eure Väter und Vorväter waren sehr gut ausgebildet. Ich habe mal einen jüdischen Menschen gefragt, weshalb sie so unglaublich viel Wert auf Ausbildung legen. Er antwortete: Lernen wäre nun mal das einzig behaltbare Gut im Leben, Wissen sei die einzige Reserve, die sich bei Gebrauch vermehrt. Juden seien seit ewigen Zeiten stets vertrieben worden und das Einzige, was man einem Menschen nicht nehmen könne, sei sein Wissen - das, was er gelernt hat.«
»Das weiß ich selbst. Und warum muss man uns dann umbringen?«
»Weil die Leute, die an Nation, Größe und Macht denken, niemals in ihrem Leben irgendetwas Wichtiges gelernt haben. Wollen nichts lernen, wollen nur glauben, sich wichtig nehmen. Und deutsche Nationalisten haben am allerwenigsten kapiert, wie kleinkariert sie in Wahrheit sind mit ihrem Nationalismus, der nur an Krieg und Sieg denken kann. Die wollen überhaupt nicht wirklich irgendetwas wissen. Die möchten nur glauben - glauben an die Obrigkeit, glauben an Vorgesetzte, glauben an den Führer - egal, an welchen. Wollen folgen. Folgen, einerlei wem, und möglichst bis in den Heldentod. So, Kinder, Schluss damit. Wir wollen noch nicht sterben. Also wie sieht es aus mit der Kennkarte von diesem Joseph? Nein, wie hieß der gleich?«
Ich lese vor. »Karl-Heinz Lange. Unter veränderliche Kennzeichen steht Bart. Na, den kann ich mir wachsen lassen. Ausgestellt in Bayreuth und gültig bis zum 10. Oktober 1946. Das ist in der Tat ein komischer Zufall. Immer wenn ich am Ende zu sein scheine, schubst mich das Schicksal in eine neue Richtung. Ausgerechnet Bayreuth - wo ich doch Wagner nicht ausstehen kann, besonders diese ganze Götterdämmerung und so weiter.«
»Jankele, du hast mittlerweile einen Ton an dir, dass es kaum auszuhalten ist.«
»Mehr Götterdämmerung als wir im Moment haben, geht ja fast nicht mehr. Scheißdreck elender!«
»Jankele!!«
»Ich habe dir schon ein paarmal gesagt, du sollst mich nicht so nennen! Wenn, dann Karl-Heinz bitte. Karl-Heinz Lange. Und ich wäre dankbar, wenn du die Namen nicht durcheinanderbringen würdest, Carola. Fanny, du bist fantastisch. Lasst uns verschwinden, bevor uns das Schicksal doch noch umhaut. Masseltov. Kommt, wir packen schnell unsere Siebensachen.«
»Unser Koffer und der Rucksack stehen sowieso immer bereit«, winkt Carola ab. »Daran hat sich seit den Bombennächten nichts geändert, aber vielleicht können wir dir beim Packen helfen, Fanny?«
»Du glaubst hoffentlich nicht, dass ich irgendwelchen verräterischen Kram mitschleppen werde? Auch wir halten seit Längerem Koffer mit Papieren und Bankunterlagen im Kübel bereit, um eventuell blitzartig verschwinden zu können.«
»Im Kübel? Was meinst du mit Kübel?«
»So heißen die Dienstfahrzeuge. Warum die Wagen so genannt werden, weiß ich nicht, aber Hinrich hat stets von seinem Kübel gesprochen. Hinrich ist der Fahrer des Wagens, ein süßer Junge.« Fanny spitzt die Lippen und küsst Daumen und Zeigefinger. »Ich rufe ihn sofort an und im Handumdrehen sind wir weg.«
9.
Heute ist Freitag, der 2. März 1945. Draußen ist es tief dunkel und wir sitzen in dem grünbraun gestrichenenFahrzeug, genannt Kübel. Am Lenker sitzt Hinrich, ein vielleicht gerade mal zwanzig Jahre alter Junge mit krausem schwarzem Haar und stets lächelnden Augen. Er und Fanny scheinen sich prächtig zu verstehen. Sie wirken beinahe wie ein verliebtes Paar auf Hochzeitsreise. Carola und ich hocken im engen Fond, den Koffer und den Rucksack auf den Knien, denn der Stauraum unter der Haube ist von Fannys Gepäck belegt. Unser Fahrrad haben wir wehmütig zurücklassen müssen.
Fanny streichelt dem jungen Mann ungeniert den Nacken und haucht ihm trotz unserer Anwesenheit dann und wann einen Kuss auf die Wange. Er wirkt wie ein Handlungsreisender, der gerade ein sehr gutes Geschäft getätigt hat. Na, warum nicht, denke ich und schmunzle Carola zu.
Das Verdeck des Kübels lässt sich aus irgendwelchen Gründen nicht schließen und die feuchte Nachtluft zieht kühl in den Wagen. Wir drücken uns im Fond aneinander, obwohl das nicht wesentlich hilft. Trotz der Kälte und des Gewackels während der Fahrt schlafen Carola und ich irgendwann ein.
Mit einem Ruck stoppt Hinrich den Kübel. Ich schlage die Augen auf und kann mich keinen Millimeter rühren, denn Nacken, Arme und Beine, der ganze Körper fühlt sich an wie gelähmt. Natürlich, die Kälte und die unbequeme Haltung. Es dämmert und wir stehen vor einer Scheune. Hinrich reckt sich und weckt dann Fanny. Die begrüßt ihn mit einem herzhaften Kuss.
»Wo sind wir?«, frage ich. Carola schlummert noch.
»Bei Freunden«, sagt Hinrich. »Es wird besser sein, wenn wir heute eine Pause einlegen, denn wir sind die ganze Nacht durchgefahren. Außerdem muss ich Sprit besorgen, das ist im Augenblick nicht ganz so einfach. Ich möchte mich zunächst waschen, dann frühstücken und endlich ein paar Stunden schlafen.«
Wir befinden uns innerhalb eines Gehöftes, Hinrich hat bereits die Tür des Hauptgebäudes geöffnet und verschwindet darin. Wir folgen ihm, ausgiebig gähnend mit schmerzenden Gelenken. In der Stube ist es angenehm warm, eine Magd stochert im Ofen, auf dem eine Pfanne und ein Wasserkessel stehen. Es duftet nach Land. Hinrich sitzt bereits an einem großen Tisch. Darauf sehe ich einen Laib Brot, ein großes Stück Schinken und eine Flasche Schnaps. Hinrich kaut und winkt uns, ebenfalls Platz zu nehmen. Die Magd bringt Kaffee.
Nach dem kräftigen Frühstück dürfen wir uns auf dem Dachboden, zwischen zum Trocknen aufgehängten Schinken und Dauerwürsten, auf zwei Strohlagern hinlegen. Der Hinweis der Magd, dass die Schinken und Würste abgezählt seien, bringt uns unweigerlich zum Schmunzeln.
Bevor Fanny zu Hinrich in das eine der beiden Strohlager schlüpft, zieht sie Geldscheine aus ihrer Handtasche, die damit vollgestopft zu sein scheint. Sie schaut uns an. »Schätze, dass ihr keinen Tupf habt, oder?«, fragt sie und hält mir das Geld entgegen. »Nimm schon. Das Zeug stammt von der Partei.«
»Eben deshalb möchte ich lieber nichts davon haben. Wer weiß, wem die Partei es gestohlen hat.«
»Humbug, deine Ehrdusseligkeit kannst du dir für später aufheben. Könnte ja immerhin sein, dass wir uns auf dem Weg verlieren, und mit ein wenig Geld kommt ihr wenigstens weiter. Hach Gott, seid ihr kompliziert.« Sie stopft mir das Geld in die Tasche meines Mantels und legt sich dann die Handtasche als Unterlage für den Kopf auf das Strohlager.
Das Licht ist gelöscht. Ich kann durch die Dachziegel den Schimmer des aufgehenden Sonnenlichtes sehen und höre den Wind übers Dach rauschen. Carola schmiegt sich an mich und ich spüre ihren Atem. Dann horche ich auf, weil ich unerklärliche Geräusche höre, die eindeutig vom Nebenlager herrühren. Der Schimmer beleuchtet den Dachboden zwar nur schwach, aber ich kann nunmehr nicht nur hören, sondern auch eindeutig sehen, dass Fanny und Hinrich ... Also so etwas!
Carola gluckst spürbar animiert und beginnt - wie soll ich sagen ... Gehört hatte ich zwar davon, dass manche Leute es zu mehreren tun, allerdings nicht normale Leute, so wie wir. Zunächst bin ich perplex, dann bin ich ...
Wir hatten die Magd gebeten, uns gegen Mittag zu wecken und es ist schon ein sonderbares Gefühl, nach den Vorgängen vorhin, den anderen bei Licht zu begegnen. Ich fühle mich geradezu unbehaglich. Carola, Fanny und Hinrich hingegen bewegen sich völlig ungeniert.
Vor der Weiterfahrt hat Fanny Proviant bei der Magd eingekauft - die eigentlichen Gastgeber lassen sich nicht blicken - und so stecken im Rucksack nun außer dem Schmuckbuch ein halber Laib Graubrot, ein Stück Pressschinken und einige Hartwürste sowie ein großes Stück Rauchspeck. Anscheinend hat irgendjemand den Kübel vollgetankt, denn Hinrich hat uns keinen Augenblick verlassen und er macht keine Anzeichen zu tanken.
Am Nachmittag legen wir eine Pause ein, um zu essen. Die flache Vorderhaube des Kübels dient als Tisch. Gerade, als ich vom Brot eine Scheibe abschneiden will, hören wir Motorengeräusche näher kommen.
»Sollen wir hierbleiben?« Am liebsten wäre ich niemandem mehr begegnet.
»Ruhig Blut, Karl-Heinz. Wir haben nichts zu verbergen.« Fanny wirkt absolut gelassen.
Ich hebe ein wenig den Kopf und entdecke mehrere Wehrmacht-Lkw die Straße entlang in unsere Richtung fahren. In das Brummen mischt sich jetzt ein neues Geräusch. Ein blechernes Sirren durchschneidet das plumpe Geräusch der Dieselmotoren. Dann meckert das Rattern eines Maschinengewehrs und neben uns spritzen Dreckfontänen der Einschläge auf. Wie auf Kommando hocken wir uns auf der von der Straße abgewandten Seite neben den Kübel. Sehr laute Explosionen krachen die Straße entlang. Carola stöhnt auf, mir steht der Angstschweiß ebenfalls auf der Stirn. Ein Schatten saust über unsere Köpfe hinweg. Schon wieder solch ein gezielter Fliegerangriff, verflucht! Ja, von wegen, nicht hier in der Gegend, mein lieber SS-Mann, denke ich.
Der vorderste Lkw hängt als zerfetzter, brennender Torso in einem Baum an der Straße. Die anderen Fahrzeuge stieben mit Vollgas an uns vorüber. Sie sind vielleicht fünfzig Meter von uns entfernt, als das Flugzeug zurückkehrt und erneut auf die Fahrzeuge schießt. Der nächste Lkw wird von einem Treffer zerrissen. Die restlichen vier großen Gefährte fahren weiter und verschwinden schließlich, dem Bogen der Straße folgend. Aus der Richtung hören wir nun Schüsse und Explosionen.
»Das war ganz schön knapp, was?«
Carola nickt mit bleichem Gesicht und geschlossenen Augen. Sie stöhnt und hält mehrmals abrupt den Atem an. »Jakob, mich hat’s erwischt.«
»Was!« Ich springe auf. Fanny hat sich bereits zu Carola umgedreht. Hinrich hockt vorne neben dem Wagen und hält sich krampfhaft an dem Blech fest.
»Mich hat es am Bein erwischt«, sagt Carola und streckt sich auf dem Boden aus. Ihr Oberschenkel blutet stark.
Vorsichtig schlage ich ihren Rock zurück. »Lass mich mal sehen.« Offenbar hat von rückwärts eine Kugel oder ein Splitter das Bein getroffen und dort, wo das Ding wieder ausgetreten ist, klafft deutlich eine Wunde, die stark blutet. Ich zerre eines der Hemden, die mir Fanny aus dem Schrank ihres Mannes geschenkt hat, aus dem Koffer, wickle es um das Bein und schnüre dieses dann oberhalb der Wunde ab, so gut es geht. »Was tun wir denn jetzt? Carola muss schnell in eine Klinik.«
»Ich weiß nicht, ob es in der Gegend eine Klinik gibt. Ich weiß nicht einmal, wo wir genau sind.« Fanny spricht Hinrich an. »Hinrich, weißt du, ob es hier irgendwo ein Krankenhaus gibt?«
Er hält sich immer noch krampfhaft am Kotflügel fest. Fanny klopft ihm auf die Schulter und er fällt mit einem schmatzenden Geräusch zu Boden, der Körper beschreibt eine halbe Drehung und Hinrich liegt auf dem Rücken. Fanny stößt einen schrillen Schrei aus. Hinrichs Brustkorb ist vom Hals bis zum Bauch geradezu gespalten, die Organe liegen frei und lagern nun teilweise neben der Leiche auf dem Boden in einer Blutlache. Fanny schüttelt ständig den Kopf und sinkt mit einem lauten Schluchzen neben Carola.
Was nun? Woher bekommen wir Hilfe? Vielleicht auf der Straße, sage ich mir, stehe auf und mache einen Schritt zur Straße hin.
»Geh nicht weg, Jakob«, bittet Carola. »Hilf lieber der Fanny.«
»Vielleicht ist es besser, wenn sie eine Weile schläft.«
»Unsinn, weck sie auf.«
Ich knie mich neben Fanny und fächle ihr mit den Händen Luft zu. »Wie geht es deinem Bein?«, frage ich Carola.
»Es puckert gewaltig. Du, das hört man sogar. Hör mal.«
»Unsinn, so etwas kann man nicht ... Moment mal.« Tatsächlich höre ich jetzt auch etwas tuckern und das ist nicht Carolas Bein. Es klingt eher wie ein altersschwacher Motor. Ich gehe zur Straße hin. Ein Trecker tuckert auf uns zu. Ich beobachte das moosgrüne Fahrzeug. Ein einzelner Mann in Arbeitszeug sitzt auf dem Fahrerbock. Ich winke ihm zu halten. Er kaut auf einer kalten Zigarre und mustert mich ausgiebig. Eine Mistgabel liegt griffbereit neben ihm. Möglicherweise eine Waffe, schließlich kann man wohl auch hier nicht vorsichtig genug sein.
»Könnten Sie uns helfen? Meine Frau ist verletzt und braucht dringend einen Arzt.«
Kluge Augen beherrschen das faltige Bauerngesicht. Die Haut ist vom Wetter gegerbt. Schwielige, abgearbeitete Hände liegen auf dem Lenkrad. Die Fingernägel zeigen schwarze Ränder. Er mustert mich unentwegt, der Zigarrenstummel wandert in den anderen Mundwinkel. Mit dem Daumen der rechten Hand weist der Bauer hinter sich. »Hab da gestanden und den Flieger gesehn. Die Frau ist verletzt?«
»Ja. Wir hatten uns hinter dem Kübel versteckt. Meine Frau hat’s erwischt. Sie liegt hinter dem Wagen; ein Toter und eine zweite Frau, die ohnmächtig ist. Könnten Sie uns vielleicht zu einem Arzt fahren?«
»Was is mit der Kalesche? Fährt sie nimmer?«
»Nein. Ja. Nein, ich weiß nicht. Der Tote war unser Fahrer.« Ich höre Fanny laut weinen. Muss wohl wieder aufgewacht sein. Dauernd ruft sie nach Hinrich. Na, sinnlos. Ich senke die Lautstärke meiner Stimme. »Ihm ist nicht mehr zu helfen, aber meine Frau braucht dringend einen Arzt.«
»Arzt hamma heroben keinen.«
»Gibt es denn nirgendwo in der Nähe ein Krankenhaus?«
»Des net, aber in Stammbach liegt eine Sanitätseinheit, des wär des Nächste. Lasst mi schaun.« Er steigt vom Trecker und geht zu Carola. Sie stöhnt mit geschlossenen Augen. Eine dichte dunkle Wolkendecke nähert sich zu allem Übel und verstärkt den Eindruck, dass es bald zu regnen beginnen würde. Bis dahin hätte ich Carola eigentlich gerne irgendwo untergebracht gesehen. Der Bauer denkt anscheinend ähnlich. Er hat das verletzte Bein begutachtet und zeigt sich beruhigt.
»Guat. Is nix Schlimmes. Seid’s schon lang unterwegs?«
»Seit gestern.«
»Gestern? Seid’s ohne Rast unterwegs? Dann braucht das Fraumensch erst mal eine Pause. Wohin soll es denn gehn?«
»Mal sehen, wie weit wir kommen«, sage ich.
Er schiebt die Kappe zurück und kratzt sich am Hinterkopf.
»Dös wird nix mit’m Bein.« Er betrachtet Hinrichs Körper aus den Augenwinkeln. »Mit dem is fei vorbei.« Die neben der Leiche kniende Fanny schluchzt erneut zum Herzerweichen und streichelt weiter Hinrichs Hand.
»Wegen dem Bein braucht’s net zum Lazarett. Des braucht bloß an sauberen Verband und zwoa Wochn Ruh.« Er spricht mit der Bestimmtheit eines Landarztes.
»Haben Sie Ahnung von Medizin?«, fragt Carola zweifelnd.
»Mir san nur Bauern, aber mir ham schon Ahnung, wenn’s Vieh krank is.«
Carola schaut mich kopfschüttelnd an. »Ich bin doch kein Stück Vieh!«
»Na, aber wenn mir wos ham, a Kopfweh oder Durchfall oder an Bruch, helfen mir uns selba. Eahna brauchst jetzt a Ruh.«
»Gibt es denn hier irgendeine Möglichkeit, Carola unterzubringen? Einen Gasthof vielleicht? Wir können bezahlen.«
»Na. Bloß oane Kneipe. Es sind nur fünf Kilometa bis zum Hof. Könnt’s im Hühnerstall schlafn. Und dann ruf ich nach’m Luther. Der könnt nach der Wunden schaun.«
»Luther?«
»Ja, is an Freund ausm Nachbardorf, de wo auf Krankheit studiert hat. Für a Maß Bier kimmt der sofort.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, danke schön.«
Fanny hockt immer noch halb über Hinrichs Leichnam gebeugt. Ich ziehe sie mit sanfter Gewalt zu mir und lege ihr den Arm um die Schulter. »Lass ihn, es hat keinen Sinn.«
Zwei erloschene Augen schauen mich aus Fannys Gesicht an. »Warum er? Warum ausgerechnet er?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Der freundliche Mensch dort hat uns angeboten ...«
»Ich habe es gehört. Was machen wir mit Hinrich? Wir können ihn nicht einfach so liegen lassen! Dann bleibe ich auch gleich hier.«
»Fanny, wie stellst du dir das vor? Wie sollen wir ihn denn transportieren? Bei all dem Blut?«
»Im Kübel liegt eine Pferdedecke. Dort können wir ihn einrollen und dann ...« Sie schluchzt laut und ruft erneut Hinrichs Namen.
»Wenn ihr ihn auf den Rücksitz des Kübels legt und ich bei dem Herrn auf dem Traktor mitfahre, müsste es zu machen sein«, mischt sich Carola ein. »Kannst du fahren, Fanny? Jakob hat nie Fahren gelernt.«
»Nein«, antwortet die Weinende. »Ich hatte stets einen Fahrer. Ach Hinrich!«
Der Bauer blickt mich an und schüttelt den Kopf. Diese Bewegung muss Fanny ebenfalls bemerkt haben, denn unvermutet nimmt sie die Pistole, die wir ihr gleich zu Beginn in Hof gegeben hatten, aus ihrer Handtasche, setzt sie an ihre Schläfe und drückt ab. Sie sinkt neben Hinrich ins Blut. Die Waffe landet neben meinen Füßen. Ich trete einen Schritt zurück. Was für eine Wahnsinnstat! Nun rutscht Carola bewusstlos zur Seite und schlägt mit dem Kopf auf.
»Vorsicht!«, zischt der Bauer und weist mit dem Blick zum Schießeisen, weil sich zwei Männer in Uniform nähern. Ich stelle einen Fuß auf den Revolver.
»Na«, sagt der ältere Soldat, »auch von den Schweinen überrascht worden?« Er betrachtet Fanny und Hinrich. »Weiter vorne sieht es noch viel schlimmer aus. Ich benötige dringend ein Fahrzeug, meins ist ausgefallen. Den Trecker kann ich nicht gebrauchen, der ist zu langsam, aber im Namen des Führers beschlagnahme ich diesen Wagen. Ich muss unverzüglich nach Bayreuth. Dort können Sie sich den Wagen in den nächsten Tagen wieder abholen. Los, Maier! Einsteigen und Abfahrt!« Die beiden klettern ohne ein weiteres Wort in den Kübel. Der Motor springt an.
»Halt!«, rufe ich und stelle mich vor den Wagen.
»Wollen Sie sich einer kriegswichtigen Führerangelegenheit in den Weg stellen? Das ist Hochverrat.« Er nestelt an seiner Pistolentasche, richtet eine Waffe auf mich und bedeutet mir mit einer Kopfbewegung, den Weg freizugeben.
»Nicht schießen!«, rufe ich. »Wir möchten wenigstens unser Gepäck vom Rücksitz haben.«
»Drauf geschissen! Los, Maier, fahr ihn über den Haufen!«
Der Fahrer zögert. »Bloß den Koffer und den Rucksack, Herr Hauptmann.« Er greift hinter sich und wirft unsere beiden Gepäckstücke aus dem Kübel und gibt dann Vollgas. Ich springe gerade noch zur Seite und der Wagen schlittert, Staub aufwirbelnd zur Straße und schießt mit quietschenden Reifen davon.
»Dreckerte Sauhund!«, schimpft der Bauer.
»Das haben Sie sehr freundlich ausgedrückt, mein Lieber.«
Er reibt sein Kinn. »Wird wohl bessa sein, wenn mir net zum Lazarett fahrn. Die Sauhund nehmen koa Rücksicht auf uns normale Leut. Die kümmern sich nur um sich selbst. Mir san nur Dreck für die. Kimmt mit zu unserm Hof, do seid’s besser aufgehobn. Ihr seid’s eh nur noch zwoa.«
Wir laden zunächst Carola vorsichtig auf den Anhänger und dann unseren Koffer und den Rucksack. Ich hocke mich neben Carola auf den Boden des Hängers.
»Halt, nicht losfahren!«, ruft Carola dem Bauern auf dem Traktor zu. »Mensch, Jankele, wir haben die Tasche völlig vergessen!«
»Du sollst mich nicht ... hm. Welche Tasche?«
»Fannys Handtasche.«
»Was willst du damit?«
»Denk doch mal nach!«, beschwert sich Carola heftig und senkt dann die Stimme wegen des Bauern. Der muss ja wirklich nicht sofort wissen, was mit uns los ist. »Wer die beiden Leichen findet, weiß nicht, was geschehen ist. Aber die Spuren des Angriffs sind eindeutig erkennbar. Es könnte durchaus sein, dass irgendwelche Papiere in der Tasche sind, wegen denen man uns vielleicht auf die Spur kommen könnte.«
Sie hat völlig recht. Also springe ich vom Hänger, gehe zu den beiden Leichen und ergreife mit Widerwillen die Handtasche. Ich bemühe mich, nicht zu Fanny und Hinrich zu sehen, sondern kehre schaudernd zurück zum Traktor. »Momentchen mal«, sage ich zu mir selbst, hebe die Pistole auf, die am Boden liegt und stecke sie in die Tasche. Danach hocke ich mich zu Carola auf den Hänger.
»Was willst du denn mit dem Ding da?«, fragt Carola und deutet auf den Revolver.
»Nie wieder wird irgendeiner dieser Mistkerle in Uniform mich oder dich mit einer Waffe bedrohen; ich kann zwar nicht schießen, das weiß ich, aber knallen kann ich bestimmt damit. Wer zum Teufel hat mir denn seinerzeit geraten, wenn schon, dann unbedingt auf den Bauch zu schießen? Egal, vergessen. Einerseits will ich gar nicht schießen, andererseits will ich mir nichts mehr gefallen lassen.«
Ob der Bauer mir zugehört hat, weiß ich nicht, denn er ist mittlerweile losgefahren. Wir passieren noch weitere vollkommen demolierte Wehrmachtsfahrzeuge. Zahlreiche tote Soldaten liegen am Boden. Auch wenn ich Soldaten für das Dümmste halte, was auf zwei Beinen durch die Welt läuft, tun mir die Kerle trotzdem leid. Bei dem Anblick schüttelt der Bauer den Kopf und bleibt dann für eine ganze Weile gesprächig wie ein Fisch.
Nach schweigend verlaufender Fahrt biegen wir von der Straße ab und erreichen einen recht reparaturbedürftigen Bauernhof. Es duftet nach Landwirtschaft und Misthaufen. Der Bauer stoppt den Traktor neben einem aus roten Steinen erbauten flachen Gebäude, steigt von dem Gefährt ab und winkt mir, ihm zu folgen. Ich klettere vom Hänger. Der Bauer betritt das Wohngebäude durch eine Tür, die nach ein paar Tropfen Öl jammernd in den Angeln quietscht. Ich folge ihm in einen niedrigen Wohnraum. Es riecht nach Kuhmilch und Holzfeuer. Eine Frau beäugt mich säuerlich. Auf den Kessel, der auf dem Feuer steht, stülpt sie beinahe zwanghaft einen Blechdeckel. Ihre Abneigung kann ich deutlich spüren.
»Besuch«, sagt der Mann knapp. »Die Frau draußn is verletzt. Braucht a Ruh. Beide solln für ein paar Tag in der Kammer schlafn.« Der Hausherr scheint auch zu Hause stets kurz angebunden zu sein. Er bedeutet mir mit dem Kopf, ihm wieder nach draußen zu folgen.
Wir tragen Carola in eine kleine Kammer neben der Küche und legen die Stöhnende auf das Bett. Der Bauer löst vorsichtig den Verband am Bein und säubert die Wunde, nachdem die Frau widerwillig Lappen und warmes Wasser gebracht hat. Er tränkt einen etwa einen Meter langen, handbreiten Leinenstreifen mit einer farblosen Flüssigkeit und legt diesen dann um Carolas Bein. Sie stöhnt jetzt sehr laut. »Das brennt ja wie Feuer!«
Dann verbindet er das Bein, als habe er so etwas schon häufiger getan.
»Is scho vorbei«, verspricht er. »Mach was zu essen und schick dann nach’m Luther«, verlangt er von der Frau, und sie verlässt wortlos die Kammer. Der Bauer bedeutet mir, ihm zu helfen, Carola zu stützen und sie in die Küche zu tragen. Er drängt, dass wir zunächst etwas essen. Wir setzen sie auf einen der Stühle um den grob gezimmerten Holztisch.
»Noch zwoa Teller!«, befiehlt der Mann knapp.
Schweigend lässt die Frau den Blechdeckel auf den Herd fallen. Sie rührt im Kessel und ich werde das Gefühl nicht los, sie hätte uns dort am liebsten untergerührt.
Der Bauer zieht aus dem Küchenschrank eine Schublade heraus, fördert eine Wehrmachtstaschenlampe ans Licht und drückt sie mir in die Hand. Er zeigt auf die Tür zur Kammer. »Am Tag kimmt Licht durchs Fensta, sonst is finster. Licht hamma dort net und Kerzen san gfährlich. Schaffens Ihren Krempel dort nei.«
Komisch, dass Autorität ohne Gebrüll entstehen kann, finde ich, hole den Rucksack samt Koffer vom Hänger und befördere beides in die Kammer. Mit der Wehrmachtslampe leuchte ich den Raum ab. Er wirkt wenig einladend, aber besser als nichts, denn draußen wird es bereits wieder dunkel.
Dann setze ich mich neben Carola. Es liegt keine Decke auf dem Tisch. Vier Holzteller stehen darauf, daneben liegen vier Holzlöffel.
Die Frau schöpft aus dem Kessel Suppe in die Holzteller. Brennnesselsuppe. Auch das noch. Mein Magen knurrt trotzdem hörbar. Die Bäuerin schneidet von einem Laib Brot daumendicke Scheiben ab. Vor Brennnesselsuppe habe ich von jeher eine tiefe Abneigung.
»Sonst hamma nix«, schränkt der Bauer ein.
Ich zwinkere ihm zu, stehe vom Tisch auf und hole aus dem Rucksack in der Kammer den Pressschinken und lege ihn auf den Tisch.
Die griesgrämige Bäuerin glotzt mich aus großen Augen an. Sie watschelt zum Küchenschrank, holt daraus ein langes Messer hervor und legt es vor mich hin.
»Ich kann nicht gut mit einem Messer umgehen«, sage ich, sie dazu freundlich anlächelnd. »Wenn Sie bitte für jeden ein ordentliches Stück vom Schinken abschneiden würden.«
Die Gefräßigkeit verwandelt die griesgrämige Frau beinahe in eine lächelnde Freundin. Sogar die gegerbten Züge des Bauern scheinen zu lächeln. Mit dem Kinn zeigt er zur Kammer.
»San koane Hühner mehr drinnen net. Mir kriegen koa Futter mehr fürs Vieh.«
Wir essen schweigend weiter, bis Carola fragt, ob es möglich sei, sich zu baden. Prima Idee, ich könnte ein Bad bestens brauchen. Aber mit der Verletzung kann Carola ja nun wirklich nicht baden. Und die Bauern schauen uns recht verständnislos an.
»Im Teich könnt man scho badn«, lautet die lapidare Antwort. »Hot der Bub gern gmacht, des Baden. Is jetzt fei zu kalt!«
Bei dem Wort Bub zuckt die Bäuerin und Tränen schimmern in ihren müden Augen. Sie wendet sich vom Tisch ab, von Trauer gezeichnet und verbittert.
»I geh zum Luther«, sagt sie und verschwindet.
Drei Schnapsgläschen sowie eine Flasche ohne Etikett stellt der Bauer auf den Tisch und schenkt ein. Wir prosten uns zu. Der würzige Schnaps brennt nur wenig auf der Zunge und Wärme zieht durch den Hals. Ein Wohlgefühl rieselt in den Magen. Der Bauer schenkt nach. Ojweh. Ich muss sofort an den Obstler vom Stani denken und halte eine Hand über mein Glas. »Danke, für mich bitte nicht mehr. Ich vertrage keinen Schnaps.«
Der Bauer winkt mit einer müden Handbewegung ab, gießt sein Gläschen voll und segelt in seinen Gedanken so weit weg, dass man die Leere ganz genau spüren kann. Schließlich schüttelt er sich kurz, trinkt das Glas aus, richtet sich auf und zieht ein Heft aus der zweiten Schublade des Küchenschranks. Er setzt sich wieder zu uns und beginnt leise aus dem Heft vorzulesen. In nahezu verständlichen Sätzen, wie durch einen Schleier.
»Liebe Mutter, lieber Vater, nun ist dieser Schreihals doch am Ruder. Unfasslich! Und sogleich geht die Fahrt ins Primitive. Unser Dozent legt neuerdings seine schmierigen Käsemauken aufs Pult, bis uns übel wird. Noch dazu trägt er tagein, tagaus die kackbraune Uniform, aber er ist nicht nur deswegen ein Ganzkörperstinker. Er doziert nunmehr ganz offen, dass militärischer Männerschweiß der Welt schönster Duft sei. Na, danke! Im besten Fall wäscht er sich die Hände und das Gesicht - feine Herrenmenschen, die! Ach, wie vermisse ich unseren Teich und die prickelnde Frische des Wassers. Ich schreibe klammheimlich, die Gefahr ist einfach zu groß, aber die Gedanken müssen raus. Macht euch keine Sorgen, das Heft ist prima versteckt. Warum ich überhaupt so gefährliche Sachen schreibe? Ich muss, ich kann nicht anders und ich hoffe trotz allem, dass die Vernunft diese braune Mörderbande im Zaum halten kann. Ich will einfach nicht glauben, dass Krupp und Konsorten ein zweites Desaster so kurz nach dem letzten verlorenen Krieg riskieren werden. Allerdings, wenn genug Geld für die Industriekapitäne dabei herausspringt ... Na ja, für die sind wir ›normalen‹ lediglich Menschen zweiter Klasse. Unser Ganzkörperstinker in SA-Uniform und wettert ebenfalls ständig gegen uns Zivilisten (sind die Kanaillen Krupp und seinesgleichen etwa keine?).
Ich nannte ihn daraufhin einen SA-Karnickelführer. Er habe es höchstens im rechten Arm und nicht im hohlen Kopf. Mir war wieder mal der Gaul durchgegangen, wie damals in München. Der Zorn über diese Deppen macht mich rasend. Na, mal schauen, was geschieht. Ich muss aufhören, ich höre die schleichenden Schritte unseres Hausschnüfflers durch die verbotenerweise geöffnete Stubentür. Doch wenn die Tür geschlossen wäre, könnte er mich überraschen und dieses Heft muss vorher ins Versteck, deswegen lasse ich lieber auf und schreibe horchend neben der Tür. Mutter, Vater, ich grüße euch von ganzem Herzen.«
Der Bauer klappt das Heft zu und betrachtet uns. Was soll man dazu sagen? Äußerst riskant von dem Jungen, solche Sachen aufzuschreiben! Schon gefährlich genug, so etwas nur zu denken! Wir schweigen. Er schenkt sich sein Gläschen voll. »Sie gibt mir die Schuld.«
»Woran?«
Der Bauer kippt und gießt sich nach. »I hab scho lang vor diese Schweinehunde gewarnt. I hab diesem österreichischen Anstreicher nie getraut. Hab unserm Jungen imma gesagt, der Schreihals wird uns ins Elend stürzen. So red nur an Mörder! Na und dann hat der Junge studiern wollen. An Jurist hat er werden wollen. Eben wegen dene Mörder. Hat demonstriert gegen die Bande, tja, und dann hams ihn kurz vor der Führerwahl im März 1936 bei einer Prügelei totgeschlagen, und mir wirft sie des jetzt vor.« Er kippt ein Glas nach dem anderen und wir sitzen regungslos dabei. Eine widerliche Situation.
Schließlich schüttelt er förmlich die Gedanken ab, denn die Frau ist zurückgekehrt und schaut uns an. »Der Luther kimmt gleich, der Dokter.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Danke schön.«
»Die Verletzung ist nicht zu unterschätzen, Frau Löwenthal«, hat Doktor Luther verkündet, der keinerlei konvexe Ähnlichkeit mit seinem religiösen Namensvetter hatte, sondern eher hager wirkt wie ein Athlet. Bei dem Namen wäre ich am liebsten im Erdboden versunken, so habe ich mich erschreckt. »Zu Fuß gehen können Sie auf keinen Fall. Ich denke aber schon, dass Sie in drei, vier Wochen wieder ganz in Ordnung sein werden. Dann steht Ihrer Weiterreise nichts mehr im Wege. Und jetzt«, er reibt die Innenflächen der Hände aneinander, »jetzt will ich meine Maß haben.«
Es bleibt nicht bei dieser einen Maß Bier, die der Doktor will, er trinkt sich mit dem Bauern richtiggehend fest. Wir haben den Eindruck zu stören und wünschen lieber eine gute Nacht. Ich helfe Carola in die Kammer und wir kriechen ins Stroh, die Decke wärmt uns.
»Weshalb hast du ihm deinen richtigen Namen genannt?«
»Wenn überhaupt, sucht man nach einem Ehepaar Anders und nicht nach einer einzelnen Frau Löwenthal«, sagt sie. »Und selbst wenn man mich finden sollte, sind meine Papiere absolut in Ordnung. Ich bin ja diese Person.«
»Das ist wahr. Und ich? Ich bin nicht dieser Karl-Heinz Lange. Ich habe mir vorhin die Kennkarte von dem genau angeschaut. Auch wenn das Foto halb verbrannt ist, eine Ähnlichkeit ist nicht wirklich zu erkennen. Ich weiß nicht, ob es gut ist, hier zu warten. Vielleicht sollte ich allein weiterfahren, schon um dich nicht zu gefährden. Was meinst du, soll ich das tun?«
»Nein, deinen Wunsch, unbedingt nach München zu fahren, halte ich mittlerweile für unsinnig. Besser wäre es, wenn wir gemeinsam das Ende des Grauens abwarten würden. Du hast insofern recht, dass wir zu zweit eher auffallen könnten. Was für eine schreckliche Zeit, Jakob. Wenn doch bloß alles endlich vorbei wäre.«
»Wie fühlst du dich, Carola?«
»Schwer zu beschreiben, das Bein tut weh. Wirst du mich auslachen, wenn ich darüber ganz froh bin?«
»Das ist kein Grund zu lachen, das freut mich.«
Carola schmiegt sich an mich, Stroh raschelt. Ich spüre ihren Atem auf der Brust. Ihr fällt das Sprechen bereits schwer, als sie mich fragt, wie es mir denn gehe.
»Wir liegen in einer winzigen Kammer, auf blankem Stroh, in einem jämmerlichen Bauernhof, einer ebenso jämmerlichen Gegend, in beschissenster Zeit, trotzdem fühle mich irgendwie sauwohl!«
»Also deine Ausdrücke, ich weiß nicht. Ich freue mich, dass du nicht mehr mit dem Schicksal haderst, Jakob. In den vergangenen Tagen warst du so ... so abwesend, beinahe somnambul.«
»Was ist los? Du findest mich schlafwandlerisch? Ich fühle mich überhaupt nicht abwesend.«
»Mag ja sein, aber du handelst ähnlich wie ein Schlafwandler. Früher hast du dich nur herumschubsen lassen und nun tappst du Hand in Hand mit dem Schicksal ...« Dann ist sie eingeschlafen. Zu gern hätte ich erfahren, was das Schicksal nach Carolas Meinung mit mir vorhat, doch ich will ihren Schlaf nicht stören. Sie braucht jetzt viel Ruhe. Und ich bin unruhig, so unheimlich unruhig und liege schwer atmend lange neben ihr wach. Zumindest kommt es mir lange vor. Ich grüble und lausche den Geräuschen der Nacht. Wie soll es nun weitergehen? Dass Carola mit der Beinverletzung nicht weiterreisen kann, leuchtet mir ein. Ob nun idiotisch oder nicht, ich möchte so schnell wie möglich den Koffer abliefern. Ich werde wohl allein nach München weiterfahren. Vielleicht ist das sogar besser. Dann kann zumindest Carola nichts mehr passieren. Und wenn der Spuk vorbei ist, komme ich zurück oder sie kommt mir nach. Das müssen wir unbedingt morgen früh besprechen.
10.
Einen Handkarren hat der Bauer aus der Scheune geholt und die Deichsel mit ranzigem Fett gängig gemacht. Auf dem Karren liegt der Koffer, ein Brotbeutel aus dem ersten großen Krieg, in dem ganz seiner Bestimmung nach Brot, eine Feldflasche mit Tee, Schmalz und Dauerwurst steckt, sowie eine Zeltplane aus gleicher Zeit, die mich vor Regen schützen soll. Das Geld aus Fannys Tasche hat Carola in ihren Rucksack gesteckt. Ich habe auf ihr Drängen hin zweihundert Mark mitnehmen müssen. Dass es klüger ist, zu Fuß zu gehen, hat sie eingesehen, aber dass ich unter freiem Himmel übernachten will, lehnt sie strikt ab. Weil sie das meiste von Fannys Geld bei sich behalten wird, haben wir besprochen, dass Carola mir nachreist, wenn der Krieg zu Ende ist. In München wollen wir uns auf dem Marienplatz treffen. Da würden wir uns ja wohl kaum verfehlen können. Nach dem Namen des Bauern und dem Ort, wo sein Gehöft liegt, habe ich mich nicht mehr erkundigt. Wozu auch?
Im Koffer befinden sich neben den ursprünglichen Dingen des Kurt Anders noch die Papiere des Karl-Heinz Lange und die zweihundert Mark. Die Waffe, mit der sich Fanny getötet hat, ist fest eingehüllt und in Hemden verpackt.
Den Sonntag verbringen Carola und ich beinahe ausschließlich in unserer Kammer und nehmen Abschied voneinander. Abends vespern wir gemeinsam mit den Bauersleuten. Sie haben versprochen, sich um Carola zu kümmern, bis sie wieder gesund und hoffentlich der Krieg aus sein wird. Das kann ja nicht mehr lange dauern.
Am Montag, den 5. März verlasse ich bei Tagesanbruch den Hof ohne mich umzusehen. Carola war im Stroh liegen geblieben und hatte sichtbar gegen die Tränen angekämpft. Während ich die Tür zur Kammer schloss, hörte ich das leise Schluchzen dennoch.
Vornehmlich benutze ich in den kommenden Tagen Nebenstrecken, da auf den Landstraßen unzählige Wehrmachtsfahrzeuge und Soldaten entlangziehen. Ich möchte auf gar keinen Fall in Kontrollen der Feldpolizei geraten. Die Auflösungserscheinungen der Wehrmacht sind nicht mehr zu verbergen. Was bin ich froh, dass ich heute auf diesen ebenerdig errichteten Ansitz gestoßen bin, in dem ich übernachte.
Am nächsten Morgen klettere ich rücklings hinaus und sehe mich einer Gruppe Soldaten gegenüber, die ihr Nachtlager offenbar um den Ansitz eingerichtet hatten und mich genauso verwundert betrachten wie ich sie.
»Guten Morgen, die Herren«, wünsche ich.
Die Männer wirken müde, ungepflegt und scheinen ebenso ungewaschen zu sein wie ich.
»Is sich Tee in Eimer für das Mannchen, wenn gefällig bittascheen.« Ein bärtiger Soldat hält mir eine Blechtasse entgegen.
»Danke«, sage ich. Der Tee erweist sich nur als lauwarm. Besser als nichts, denke ich mir. Sind das nun Deserteure oder nicht?
»Was macht denn das Mannchen hier im Wald?«
»Ich habe kein Geld und kann nicht in ein Gasthaus, deshalb.« Ich zeige auf den Ansitz.
»Is aber scheißgefährlich heutzutage«, meint ein anderer Soldat. »Nu, futtern Se erst mal ‘ne Fettbemme, wie der Paul sagt. Wer weiß, wie lange wir noch fressen können.«
»Fettbemme! Wie lange habe ich dieses Wort nicht mehr gehört.«
»Wieso?«
»Ich komme aus Dresden, da sagt man Fettbemme.«
Die Köpfe heben sich, schmutzige Gesichter betrachten mich.
»Zu Fuß?«, lacht einer. »Den hätten wir vor Moskau gebrauchen können, was?!«
Warum kann ich bloß mein Maul nicht halten, überlege ich. Immer diese Vertrauensseligkeit, sobald jemand nur ein wenig freundlich zu mir ist. Kein Wort jetzt. Einer der Soldaten stößt mit dem Fuß einen anderen an, der auf der Seite liegt und schnarcht. »Paul, hier ist einer von dir zu Hause.«
Der Angestoßene dreht sich ein wenig um, hebt den Kopf und mustert mich. Dann setzt er sich aufrecht hin und beginnt zu lachen. Schließlich wischt er sich mit dem Jackenärmel die Tränen aus den Augen und fährt mit der Hand durchs unrasierte Gesicht. »Wir haben uns vor ... na, ich bin jetzt siebenundzwanzig Jahre alt; so zwölf, dreizehn Jahre muss das her sein, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben, Herr Doktor.«
Die anderen Soldaten merken bei diesem Titel auf. Der Mann ist mir völlig unbekannt. Ich schüttel bedauernd den Kopf. »Tut mir leid.«
Er lacht immer noch. »Macht nichts, Herr Doktor. Wahrscheinlich sehe ich furchtbar aus. Die Front ist kein Honiglecken. Das war’s bei den Mädchen schon eher. Sie haben mich einen Taugenichts geschimpft, eine missratene Ausgeburt der Versuchung. Nur weil ich mit den hübschen Drillingen vom Neumarkt bei Ihnen im Keller ... Na ja, und Sie uns erwischt haben und die Mädchen wie aufgescheuchte Hühner ... na, haben Sie das wirklich vergessen?«
Nein, habe ich nicht vergessen. Drei bildhübsche, viel zu frühreife gut gewachsene Mädchen, alle mit dem gleichen verschmitzten Gesicht und dazwischen dieser Rotzlümmel, der die Mädchen ... na Schwamm drüber ... bis ich sie auseinanderscheuchen konnte. Zunächst hatte ich - zu meiner Schande muss ich gestehen sogar ein wenig angeregt - das Treiben beobachtet und dann gerufen: »Jetzt ist Schluss!« Die Mädchen waren kopflos an mir vorbei zur Kellertreppe geflüchtet, konnten aber in ihrem Zustand nicht auf die Straße hinaus - außer ihren Schuhen trugen sie nichts am Leib. Also schlichen sie zur Tür zurück, in der ich reglos stand. Sie bemühten sich so umfassend wie möglich mit den Armen zu bedecken und schauten zu Boden. Ich hatte mich bewusst nicht umgedreht, um ihnen die Peinlichkeit, sich vor meinen Augen ankleiden zu müssen, ja nicht zu ersparen. Diese unschuldigen Geschöpfe hatten eine solche erzieherische Maßnahme dringend nötig, redete ich mir ein, und räumte mir insgeheim eine voyeuristische Neigung ein. Sie rührten sich nicht, bis Paul sie aufforderte, zu ihm zu kommen und sich anzuziehen. Sie schoben sich an mir vorbei in den Raum und blieben regungslos vor unseren Augen stehen. Paul erhob sich ungeniert, ergriff das erste Kleiderbündel, reichte es einem der Mädchen und nannte es beim Vornamen. Das wunderte mich erheblich, denn die Drillinge glichen sich wie ein Ei dem anderen und waren für meine Augen unbekleidet gar nicht zu unterscheiden. Ich wandte meinen Blick von den jungen Menschen ab, forderte die Mädchen auf, das Haus zu verlassen und sich zu schämen. Sie folgten meiner Aufforderung, während Paul Malert ebenso laut lachte wie nun hier am Donnerstagmorgen im Wald neben einem Ansitz mir zulachte. Seinem jungenhaften Lachen waren wohl damals offenbar die Mädchen erlegen.
Nun muss ich ebenfalls schmunzeln. »Nein, Paul Malert. Ich habe es nicht vergessen. Immer noch der Don Juan?«
Paul zuckt mit den Schultern, steht auf, wischt die Hand an der Uniformhose ab und reicht sie mir. »Ich begrüße Sie, Herr Doktor. Schön, Sie zu sehen. Oder sind Sie bis heute ein bisschen neidisch auf mich? Ich konnte an und für sich nichts dafür, die Mädels hatten Spaß. Und ich auch. Besonders mit Regina. Die hatte vielleicht Einfälle ... Was schauen Sie denn so?«
»Die Namen.«
»Was die Namen?«
»Ich habe mich damals gewundert, woher du die Namen der Mädchen wusstest.«
»Na, wir kannten uns.«
»Ja schon«, entgegne ich. »Aber die Mädchen trugen ja keinerlei, wie soll ich mich ausdrücken, keinerlei Kennzeichen. Die waren splitter ... hm. Ich hatte den Eindruck, dass du sie auseinanderhalten konntest.«
»Na klar, deswegen waren die ja so verrückt nach mir. Im Grunde war es ganz einfach, sie zu unterscheiden, nachdem ich den Dreh heraus hatte. Das konnte sonst niemand. Frisuren gleich, Geruch gleich, Kleidung gleich und so weiter. Die schmeckten sogar gleich.«
»Paul!«
»Nix, Paul! Weil Sie uns nicht bei den Eltern verraten haben, will ich Ihnen mein ›Don-Juan-Drilling-Geheimnis‹ verraten: Zunächst hatte ich nur mit einer von den dreien - na, so ein bisschen Knutscherei. Dachte ich. Nach einer Weile wunderte ich mich, weil das Mädchen jedes Mal irgendwie anders war als tags zuvor. Das sagte ich ihr und stand am nächsten Tag unvermutet drei absolut gleich aussehenden Mädchen gegenüber, die ungeheuren Spaß hatten, mich beschummelt zu haben. Und dann spielten sie das Rumpelstilzchen-Spiel: Du rätst ja nie, wer ich heute bin. Drei verschiedene Namen und drei absolut identische Mädchen. Und wenn ich nicht innerhalb von zwei Wochen wüsste, wer denn nun wer sei, beschieden sie mir, wäre ich ein Rindvieh, mit dem sie nichts mehr zu tun haben wollten. Hoffnungslos.«
Er schweigt und strahlt dabei wie ein Weihnachtsmann.
»Und?«, fragt einer von Pauls Kameraden.
»Und! Da muss man wissenschaftlich vorgehen. Ich habe eine Liste angefertigt: drei Namenspalten, vierzehn Tagesreihen. Und jeden Abend habe ich Duft, Geschmack, Augenfarbe - verfluchterweise gerade die bei allen identisch - die Stimmen et cetera getestet und eingetragen. Nach der ersten Woche war ich nicht einen winzigen Schritt weiter.«
»Und?« Wieder ein Frager. Wenn es um Mädchen geht, sind wohl alle Soldaten der Welt höchst neugierig.
»Nicht so hastig. Glück bei Frauen ist nicht so einfach. Nach dieser Woche war mir klar, dass meine empirische Liste unbrauchbar war, weil ich ja nicht wusste, wem ich welche Eigenschaften zuordnen sollte. Die Mädels hatten sich natürlich abgesprochen und verhielten sich nahezu identisch. Also überlegte ich, dass nur ein erheblicher Eingriff in die Weiblichkeit die Schauspielerei aushebeln könnte.«
Die anderen Soldaten sitzen um uns herum und hören Paul Malerts Ausführungen mit offenen Mündern zu. Derartige Aufmerksamkeit erhalten sonst nur die wenigsten Vortragenden, weiß ich aus eigener leidvoller Erfahrung.
»Demzufolge habe ich am achten Abend selbst geschauspielert. So richtig einen auf zärtlich habe ich gemacht, an ihrem rechten Ohrläppchen geknabbert und hineingehaucht. ›Nie würde ich es herauskriegen, wer die beiden anderen sind. Das wäre so schade, weil ich doch total verliebt wäre, zumindest in sie heute. Denn sie würde ich immer erkennen, weil ihre Zöpfe eine Spur länger wären als die der beiden anderen. Deshalb würde ich mich ganz besonders freuen, wenn sie da sei. Aber wenn ihr zumindest ein ganz klein wenig an mir läge, möge sie mir wenigstens ihren Namen verraten. Laut geseufzt habe ich, die Schultern gehoben. Anschließend ein wenig Romeo-Getue. Und am anderen Ohrläppchen geknabbert.«
»Und?!«, ruft der Chor der Soldaten.
»Na was ›und‹? Eine Stunde habe ich an ihr herumgezärtelt, dann hat sie mir verraten, dass sie Ingrid sei.«
»Klasse!«, grölen die Männer um uns herum.
»Na ja, nicht ganz. Sie hat mich gewarnt, wenn ich sie belogen hätte, würde sie es herauskriegen - anscheinend hatte sie Feuer gefangen - und mich nie mehr ansehen. Na, habe ich halt geschworen, wie man bei so was eben schwört.«
Zustimmendes Gebrumm im Kreis der Soldaten. »Und dann?«
»Was und dann?«
»Saukerl, wie geht es weiter? Am nächsten Abend? Mit der zweiten?«
»Ach so. Na, woher sollte ich wissen, wen ich nun vor mir hatte? Vielleicht wieder Ingrid, um mich zu überprüfen? Eigentlich hatte ich gar keine Lust mehr, aber die zwei Wochen wollte ich wenigstens genießen und habe dem Mädchen zärtlich den Hals geküsst, den Nacken und dann hatte ich das Ding im Kasten.«
Die Männer in Uniform und ich schauen Paul an wie Schafe.
»Wieso? Rede weiter, du Sauhund«, ereifert sich einer. »Oder ich erschlage dich mit deinen eigenen Stinkstiebeln! Was war am Nacken?«
»Gemach, Edgar. Am Nacken war nichts. Dafür am Ohrläppchen.«
»Was?«
»Das war ja das Ding. An den Ohrläppchen hingen kleine Ringe.«
Die Männer um uns herum blicken sich an. »Aha. Kleine Ringe.«
»Ja!«
»Millionen Weiber tragen Ohrringe.« Die Stimmung gerät aggressiver.
»Eben. Die Ingrid vom vorigen Abend trug keinen Ohrring. Diejenige von diesem Abend trug welche.«
»Vielleicht hat die diese Dinger am Vorabend bloß abgelegt?«
»Habe ich mir auch gesagt. Dann müssten zumindest Löcher in den Läppchen zu finden sein. Neun Tage waren seit dem Beginn vergangen, fünf blieben noch übrig. Das hieß, jedes Mädel würde ich daraufhin mindestens einmal auf die Ohrlöcher hin untersuchen können.«
»Na und? Mach nich so spannend, Mannchen!«
»Ist überhaupt nicht spannend. Ich habe mir nur Folgendes überlegt: Spätestens am übernächsten Abend müsste ja das Mädchen, das keine Ohrringe getragen hatte, wieder bei mir sein. Die nämlich, die sich Ingrid nannte. Wenn die nun keine Löcher in den Ohrläppchen hätte, wäre zumindest eine der drei identifiziert. Also blieben zwei Vornamen übrig, Regina und Cornelia, na, musste ich einfach raten. Und die mit den beiden Ohrringen nannte ich einfach so Regina und sie schaute mich fassungslos mit geöffnetem Mund an.«
»Chuzpe!«, belustige ich mich und hätte mich dafür sofort ohrfeigen können.
»Was is los?«, rufen die Männer. »Halt die Schnauze, Mann, lass Paul erzählen!«
»Na, habe ich die drei am nächsten Abend zur üblichen Stelle gebeten, weil ich, wie ich angab, nun wüsste, wer denn wer sei. Die Mädchen kamen und lachten mich ganz augenscheinlich aus ob meiner vermeintlichen Dreistigkeit.«
»Und?«
»Der Rest war Volkstheater. Ich trat hinter die Mädchen, streichelte einer nach der anderen die Hüften und die Schultern ab, tastete bis zu den Zöpfen, zum Kinn - unauffällig die Ohrläppchen im Visier. Das erste Mädchen trug zwei Ohrringe, das Mädel in der Mitte trug keine und was soll ich sagen, die rechte hatte gar keine Ohren!«
Rings um mich schimpften die Soldaten und niemals vorher habe ich solche ferkeligen Worte gehört.
»Ich werde euch miesen Stinkböcken auch gerade meine Intimitäten erzählen, was?« Paul schlägt sich lachend auf die Schenkel. »Ach, Herr Doktor, ich möchte keinen Augenblick von damals vermissen. Und ich träume seit sechs Jahren von nichts anderem. Sie wissen doch gar nicht, was in unsereinem vorgeht, wenn man an der Front im stinkigen Dreck zwischen ebenso stinkenden Kameraden auf den Tod wartet! Wenn der verdammte Krieg vorbei ist und ich zurückkomme nach Dresden, werde ich die drei besuchen. Wenn Sie wüssten, auf welche Einfälle die gekommen sind, da wären Sie sprachlos, Herr Doktor.«
»Danke, will ich gar nicht wissen. Und was, wenn die Damen mittlerweile verheiratet sind?«
»Na und? Was juckt es mich. Was glauben Sie, was ich gerade mit verheirateten Damen der Gesellschaft erlebt habe? Ehefrauen sind ohnehin das Beste, was es gibt. Sofern es die Ehefrauen von anderen Männern sind! Muss man auf nichts aufpassen, steht ja deren Kerl für gerade. Na ja. Vielleicht sind sie ja inzwischen Witwen. Drei muntere Witwen. Auch nicht schlecht. Ach werde ich sehen, wenn ich in Dresden bin.«
»Dresden gibt es nicht mehr, Paul.«
»Man hört zwar so einiges, aber ganz Dresden wird ja nicht in Klumpen sein. Oder meinen Sie doch? Waren Sie dabei?«
»Das kann man wohl sagen, mittendrin!«
»Beschreiben Sie. Sie sind der erste Augenzeuge, den ich treffe. Alle anderen schildern Gräuelmärchen, die sie wiederum von anderen gehört haben, die was gehört haben. Bitte erzählen Sie!«
Ich bekomme zu essen, zu trinken und berichte von den beiden Tagen und Nächten in Dresden, und sonderbarerweise erleichtert es mich sogar, davon zu reden.
Die Männer raten mir dringend davon ab, sie schnell zu verlassen, nur weil ich nach München will. Bei ihnen drohe mir wesentlich weniger Gefahr, sagen sie. Man würde sicherlich eine gute Gelegenheit finden, um weiterzukommen. Besonders Paul zeigt sich um mich besorgt.
Einige Tage später weckt Paul Malert mich mit einem Becher Kaffee, einem Kanten Brot und wahrhaftig einem richtigen Ei. Ewig kein Ei mehr in der Hand gehabt. Bestenfalls, wenn überhaupt, etwas Eipulver. Das Ei fühlt sich sehr warm an.
»Ist hart gekocht, Herr Doktor. Haben wir den Tommys zu verdanken.«
»Die Engländer schenken uns ein Ei?«
»Nein, natürlich nicht. Der Küchenbulle hat zur Feier des Tages für jeden ein Ei hart gekocht.«
Ich kratze mein Kinn. Rasieren müsste man sich auch mal wieder. »Wie kommt der an englische Eier? Und welcher Feiertag?«
»Herr Doktor«, stöhnt Paul, »heute ist Freitag, der 30. März!«
»Na und?«
»Karfreitag, Herr Doktor!«
»Ach, Ostern! Schon Ostern? Na dann danke ich für das Ei, Paul.« Ich klopfe die Schale auf. Paul schaut mich an wie ein Schüler, der darauf brennt, die geforderte Lösung eines gestellten Problems loszuwerden - ach so, die Engländer. »Was hat das Osterei nun mit den Engländern zu tun?«, frage ich deshalb.
Paul grient über das ganze Gesicht. »Hehehe. Unser Funker, also nicht, weil er das unbedingt möchte, aber ab und zu hat er den britischen Funk im Kasten, weil die Tommys manchmal auf unseren Frequenzen senden, hat er gesagt. Unser Funker hat nämlich heute Morgen gehört, dass die Engländer laufend senden: Wir wünschen Ihnen eine schöne Karwoche, Herr Hitler! Hehehe, wär wirklich zu schön, wenn der Kerl heute noch zur Hölle rutschen würde, was, Herr Doktor? Und deswegen hat der Küchenbulle für jeden ein Ei herausgerückt.« Laut lachend geht Paul weg, wohl um die Geschichte dem Nächsten zu erzählen.
Am späten Vormittag dieses Karfreitags erobert Paul Malert mit charmanter Gewalt für mich einen Platz in einem Güterwaggon, der angeblich in Richtung München fahren soll und unter dem Schutz des NSV steht. An diesem Karfreitag will hier niemand mehr Papiere sehen. Allerdings darf ich wegen Platzmangels den Handkarren nicht mit in den Waggon nehmen. Ich hocke mich auf den Koffer und halte den Brotbeutel umklammert.
Zwischen Nürnberg und München hält der Zug oft auf offener Strecke. Tiefflieger wollen zum Glück von uns nichts wissen. Die Strecke ist nur eingleisig befahrbar, was zu sehr langen Verzögerungen führt. In der Nacht ist das Warten weniger schlimm, aber vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang hocken wir in Angst vor Tieffliegern in den Waggons. Ab und zu wird heftig debattiert, ob es nicht klüger sei, zu Fuß weiterzukommen, doch die ständige Angst lähmt jeden Aktionswillen.
Am Samstag, den 7. April bleibt der Zug in der Nähe von Pfaffenhofen endgültig liegen, die Lokomotive kann nicht weiterfahren, denn die Gleise bis nach München hinein seien angeblich vollkommen unbrauchbar.
Vom NSV erhalten wir pro Nase drei Zigaretten, etwas Schokakola und ein Tütchen Milchpulver sowie die Maßgabe, es zu Fuß bis nach München zu versuchen.
Es bilden sich recht schnell Gruppen und Grüppchen, manch einer bleibt auch einfach nur für sich allein, so wie ich zum Beispiel. Obwohl ich keinerlei Ahnung von den örtlichen Gegebenheiten habe, fühle ich mich allein erst einmal sicherer. Trotzdem folge ich den Leuten, die wiederum den vorausgehenden Gruppen folgen. Vielleicht weiß ja irgendjemand dort vorn den Weg.
Stunde um Stunde setze ich monoton einen Fuß vor den anderen. Manchmal schaue ich auf und vergewissere mich, dass noch Leute vor mir gehen. Die Kolonne löst sich nämlich nach und nach langsam auf. Diejenigen vorne, die sich - wie ich hoffe - auskennen, marschieren unermüdlich weiter. Manch eine ausgemergelte Gestalt kann nicht mehr Schritt halten und setzt sich an den Wegesrand. Ob die sich nur ausruhen oder bereits aufgegeben haben, weiß ich nicht. Ein paarmal habe ich mich umgeschaut und bin mittlerweile bestürzt, wie wenige Menschen in der anfangs endlos erscheinenden Kolonne hinter mir verblieben sind. Nicht mehr lang, befürchte ich, und ich selbst werde am Ende der Schlange zurückbleiben. Manchmal, wenn ein Bauernhof zu erkennen ist, sehe ich einige Leute dorthin stürmen; vermutlich um irgendetwas zu essen zu erbetteln. Oft kehren diejenigen, die zuerst losgestürmt waren, schnell zurück und winken enttäuscht ab. Die Bauern rücken wohl nichts heraus. Nun ja, bei der Menge Menschen, die bei ihnen auftaucht. Die Schätze im Brotbeutel helfen mir wenigstens über die ersten Tage hinweg.
11.
Ich erwache, an einen Holzstoß gelehnt, mit den üblichen Gelenkschmerzen. Jakob, sage ich mir, du bist ein müder alter Sack, und kein Springinsfeld mehr. Dann erschrecke ich. Neben mir hockt ein Mensch, der gestern Abend noch nicht da gehockt hatte. Ein unrasierter Mann wie ich, mit zerschlissenen Hosen wie ich, allerdings mit ausgetreteneren Schuhen als ich. Strümpfe trägt er nicht. Wie sagen die Berliner? Keene Strümpe, aber Gamaschen! Der schmuddelige Hals des Mannes steckt in einem karierten Hemd, dessen Kragen aus einer speckigen Joppe lugt. Der Mann hat die Knie angezogen und sein Kopf mit den millimeterkurzen Haaren liegt auf den darüber verschränkten Armen. Er hüstelt im Schlaf.
»He«, rede ich ihn an. »Holla, Sie da.«
Der Mann hebt sein hageres Gesicht und wendet es mir insoweit zu, dass nun nur die linke Schläfe auf den Armen liegt und gibt einen grunzenden Laut von sich.
»Ich habe gar nicht bemerkt, dass Sie sich zu mir gesetzt haben«, fahre ich fort. »Sind Sie schon lange da?«
Nun hebt er den Kopf richtig. »Irgendwann heute Nacht. Ich habe Sie schlafen sehen und mir gedacht, dass zwei Mann nebeneinander sicherlich friedlicher hier pennen können. Sie haben ja nichts wahrgenommen, was um Sie herum geschieht.«
»Sie hätten mich auch gut ausrauben können, nicht wahr?«
»Klar, aber Leute, die genauso arme Schweine sind wie ich, denen klau ich nichts. Wenn Sie eine Uniform trügen oder ein Parteiabzeichen, ja dann!« Er kratzt sich umständlich den Kopf.
Ich öffne meinen Brotbeutel. »Ich habe ein Stück Brot und etwas Dauerwurst, wollen wir teilen?«
Nun lehnt er sich aufrecht gegen den Holzstoß. »Teilen?«
»Ja. Sie haben meinen Schlaf bewacht und da ist es nur recht und billig, dass ich mein Frühstück mit Ihnen teile. Oder?«
»Da wo ich herkomme, hat seit Monaten kein Aas mit mir irgendwas geteilt. Beklaut haben wir uns.«
»Nun«, entgegne ich, »das wollen wir tunlichst unterlassen.« Ich reiche ihm die Hälfte des letzten Stückchen Brots und den halben Zipfel Wurst. Den Rest Schmalz behalte ich für mich, sicherlich mag er gar kein Schmalz, rede ich mir ein. »Zu trinken habe ich allerdings nichts mehr.« Zum Beweis halte ich den Hals der Feldflasche zum Boden geneigt. Nichts.
»Das macht nichts«, erwidert er. »Da vorn hat’s einen Bach.« Er beißt abwechselnd vom Brot und von der Wurst und streckt sich dann ausgiebig. »Vielleicht sollten wir uns zusammenschmeißen? Zu zweit kann man sich viel besser helfen in diesen lausigen Zeiten.«
Warum eigentlich nicht, überlege ich. Wenn er mich beklauen wollte oder sonst was, das hätte er heute Nacht ganz einfach haben können. »Klar, machen wir.«
Während der nächsten Tage geben wir gegenseitig auf uns Acht. Wir haben ganz schnell beschlossen, das förmliche Sie abzulegen. Zu zwei Streunern in Wald und Flur passt das nicht. Lutz ist beneidenswert geschickt im Organisieren von Fresskram und stets, wenn er loszieht, für uns irgendetwas Essbares zu besorgen, fordert er mich auf, besser ein wenig abseits zu warten. »Dazu bist du nicht gemein genug, Karl-Heinz«, sagt er. »Du bist sicher ein viel klügerer Mann als ich, aber um von dem Pack«, er zeigt mit dem Daumen zu einem Bauernhof, »um von dem Pack etwas zu fressen zu bekommen, muss man schlau sein, muss man selber so schlau sein, wie der dümmste aller Bauern auf seine Weise schlau ist.«
Manchmal erreicht Lutz sogar, dass wir in einer Scheune übernachten dürfen. Ich habe keine Ahnung, wie er das anstellt. Ich bin jedes Mal froh, nicht auf der blanken Erde schlafen zu müssen.
So, wie auch heute Nacht. Am späten Vormittag weckt uns in einer dieser Scheunen eine nahezu atemlose Bäuerin. Die Sonne steht bereits hoch am Himmel und strahlt wohlige Wärme aus. Die Frau trägt ein farbenfrohes Dirndl, das ihre Üppigkeit appetitlich unterstreicht. Sie lacht breit und ihre großen dunklen Kuhaugen leuchten. »Heut ist’s an Festtag. Mir san frisch gebadet und Sie solln dös a tun. Der Franzl hat zwoa Anzüge für Sie zum anziehn nausglegt. Heut wolln mir zusammen feiern!«
Wir schauen uns an. Was soll denn das jetzt? Feiern? Was denn feiern? Wurscht, das Baden kann auf jeden Fall keinem von uns beiden schaden. Eher im Gegenteil. Und die Aussicht, unsere Lumpen durch saubere Anzüge zu ersetzen, gibt uns allein schon Grund genug, in die Zinkwanne zu steigen, selbst wenn die beiden Bauersleute sich zuerst im Badezuber gewaschen haben. Was schadet das? Neben der Zinkwanne liegt sogar ein Stück parfümierte Seife und für jeden von uns ein frisches Handtuch. »Ja, haben wir denn schon wieder Weihnachten?«, fragt Lutz und seift sich ein, dass der Schaum nur so spritzt.
»Ich glaube nicht«, antworte ich, während ich mein Gesicht mit dem Rasiermesser des Bauern schabe.
Welcher Feiertag mag heute denn bloß sein? Nach dem Bad ziehen wir die beiden Anzüge an, die der Bauer uns schenken will, wenn wir wollen. Und wie wir wollen! Unsere eigene Kleidung taugt nicht mal mehr zum Waschen und die Bäuerin stopft sie umgehend in das Feuerloch des Küchenofens. Darauf steht eine Blechkanne mit Kaffee und zwei Pfannen mit brutzelndem Speck und Eiern. Wir setzen uns zu Tisch.
Der helle Fleck an der Wand auf der alten speckigen Tapete wirkt absolut frisch. Dort hat garantiert bis vor ein paar Stunden noch das übliche Führerbild gehangen.
»Dös Glumps brauch ma nimmer«, sagt der Bauer und weist mit dem Daumen über die Schulter zu dem Fleck auf der Tapete.
Meine Hand mit der Tasse voll Kaffee zittert. Sollte das tatsächlich wahr sein? Da hat man nun jahrelang Tag für Tag auf diesen Augenblick gewartet und nun geschieht das, was man tief im Innern längst nicht mehr zu hoffen gewagt hat, so ganz nebenbei. »Hat Berlin wirklich und wahrhaftig endlich kapituliert?«
Der Bauer kaut und schluckt. »Naa, der Schicklgruber doch net.«
»Der wer?«
»Nona, der Vata vom Hitler soll unehelich mal Schicklgruber geheißen ham, weil dessen Mama sich als Magd von einem jüdischen Kaufmann hat schnaxeln lassen. Des möchte schon so san, der Hitler is selbst an halber Bastard.«
Na danke, denke ich empört. Hitler ist zwar ein Bastard so oder so, aber nicht wegen seiner Großmutter. Und ich fühle mich nicht im Geringsten als Bastard. Unerhört, was man sich so anhören muss, Bazi, dämlicher. Nur weil du jetzt, wo es ungefährlich ist, das Bild von der Wand genommen hast, uns ein paar Klamotten schenkst und angeblich niemals für die braune Pest gewesen warst, deshalb bist du ja nicht automatisch ein Widerstandskämpfer! Ruhig, beschwichtige ich mich selbst. Ruhig bleiben, Jakob! Ab morgen werden vermutlich Millionen Arschlöcher genauso reden. Ruhig, es ist ja vorbei, Jakob! Ist das gewiss? »Wer hat denn nun kapituliert?«, frage ich.
»Der Fü ... der Hitler net. Heut in der Früh hat der Model im Ruhrgebiet kapituliert, der Marschall Model. Und dös ausgrechnet heut. Der Hitler muss geradezu toben in Berlin!«
»Es ist zu gspaßig!«, jubelt die Frau und klatscht begeistert in die Hände. Bei ihr wirkt die Freude ehrlich. »Wo doch der Hitler grad heut Geburtstog hot, seinen sechsundfuchzigsten. Zum Geburtstog vuil Freud wünsch ma alle dir heut!« Sie stellt vier Flaschen Weizenbier auf den Tisch. »Mir trinken aufs End! Die Amis solln scho seit Dienstag bei Rosenheim anlangt sein. Es is bald aus. Prosit auf die Amis! Mir san ja scho imma Feinde von der Partei gwesen!«
Na also, denke ich, da haben wir es ja! Das werden nun sehr sehr viele behaupten. Müsste man mal durchdenken, was wohl geschehen wäre, wenn wahrhaftig viele dagegen gewesen wären. Aber wozu diese beiden naiven Bauersleute beleidigen? Wir sind frisch gebadet, tragen reine Wäsche, sind gleich satt gefressen und es sieht sogar so aus, als wäre ich tatsächlich auf meinem Baum angekommen. Jetzt nur noch nach München und den lästigen Koffer abgegeben und dann auf Carola warten. »Na denn Prost«, sage ich deshalb freundlich. Ein Weizenbier werde ich in meinem ganzen Leben wahrscheinlich nicht mehr trinken. Kaum setze ich die Flasche an den Mund, schäumt mir das Zeug mit Druck aus Mund und Nase. Die saubere Jacke ist gleich versaut. Wie kann man nur so etwas saufen? Mist verfluchter!
12.
»Sag mal, Karl-Heinz, sind dir die beiden auch so zum Kotzen gewesen?«
»Ich kann dir gar nicht beschreiben, wie sehr, Lutz. Hat nicht Liebermann mal formuliert: ›Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte!«
»Was für ein lieber Mann?«
»Max Liebermann. Der Maler.«
»Oh Mann, du kannst Sachen fragen. Woher soll ich denn so etwas wissen? Der einzige Maler den ich kenne, war der Kumpel, der unsere Zellen gestrichen hat seit 1939. Außerdem, du denkst und ich bin.« Es ist das erste Mal, dass Lutz andeutet, wo er wohl längere Zeit gewesen war. Wir hatten uns nach dem Frühstück von den Bauersleuten verabschiedet. Freundlich und zuversichtlich haben wir uns gegeben und zu ihrem Gewäsch nur genickt. Ich wenigstens. Lutz hat die beiden sogar umarmt, das war mir um einiges zuwider.
»Komm, ich trage jetzt mal deinen Koffer ein Stück.« Lutz nimmt ihn mir einfach ab und nach einigen Schritten schüttelt er meinen Koffer. »Sag mal«, rätselt er, »was ist in dem Ding denn bloß drin?«
»Wieso?«
»Weil du dich heute zum ersten Mal von dem Koffer trennst, seit wir uns kennen. Bisher hast du darauf Acht gegeben, als wären Gold und Juwelen drin.«
»Sind auch drin.«
Lutz bleibt abrupt stehen, setzt den Koffer nun ganz vorsichtig ab und betrachtet das veritable Reiseutensil beinahe ehrfürchtig. »Viel?«
Wahrheitsgemäß antworte ich, dass ich dies nicht weiß. Lutz tritt zwei Schritte zurück, reibt das Kinn und zieht die Stirn in Falten.
»Nun mal langsam. Du schleppst einen Koffer voller Gold und Edelsteinen mit dir herum und willst nicht mal wissen, wie viel drin ist?«
»Ich habe bisher nicht nachgeschaut.«
»Ach so«, meint Lutz, spitzt die Lippen und schließt die Augen. »Dafür muss ja jeder Verständnis haben. Wer weiß schon so genau, wie viele Millionen er so ganz nebenbei mit sich durch die Gegend schleppt. Ist mir klar.«
»Also von Millionen habe ich nichts gesagt. Ich weiß nur, dass Familienschmuck, diverse Papiere und ein paar Goldbecher im Koffer sind. Und zwei Flaschen französischer Cognac.«
Lutz schluckt gierig. »Französischer Cognac?«
»Ja, Napoleon.«
»Weswegen nennst du mich Napoleon?«
»Quatsch, dich doch nicht. So heißt der Cognac. Ach ja, und Bilder sind drin.«
»Familienfotos?«
»Wieso?«
»Du hast gerade von Familienschmuck erzählt, deswegen.«
»Nein, keine Fotos. Richtige Bilder. Gemälde. Na, zumindest eines habe ich gesehen, Lucas Cranach der Ältere aus dem sechzehnten Jahrhundert, wenn ich mich recht entsinne.«
»Nur das eine? Oder sind noch mehr im Koffer?«
»Weiß ich nicht.«
»Mensch, Karl-Heinz, mach mich nicht wahnsinnig! Du musst doch wissen, was dein Eigentum ist!«
»Das Zeug gehört mir gar nicht.«
Lutz reißt Augen und Mund gleichzeitig auf. »Du hast den Kram ...?« Er beschreibt mit der Hand die Bewegung fürs Klauen. »Hui, stille Wasser ... hätte ich dir gar nicht zugetraut. Willst du die Sore in München losschlagen? Ich kenne einen zuverlässigen Hehler, der zahlt faire Preise für so’n olles Zeug. Lass uns mal nachschauen, was sonst so alles im Koffer steckt.«
»Halt! Nimm die Finger weg! Der Koffer gehört mir nicht und dir schon gar nicht! Pfoten weg! Ich habe versprochen, den Koffer nach München in die Schwaiger Straße zu transportieren und dort dem rechtmäßigen Eigentümer auszuhändigen.«
»Wem?«
»Der Familie, dem er gehört!«
»Das habe ich verstanden, und wem hast du das versprochen?«
»Einem Sterbenden.« Ich erzähle Lutz in Auszügen von den Geschehnissen in der Dresdner Bank. Meine Abstammung und die falschen Papiere verschweige ich. Bloß jetzt keinen Fehler machen, denke ich mir; immer schön auf dem Baum bleiben.
Lutz steckt die Hände in die Jackentaschen. »Dein Versprechen in allen Ehren. Aber der Kerl da oben in Dresden ist tot. Ob es die Familie noch gibt, weiß kein Mensch. Niemand auf der Welt weiß von dir und dem Koffer.«
Ich habe den Koffer vorsichtshalber wieder selbst ergriffen und wir laufen weiter.
Lutz lacht. »Ich werde ihn dir schon nicht klauen, Mensch. Scheiß auf Ehre und Gewissen - besonders in dieser Zeit! Mein Hehler sitzt im Münchner Westend. Ich mache dir einen Vorschlag: Wir suchen nach den Leuten, wo der Koffer hin soll und wenn wir die nicht finden ... wo soll der überhaupt hin? Ach so ja, München hast du gesagt. München ist groß.«
»Die Leute wohnen in der Schwaiger Straße.«
»Au!«, tönt Lutz.
»Was Au?«
»Au an der Isar, bei der Corneliusbrücke. Da liegt die Schwaiger Straße.«
»Könntest du mir die Straße zeigen? Mich hinführen?«
»Klar. Abgemacht, wenn wir die Leute nicht finden, dann verhökern wir die Sore? Oder willst du das Zeug mit rübernehmen?«
»Wohin rüber?«, frage ich und schaue mich suchend um.
Lutz verzieht die Lippen. »Nicht örtlich, ich meine in die neue Zeit mit rübernehmen, Karl-Heinz. Was ist denn das?« Lutz schaut wie gebannt auf eine Straßenbiegung voraus, an deren Ende ein Automobil auf der rechten Seite der Straße mit dem rechten Vorderrad im Straßengraben steckt und das hintere linke Rad, wie ein Hund sein Bein beim Pinkeln, etwas in die Luft hält. Der Wagen ist in mattem Himmelblau gestrichen. Die Weißwandreifen leuchten, besonders der, der in der Luft hängt. Auf den lang gezogenen vorderen Kotflügeln sind Rückspiegel montiert und gelbe Scheinwerfer, wie sie eigentlich in Frankreich üblich sind. Auf dem Kühlergrill prangen deutlich die zwei nach oben gerichteten Winkel - ein Citroën. Die Windschutzscheibe ist zerbrochen. Wir schauen durch die Seitenfenster ins Innere des Wagens. Auf dem Rücksitz liegen zahllose Zigarettenschachteln bis unter das Dach des Wagens gestapelt.
Lutz stößt verblüfft einen Pfiff aus. »Sieh mal einer an. Weißt du, was das ist?«
»Nun ja, Zigaretten.«
»Ja genau, haufenweise Sulima Rekord, höchstwahrscheinlich aus Wehrmachtsbeständen. Sulima Rekord ist ja praktisch die Hausmarke der Wehrmacht, stellt Reemtsma her, ist garantiert ein prima Geschäft für die. Da liegt aber eine Masse Kippen im Wagen. Mal sehen, ob auch welche im Kofferraum sind.« Lutz öffnet die Heckklappe und pfeift nochmals. »Hennessy, kartonweise Hennessy. Karl-Heinz, hier hat irgendjemand ein Ding gedreht. Aber wer?«
Vor dem Citroën entdecke ich einen Körper im Straßengraben, in dem das Vorderrad stecken geblieben ist. »Vielleicht der dort. Lutz, komm mal her, da liegt einer.«
Im Graben liegt ein Mensch, das heißt ein Ledermantel, aus dem zwei Beine und zwei Arme herausschauen. Vom Kopf ist nichts zu sehen. Lutz dreht den Körper ein wenig. »Der arme Hund ist durch die Scheibe geflogen, dabei hat’s ihm wohl den Kopf abgesäbelt. Da ist nichts mehr zu machen. Drauf gehustet, machen wir eben das Geschäft, was?« Lutz schaut rückwärts die Straße lang. »Wahrscheinlich ist in der Rechtskurve der Wagen ausgebrochen, dann ist er im Graben stecken geblieben und der Kerl ist durch die Scheibe. Mach mal die Fahrertür auf und sieh nach, ob der Schlüssel steckt.«
Mich schüttelt. »Wozu das?«
»Unter Umständen kriegen wir die Karre wieder flott.«
»Und der Mann?«
»Och, Schnuckelchen, was bist du zart besaitet. Möchtest du vielleicht das Menschengemüse einsammeln?«
»Bah.«
»Na also. Ach lass, ich seh selbst nach.« Lutz betätigt den Griff, der vorne an der Fahrertür angebracht ist, öffnet sie nach rückwärts und setzt sich hinters Lenkrad. Er greift zwischen die Vordersitze und reicht mir eine Anlasskurbel durchs Fenster. »Hier, nimm. Steckste vorne in das Loch unten am Kühler und wenn ich ›los‹ sage, drehste so kräftig du kannst nach rechts. Musst aber aufpassen, der schlägt manchmal zurück. Los!«
Ich drehe die Kurbel. Das lässt sich ja wie in Butter drehen, geht ganz leicht. Bloß springt der Motor nicht an. Dann stoppt die Kurbel und ich habe das Gefühl, dass sie nach mir schlägt. Na warte, eine Viertelumdrehung lässt sie sich nun nur sehr kraftraubend drehen. Dann knallt irgendetwas hinter dem Wagen und der Motor läuft stotternd an.
»Ich versuche ganz vorsichtig Gas zu geben und du musst schieben. Hier links, wo das Rad noch auf dem Boden steht, die Kiste hat Frontantrieb. Los, Karl-Heinz, auf drei.« Lutz zählt, ich schiebe und das Rad bespritzt mich mit Straßendreck. Dann ruckt der Wagen und rollt letztendlich zurück auf die Straße. Lutz öffnet die Beifahrertür von innen und ich steige ein. »Was kommt nun?«, will ich wissen.
»Jetzt fahren wir nach München und dann - du willst ja deinen Kram nicht verhökern - kutschiere ich uns zu meinem Hehler und verkloppe den Karren mitsamt den Zigaretten und dem Schnaps. Dann sehen wir weiter.«
»Und wenn wir zuerst zur Schwaiger Straße fahren?«, bitte ich.
»Ich bin schließlich nicht lebensmüde«, sagt Lutz. »Mit ‘nem geklauten Auto quer durch München fahren? Nein danke.«
»Du weißt doch gar nicht, ob der Wagen geklaut ist.«
»Nee? Den haben wir eben nicht gerade geschenkt bekommen und ich will auch gar nicht wissen, wem die Karre gehört! Aber ein Wagen mit einem Berliner Kennzeichen - haste nicht gesehen? - und dann randvoll geladen mit Wehrmachtszigaretten und teurem ausländischem Schnaps; wenn der Krempel nicht geklaut ist, dann will ich Meyer heißen. Wie unser dicker Hermann seinerzeit mit seinen Bomben. Nee, nee, die Kiste verscherbeln als Allererstes und dann haben wir nichts davon gewusst. Mach dir mal keine Sorgen, ich bringe dich schon nach Au. Vielleicht haben wir Glück, und die Leute sind nicht mehr!«
13.
Freitag. Ein wundervoller Freitag ist heute. Allerdings Freitag, der 13. Und ich bin immer noch ein klein wenig Pessimist. Zwar nicht mehr so wie im Februar, aber trotzdem. Ich sehe mich noch am 13. Februar in meinem geliebten Eckzimmer in unserer Wohnung in der Sporergasse 2 in Dresden sitzen, wo ich gehofft hatte, dass, wenn erst der 13. Juli ohne persönliche Katastrophe verstrichen sein wird, würde mein Leben wieder lebenswert sein. Oder so ähnlich. Ja, von wegen! Damals hatte ich stets das Schlimmste befürchtet und war dann froh gewesen, wenn das weniger Schlimme eingetreten ist. Daran hat sich nicht viel geändert, nur brauche ich keine Tage mehr im Kalender auszustreichen, das ist schön. Auch für heute habe ich das Schlimmste befürchtet. Doch das weniger Schlimme ist gar nicht passiert, sondern die Katastrophe hat sich angekündigt. Und heute, der 13. Juli, ist nicht mal verstrichen. Ich werde nämlich morgen früh Punkt sechs Uhr erschossen.
Habe ich gerade in dem Urteil gelesen, das man mir nach dem Frühstück in die Zelle gereicht hat. Das war gar nicht so schlecht heute. Ich meine das Frühstück. Weshalb ich so locker über mein morgiges Ende rede? Ich fände es glatt zum Lachen, wenn es nicht so unglaublich albern wäre. Ich habe das Ende von Dresden überlebt. Ich habe die Flucht vor den Nazis und die verfluchte Brut daselbst überlebt. Zum Tod durch Erschießen hat man mich verurteilt, weil ich selbst viel zu blöd bin. Unfug, die Urteilsbegründung lautet natürlich anders, aber verurteilt bin ich, weil ich ein Esel bin. Zu lange Zeit habe ich nicht mehr in einer Gerichtsverhandlung sachlich argumentiert. Gestottert habe ich und mich in Widersprüche verstrickt. Auch auf meinen Hinweis, dass ich ein ... nein, diese idiotischen Bezeichnungen werde ich nie mehr in den Mund nehmen, na ja, zumindest bis morgen früh nicht. Zum Glück wollen die Amis mich erschießen und nicht aufhängen.
Tja, der Gerechte muss viel leiden, hat der Pfaffe gesagt vorhin, der dabei war, als mir das Urteil übergeben wurde. Ein ganz junger Kerl war das. Der hat richtig gezuckt, als ich ihn rausgeschmissen habe, weil ich nichtarisch bin - da, jetzt habe ich diesen dämlichen Begriff doch in den Mund genommen. »Wenn ihr mich schon umbringen müsst, als Erfüllungsgehilfen der SS, dann schickt mir wenigstens einen Rabbi!« Junge, ist das Pfäfflein aus der Zelle gestolpert. Der wirkte sogar von hinten noch verstört. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja.
Eine rechtmäßige Gerichtsverhandlung war das sowieso nicht. Nachdem die Amis mich festgenommen hatten, haben sie mich zunächst in einen Jeep gestoßen.
14.
Ungehindert sind wir mit dem Citroën an Dachau vorbeigefahren. Lutz kennt sich anscheinend bestens aus. Der Wagen liegt wegen der Ladung wie ein Brett auf der Straße und Lutz hat sich mehrfach gewundert, wieso der Fahrer die Gewalt über das Fahrzeug hatte verlieren können. Wir erreichen München bei Einbruch der Dunkelheit. Oder das, was von München übrig ist. Und das ist nicht viel. Nur Trümmer und bergeweise Schutt. Ausgemergelte Menschen schleichen durch die Trümmerwüste, meist Frauen. Soldaten oder überhaupt Männer sind kaum auszumachen. Ab und zu schlurft ein Greis vorüber. Die Leute nehmen nur wenig Notiz von uns und wenn, dann scheinen sie eher erstaunt zu sein, dass ein ziviles Auto hier herumfährt.
»Ich mach drei Kreuze, wenn wir die Kiste los sind«, mault Lutz mehrfach. »Wir fallen mit dem Wagen auf wie ein bunter Hund.«
Er biegt ohne Ankündigung in eine Einfahrt zu einem dreistöckigen Gebäude, dessen Fassade zur Straße hin allein stehen geblieben war. Hinter der Fassade, praktisch innerhalb des ehemaligen Hauses, stellt Lutz den Wagen ab. »Warte einen Moment«, sagt er zu mir. Ich schaue wenig begeistert die Innenseite des Mauerwerks hoch. Na, hoffentlich hält das, denke ich. Nicht dass mir zu allem Überfluss die Trümmerwand auf den Schädel knallt.
Nach kurzer Zeit kehrt Lutz mit einem Mann zurück. Der wirkt wie ein Künstler auf mich. Wallendes langes graues Haar beherrscht den Eindruck. Bekleidet ist der Mann mit einem verschossenen Morgenmantel und trägt Sandalen an den bloßen Füßen. Mit einer Hand führt er eine überlange Zigarettenspitze zum Mund. Er mustert mich kurz, hebt dann eine Augenbraue und bläst den Zigarettenrauch hörbar durch die Nase. Ebenso kurz mustert er den Citroën und mit einem Blick die Zigaretten im Fond des Wagens. Er öffnet die Heckklappe und lächelt uns an.
»Dreitausend Drecksmark«, entscheidet er und zieht ein Bündel brauner Geldscheine aus der Tasche des Morgenmantels. Dann lacht er und steckt es sogleich zurück. »Oder zweihundert Dollar. Echte! Mit zweihundert Dollar wirst du in ein paar Tagen ganz München kaufen können, Lutz. Na, was hältst du davon?«
Er zählt Lutz zwanzig Scheine in die Hand. Der hält sie gegen das Licht und lacht. »Mensch, richtiges amerikanisches Geld! Aber wir können mit dem Zeug nichts anfangen, auf den Besitz von ungenehmigten Devisen steht KZ.«
Der Künstler winkt müde ab. »Am Dienstag ging das Gerücht um, die Amis stünden drei Kilometer vor Rosenheim. Also quasi schon vor unserer Tür. Gestern haben tatsächlich noch einige Narren in kackbraun den Führergeburtstag gefeiert und marschierten vom Marienplatz zur Feldherrnhalle. Und eine Handvoll Feldpolizisten tat so, als könnten sie die gesprengte Ordnung aufrechterhalten. So ein Käse. Wenn die Amis wirklich vor vier Tagen in Rosenheim waren, dann sind die in acht Tagen in München. Spätestens. Solange müsst ihr eben warten, und dann kann man mit ein paar Dollar vielleicht nicht gerade die halbe Stadt kaufen, doch zumindest eine ganze Menge. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Alliierten an der Drecksreichsmark festhalten. Aber mir ist es wurscht«, lenkt er gelassen ein und versucht, Lutz die grünen Scheine wieder aus den Händen zu zerren. »Dann kriegt ihr eben Mark.«
»Nein, nein«, widerspricht Lutz und drückt die Hände mit den Dollarscheinen darin schützend gegen den Bauch. »So war das ja nicht gemeint. Wir ziehen die Dollars vor. Bloß, wo können wir für die nächsten Tage unterkommen? Ich möchte weder in eine SS-Streife geraten, noch von den Amerikanern abgeknallt werden.«
Der Künstler winkt erneut gelangweilt ab. »Sucht euch einen leer stehenden Keller in irgendeiner Ruine. Stehen ja genügend in der Gegend herum. Zu fressen gibt’s beim Roten Kreuz oder bei den NSV-Frauen. Klauen würde ich nicht versuchen«, schärft er uns eindringlich ein. »Selbst der kleinste Diebstahl wird sofort als Plündern betrachtet und kostet die Rübe. Hier, ich schenke euch zusätzlich zwanzig Mark, das wird für ein bisschen Brot reichen. Ach ja. Sucht euch zwei weiße Tücher für den ... wie heißt das Gegenteil von Endsieg? Keine Ahnung, na, egal. Wenn es so weit ist, schwenkt die weißen Tücher, dann werden euch die Amis schon nicht abknallen. So, und jetzt verschwindet.«
Lutz schaut mich kurz an und spricht dann zu dem Künstler: »Wir hätten da vielleicht einige Bilder ...«
»Nein! Vergiss es!«, unterbreche ich ihn.
»Na, dann eben nicht, Marie.«
Wir verlassen den Hof und Lutz hält mir Dollarscheine entgegen. »Da, die Hälfte von dem Zaster ist für dich.«
»Was soll der Quatsch, du hast das allein geschafft. Ich will nichts davon.«
»Sei kein Idiot. Nimm wenigstens fünfzig Piepen. Schließlich willst du doch leben, wenn der Krieg aus ist. Nun nimm endlich!«
»Und wenn man uns erwischt?«
Lutz streift die Schuhe ab und schiebt die Banknoten hinein. »Wer kommt auf die Idee, dass ich so viele Kröten in meinen Galoschen habe. Los, Mann, mach’s genauso.«
Geld mit Füßen zu treten, liegt mir nicht unbedingt. Ich stecke es deshalb lieber in eine Innentasche des Koffers. Von den zwanzig Mark, die uns der Künstler geschenkt hat, drückt mir Lutz auch einen Zehner in die Hand. Den Schein stecke ich in die Manteltasche.
Die Suche nach einer Unterkunft ist weit weniger schwierig als erwartet. In einem Mietshaus sind wir fündig geworden. Das ganze Haus ist zwar zerstört. Lediglich der Keller hat gehalten, und wahrscheinlich traut niemand der Kellerdecke unter dem Trümmer- und Geröllhaufen. Wir räumen ein wenig Schutt vor einem wohl durch Detonationen ausgebrochenen und vergrößerten Kellerfenster weg. Dann klettern wir hinein und hausen nun dort von niemandem beachtet. Im Nachbarkeller steht ein halb voll gefülltes Sauerkrautfass am Boden und ein Regal voller unversehrter Einmachgläser mit verschiedenem Obst. Somit ist sogar die Proviantfrage weitgehend gelöst. Bisschen viel Massel auf einmal, wundere ich mich, denn wir haben sogar genügend Decken und Tücher gefunden, um uns zwei Liegeplätze einzurichten. Wir wohnen gar nicht mal schlecht, wenn ich so die allgemeine Situation bedenke. Wir begegnen uns tagsüber nur selten, denn abends macht Lutz sich auf und kehrt meist erst im Morgengrauen zurück. Stockbetrunken wankt er in den Keller und schläft sogleich auf seinem Deckenlager ein. Es gibt keine Gelegenheit, ihn dazu zu bringen, mich in die Schwaiger Straße zu führen. Ich brüte, wie ich wohl die Familie Anders finden kann. Ich traue mich einfach nicht aus dem Keller.
Heute muss ich unbedingt raus, Sauerkraut und Eingemachtes schlagen sich mir inzwischen übel auf den Magen. Ich krieche aus dem Keller und wandere ziellos durch die zerstörte nähere Umgebung, auf der Suche nach einer preisgünstigen warmen Mahlzeit. Die zehn Mark von Lutz habe ich in der Tasche, doch weit und breit findet sich keine Möglichkeit, dafür etwas Anständiges zu essen zu bekommen. Kaum, dass ich auf Menschen treffe. Die Stadt scheint dem Ende entgegenzudämmern. Schließlich hocke ich mich auf den Boden, den Rücken an eine Mauer gelehnt und döse, bis ich zwei Feldpolizisten bemerke, die sich mir nähern. Bloß hoch und weg, sage ich mir und will mich aus dem Staub machen. Mit diesen Herrschaften möchte ich nie mehr etwas zu tun haben.
»Halt!« Der Befehl eines der beiden Kettenhunde ist unüberhörbar, also halte ich.
»Von wegen, unauffällig abhauen, Sie komischer Vogel!«
Ich fühle mich überhaupt nicht komisch, aber wenn ich hätte fliegen können ...
»Sehr verdächtig. Los, Papiere her«, fordert der zweite Hund.
Ich zucke mit den Schultern. »Hab ich nicht dabei.« Ich bemühe mich, möglichst lässig zu klingen, obwohl mir der Schweiß den Nacken hinabrinnt.
»Hoppla, Freundchen, nicht in diesem Ton. Mitkommen!« Die beiden Kerle nehmen mich fest in ihre Mitte und bringen mich zwar nicht um die berühmte Ecke, sondern sie stoßen mich in einen Friseursalon. Zumindest muss es sich früher mal um einen solchen gehandelt haben. Jetzt liegt die Schaufensterscheibe in Scherben und das zerstörte Inventar am Boden. Der Raum ist rußgeschwärzt. Ich stolpere über einen umgerissenen Friseurstuhl und falle hin. Einer der Kerle reißt mich am Kragen auf die Beine und schlägt mir seine Faust in den Magen. Zum Glück habe ich Dank des Sauerkrauts nicht viel darin, was sich hätte heben können. Ich spüre einige Ohrfeigen und dann einen Tritt in den Allerwertesten, der mich erneut umwirft. Diese Sitten sind bei unseren Rechtshütern anscheinend weiterhin an der Tagesordnung. Ich werde wieder hochgerissen. Der eine Kettenhund hält mich fest und zwingt meine Arme auf den Rücken. Der andere durchsucht meine Taschen. Er zieht den Geldschein hervor, nennt mich einen dreckigen Geldsack und schlägt mich abermals ins Gesicht.
»Das Geld ist konfisziert. Als Strafe, weil du keine Papiere bei dir hast! Lass dir das eine Lehre sein - und wir sind noch viel zu gut zu dir, du Scheißer. Ein Wort von dir und du begaffst die Radieschen von unten, kapiert?«
Ich werde heftig zu Boden gestoßen und erhalte zwei Fußtritte gegen die Nieren, dann zieht mich ein Strudel in eine gnädige Ohnmacht.
Ich erwache mit blutender Nase im Dreck des Friseursalons und huste. Das Husten tut sehr weh, trotzdem rappele ich mich auf. Vorsichtig blicke ich durch die fensterlose Ladentür auf die Straße. Wäre ich doch bloß mit Carola bei den Bauern geblieben, anstatt in dieser Scheißstadt nach Scheißleuten zu suchen, die mich eigentlich überhaupt nichts angehen. Scheißelend. Scheißland. Scheißstadt. Scheißscheißscheiß!
Ich klettere in unseren Keller und lege mich auf mein Deckenlager. Mir tut wirklich alles weh und ich muss heulen, aber nicht nur deswegen. Über die Heulerei und die Grübelei schlafe ich ein.
Ein Rütteln an meiner Schulter weckt mich und ich schrecke hoch. Ich habe vom Friseursalon geträumt und erwarte nun von Neuem Schläge. Ein helles Licht blendet mich und eine Wolke billigen Schnapses weht mir entgegen. Ich höre Lutz’ Stimme. »Habe uns eine Lampe organisiert, dann ist es hier nicht mehr so düster. Prima was?« Der muss sturzbetrunken sein, denn er hat erhebliche Schwierigkeiten, sich aufrecht zu halten. »Ich muss mich jetzt hinlegen. Hab zu frühzeitig angefangen heute. Vertrage das nicht mehr. Irgendwie ist mein alkoholischer Zeitplan durcheinandergeraten, vor Freude, dass die Ajll ... Allji ... die Amis bald da sein sollen. Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei. Hab ein Fläschchen mitgebracht zum Feiern. Hier, nimm einen Schluck, mein Lieber. Lass uns Brüder sein, wir Menschen sind doch alle Brü-hicks-Brüder. Du willst doch mein Bru-hicks-huder sein. Oder? Prost!« Er setzt die Flasche an und kippt große Schlucke. Dann reicht er mir die Flasche, ich nippe und habe Mühe zu atmen, so scharf brennt das Zeug.
Lutz versucht den Korken in den Flaschenhals zu bugsieren, stochert aber immer nur drum herum. »Das Zielwasser taugt nichts«, lallt er, wirft den Korken weg und trinkt gierig. Er streift sich die Schuhe von den Füßen, setzt sich auf sein Lager, sieht mich an und trinkt wieder. Dann schaut er erneut und blinzelt wie ein Kurzsichtiger. »Was ist denn um Himmels willen mit dir passiert? Trink lieber einen Schluck, auf dass du dich nicht erkältest. Siehst ja so ziemlich belämmert aus. Willst du nicht? Na dann trink ich für dich mit, prost.«
Ich bin hungrig, mir ist übel und kalt und ich lege mich zurück auf mein Lager. Lutz schnarcht bereits.
15.
Die Amerikaner sind noch nicht da. Man hört zwar mittlerweile den Geschützdonner, weit weg können sie also nicht mehr sein. Wir beschließen, heute am 28. April, einem frühlingshaften Samstag, den Keller zu verlassen, in dem wir die vergangene Woche verbracht haben, um Kartoffeln zu holen. Lutz hat nämlich vor einigen Tagen ein erst vor Kurzem umgepflügtes Feld entdeckt, auf dem zahlreiche wohl übersehene helle Frühkartoffeln zwischen dem trockenen Kartoffellaub auf der dunklen Erdkruste lägen, hatte er erzählt. Die wollen wir uns heute holen. Wer weiß, wann wir das nächste Mal aus dem Keller können. In ganz München bleiben die Menschen in ihren Häusern oder besser in den Kellern, da amerikanische Flugzeuge die Stadt täglich mehrmals angreifen, allerdings ohne größere Schäden zu verursachen. Lutz meint, dass sie die Leute von den Straßen haben wollen, damit die Bodentruppen ungehindert einmarschieren können.
Wir tragen beide jeweils einen Kopfkissenbezug, in denen wir die gefundenen Kartoffeln transportieren wollen. Hoffentlich sieht uns niemand, sonst heißt es womöglich, wir würden plündern. Mein Bezug ist schon rappelvoll, das reicht für zwei Wochen. Lutz hat noch nicht genug. Ausgerechnet mitten auf dem Acker stehend hören wir das Brummen eines Flugzeugs näher kommen. Nein, verflucht, nicht ausgerechnet hier abgeknallt werden! Weit und breit gibt es keinerlei Deckungsmöglichkeit. »Scheiße!«, fluche ich laut und hocke mich auf die Erde.
Der Flieger hat uns fast erreicht und ich setze mich aufrecht hin, zerre einige Zweige Kartoffellaub aus dem Boden und winke mit dem Laub in der erhobenen Hand, als würde ich die Angreifer begrüßen. Mit geschlossenen Augen erwarte ich das tödliche Maschinengewehrfeuer. Ganz versteinert warte ich darauf.
Nichts. Nur die Motoren der Maschine brüllen über mich hinweg. Ich öffne die Augen und sehe die Maschine aufsteigen. Sollten die uns etwa verfehlt haben? Kein Wunder, dass der Unsinn so lange dauert, überlege ich spontan, wenn die Amis zu blöde sind, selbst solch ein leichtes Ziel wie uns beide auf freiem Feld zu treffen. Ich muss über diese Dämlichkeit lachen.
Lutz liegt mit dem Bauch auf dem Boden. Weil unter dem Bauch der mit Kartoffeln gefüllte Stoffsack liegt, wirkt sein Po wie ein drolliger Hügel. Lutz schaut mich ängstlich an. »Weshalb lachst du, Mensch? Findest du es vielleicht lustig, jetzt noch abgeknallt zu werden?«
»Nein«, sage ich und lache trotzdem. »Vielleicht wollen die ja gar nicht mehr töten.« Ich stehe auf und recke mich ausgiebig. Dann stehe ich stocksteif da. Das Brummen kommt zurück. Es fragt sich, wer wohl blöder ist? Die Amis oder wir, weil wir nicht in Deckung verschwunden sind. Zu spät. Mir wird eiskalt. »Chuzpe!«, schrei ich, und raffe ein paar Laubhalme vom Boden auf. »Mensch, Lutz, ein Buch! Ich brauch ein Buch, Mann!«
»Ein Buch? Ich habe kein Buch!«
»Irgendetwas was aussieht wie ein Buch!«
Das Brummen nähert sich schnell. Am Boden liegen nur die aufgebrochenen Erdkrusten. Ein größeres Stück davon nehme ich in die Hand und halte es mit der linken Hand in Schulterhöhe und das Kartoffelkrautbündel wie einen Blumenstrauß in der hoch zum Himmel gestreckten rechten Hand. Beten, Jakob, jetzt hilft allein beten!
Das Flugzeug rast in geringer Höhe auf mich zu. Der helle Fleck in der Kanzel wird das Gesicht des Piloten sein, kann ich gerade noch denken, dann ist die Maschine über mich hinweggeflogen. Ich schaue ihr über die Schulter hinweg nach und die Maschine winkt wie ein Kunstflieger mit den Tragflächen. Mir steckt ein Riesenkloß im Hals. Der hat meine Pantomime der Freiheitsstatue begriffen. Wenn die Schiffe aus Europa über den Atlantik vor New York angelangt sind, begrüßt die Freiheitsstatue die Ankömmlinge, habe ich mir gedacht. Andersherum sind die Amerikaner über den großen Teich gekommen, haben ihr Leben riskiert, nur um uns von der Weltpest in Uniform zu befreien. Und der Teufelskerl da oben in seiner fliegenden Kiste hat mich verstanden. Es gibt ein jüdisches Sprichwort: ›Der Mensch soll leben, schon der Neugierde wegen‹, und ich möchte allein deshalb leben, um euch bald kennenzulernen. Ich schaue dem gewöhnlicherweise todbringenden Flugzeug nach. Lutz steht neben mir. »Was war das denn?«
»Freunde«, sage ich.
»Freunde?«, fragt er konsterniert. »Das sind unsere Feinde! Die machen alles kaputt!«
»Nein, die wahren Feinde Deutschlands reden deutsch und tragen Uniform.«
Er schaut mich eine Weile an und scheint wenig überzeugt.
Es ist Montag früh, der letzte Tag im April und ich bin aufgewacht, weil mit einem Mal absolute Stille herrscht. Nur ein paar Vögel höre ich zwitschern. Wir sitzen in unserem dunklen Keller, die Lampe, die Lutz mitgebracht hatte, ist nämlich kaputt. Vielleicht sind nur die Batterien leer, was weiß ich. Sehen kann ich nichts, aber die Ohren liegen sozusagen draußen auf der Straße. Lutz ist auch wach geworden. Seit über einer Woche hat er keinen Schnaps mehr und wir wechseln uns ab, an der aufgebrochenen Maueröffnung unseres Kellers, durch die wir hinein- und hinausklettern, Wache zu schieben. Obwohl die Sonne bereits hoch am Himmel steht, kommt nur wenig Licht in den Keller. Plötzlich höre ich hastige Schritte von eilenden Menschen. Wir kriechen aus dem Keller. Die Leute wirken sehr aufgeregt. Wir machen ein paar Schritte zur Straße hin. Eine Frau küsst erst Lutz und dann mich ungeniert auf den Mund. »Sie sind da!«, jubelt sie. »Die Amerikaner sind auf dem Marienplatz! Der Krieg ist aus! Die Amerikaner sind da! Gerade wurde gemeldet, dass Hitler und Goebbels in Berlin gefallen sind! Es ist aus!!«
Zwölf Jahre lang habe ich auf diese Nachricht sehnlichst gewartet und nun nehme ich sie auf, wie eine Meldung übers Wetter. Beinahe schon uninteressant. Viel mehr interessiert mich, ob Carola davon gehört hat.
Wir haben überlebt. Schade, dass ich jetzt nicht bei ihr bin. Wir hatten uns so darauf gefreut, dieses große Glück gemeinsam zu feiern. Aber wie es so oft geht, wenn man sich etwas ganz doll wünscht, man glaubt nicht ganz daran. Wohl deswegen hatte ich Idiot es vorgezogen, nach München zu kommen wegen eines ebenso idiotischen Koffers. Wenn ich genau nachdenke, habe ich wirklich nicht daran geglaubt. Was tu ich hier?
16.
Ich bin ein selten dämlicher Hund! Bloß, weil die vor Freude überschäumende wildfremde Frau mich geküsst und über die Ankunft der Amis gejubelt hat, bin ich, nachdem ich meinen Koffer aus dem Keller geholt habe (es gibt so viele zwielichtige Gestalten), mit in Richtung Marienplatz gegangen, die Befreier zu begrüßen. Gerüchteweise höre ich da und dort, dass der böhmische Teufel - manche nennen ihn sogar nur noch den Adolf (die können doch nicht schon alles vergessen haben?) - und sein rheinischer Propagandakrüppel gar nicht im Kampf gefallen sind, sondern sich feige selbst umgebracht haben. Ach, was ist mir das scheißegal! Hauptsache, sie sind weg!
Die amerikanischen Panzer wirken beinahe majestätisch. Aus den Fenstern der unzerstörten Häuser hängen weiße Bettlaken oder Tücher. Die Übergabe der Stadt ist anscheinend vorüber, denn Goldfasane (höchste Parteimitglieder) sind nirgends zu sehen. Diese Herrschaften haben sich wahrscheinlich bereits in Sicherheit gebracht. In sämtlichen Straßen zum Marienplatz stehen die Panzer mit laufenden Motoren, zu sofortiger Aktion bereit, falls notwendig. Wohlgenährte Soldaten betrachten uns erbärmliche Zivilisten mit zurückhaltendem Interesse. Manche der Männer, die ihre Stahlhelme tragen, ohne die Kinnriemen zu schließen (so etwas muss man sich mal bei deutschen Soldaten vorstellen), verteilen Zigaretten mit lässig umgehängten Maschinenpistolen. Ein paar Schwarze verteilen Schokolade an ihnen zögernd entgegentretende ärmlichst wirkende Kinder.
Lutz hat einen der kleinen Kartons ergattert, die von einem Lkw herab verteilt werden. Er bohrt ein Loch in seinen Karton und holt ein paar Päckchen daraus hervor. Breakfast steht auf einem, Lunch und Supper auf anderen. So sieht also die Verpflegung der ›Army de luxe‹ aus. Meine Güte, welch ein Wohlstand. Jeder einzige einfache amerikanische Soldat auf der Straße ist ja mehr wert als die ganze bayerische Hauptstadt zusammen.
»Attention!«, erklingt eine Stimme mit amerikanischem Akzent aus einem Lautsprecher. »Achtung! Wer uber aine Waffe verfugt, wird mit däm Tod bästraft. Alle Waffen sofort ablieförn. Ich wiedärhoule, alle Waffen sofort niederlägen!« Die Durchsage wird alle paar Minuten wiederholt.
Ich habe gerade feierlich beschlossen: Nichts, absolut gar nichts kann mehr geschehen, was mich noch aus der Fassung bringen könnte.
Wir stehen vor den Trümmern eines Hauses nahe dem Marienplatz. Lutz kaut bereits die Verpflegung aus dem Karton und ich muss über seine Gefräßigkeit lächeln. Aus den Augenwinkeln bemerke ich einen Gewehrlauf, der aus den Trümmern hinter uns herausgeschoben wird und auf die Amerikaner gerichtet ist, die Schokolade und anderes verteilen. Ich greife blödsinnigerweise nach dem Gewehrlauf und drücke ihn in die Luft. Den Kolben hält ein Junge mit verbissenem Gesichtsausdruck, der vielleicht gerade mal vierzehn Jahre alt sein mag. Er gehört zu den Heldenidioten unseres Vaterlandes, mit denen man immer wieder selbst in aussichtslose Kriege ziehen kann, von Heldenarschlöchern zu ebensolchen erzogen, die mit den Händen an der Hosennaht geboren wurden, und stolz darauf sind, auch so zu sterben. Sogar schon als Kinder, wie der Bengel mit der Flinte. Wir rangeln kurz und ein Schuss kracht aus dem zum Himmel gerichteten Gewehr. Der Junge verschwindet in den Trümmern und ich stehe da mit dem rauchenden Gewehr in den Händen. Zahlreiche Maschinenpistolen sind auf mich gerichtet und die Leute um mich herum weichen zurück. Ich werfe die Waffe zu Boden und hebe die Hände, so hoch es nur geht. Im gleichen Augenblick spüre ich zwei Gewehrläufe vorm Bauch. Wie vor den Kopf gestoßen lasse ich mir die Handgelenke auf dem Rücken in Handschellen legen.
Lutz glotzt mich verständnislos an, von dem Jungen hat offenbar niemand etwas mitbekommen, und die Soldaten führen mich ab.
In meiner Fassungslosigkeit verlange ich nach dem verdammten Koffer. Noch dazu in einwandfreiem Englisch. »My suitcase please.« Dazu lächle ich freundlich, aber das macht keinen Eindruck auf die Amis, denn ich werde heftig in einen mit Planen verhängten Lkw gestoßen. Da meine Hände auf dem Rücken gefesselt sind, knalle ich ziemlich schmerzhaft auf den Boden. Der Koffer landet in meinem Rücken. Danach hocke ich eine unbestimmbare Zeit in diesem rumpelnden Gefährt und habe hinreichend Zeit zu grübeln.
Eigentlich hatte ich nichts Unrechtes getan, im Gegenteil. Einem Ami habe ich möglicherweise sogar das Leben gerettet. Zu dumm, dass wahrscheinlich niemand von meiner Rettungstat Notiz genommen hat. Aber wenn die mich verhören - das werden sie ja wohl wenigstens tun - muss man nach eventuellen Zeugen suchen, hoffe ich. Amerikaner sind soziale Menschen, oder? Schön und gut, Kapitalisten, aber dennoch sozial.
Komisch, an welchen Blödsinn man so denkt, wenn man sachlich bleiben sollte. Sozial ist nämlich auch so eine Sache, überlege ich und ich muss an die Antwort des alten Rothschild zu einem leidenschaftlichen Sozialisten denken: ›Se wollen also, dass ich mein Vermögen an alle verteile, ja? Wenn ich das tue, kommt auf jeden Menschen höchstens ein Gulden - na, nu hier ham Se Ihren Gulden und nu könn’ Se gehen.‹
Der mit Planen verhängte Lkw stoppt abrupt, die Tür wird geöffnet und ich werde erst aus dem Fahrzeug und dann in eine Villa gestoßen, an deren Dachfirst eine amerikanische Flagge angebracht ist. Man schiebt mich in einen Kellerraum ohne Fenster und schließt die stabile Tür mit lautem Knall. Die Handschellen haben die Blödmänner mir nicht abgenommen. Der Raum ist absolut dunkel und es dauert, bis sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt haben. Dann schreite ich ganz vorsichtig den Raum ab, stets mit einem Fuß voraustastend. Drei Schritte längs und zweieinhalb quer. Nichts, absolut nichts befindet sich darin und ich lasse mich mit dem Rücken an einer Wand hinab, immer mit den Händen Halt suchend, bis ich mich auf den Boden setze. So langsam wächst die Wut in mir. Was habe ich denn verbrochen, verflucht noch mal? Nichts. Gut, ich hatte ein Gewehr in der Hand gehalten, aus dem geschossen worden war. Aber ich hatte doch den Lauf in der Hand gehalten. Warum habe ich das verdammte Ding bloß fallen gelassen? Hätte ich es festgehalten, wäre es Beweis genug gewesen, dass ich unschuldig bin. So überlege ich hin und her und bin überzeugt, während des Verhörs diesbezüglich argumentieren zu können.
Die Tür des Kellers wird geöffnet und grelles Licht von außen blendet mich, dass ich nichts erkennen kann. Jemand zerrt mich unsanft auf die Füße und stößt mich dann hinaus. Man schiebt mich in einen völlig überheizten Raum, in dem ein jugendlich wirkender Mann in Uniform hinter einem soliden Schreibtisch sitzt, auf dem eine kleine US-Flagge an einem Ständer hängt. Der Uniformierte macht ein knappe Bewegung mit dem Kinn und mir werden endlich die Fesseln abgenommen. Das Blut kehrt schmerzhaft prickelnd in die Hände zurück. Der Mann bietet mir mit einer Geste an, am Schreibtisch Platz zu nehmen, legt die Fingerspitzen gegeneinander und die Zeigefinger ans Kinn. Dann betrachtet er mich ausgiebig. Die beiden bewaffneten Posten stehen hinter mir an der Tür.
Schließlich spricht er mich in akzentfreiem Deutsch an.
»Mein Name ist Branner, Captain Branner. Meine Großeltern stammen aus Oberbayern. Ich habe die Aufgabe, Sie zu vernehmen und notfalls zu verurteilen.«
»Was denn, verurteilen? Einfach so? Ohne Verhandlung? Und wofür? Ich habe bisher geglaubt, Amerika wäre ein Rechtsstaat. Ich bin nämlich Jurist, wissen Sie?«
»Nein, weiß ich nicht. Aber dies ist die Verhandlung. Da Sie Jurist sind, wie Sie sagen, sollten wir vernünftig miteinander reden können, okay?«
»Nun, ich denke schon, Mister Branner.«
»Das freut mich, Herr ...«
Ojweh, daran habe ich ja überhaupt nicht gedacht. Bis ich dem erklärt habe, was mir geschehen ist ... Ich schaue ihn etwas unsicher an.
»Nun?«, fragt er mich aufmunternd.
»Tja, Mister Branner, das ist so ein Problem.«
Er lacht. »Ach so. Sie haben das Gedächtnis verloren. Ja, das hören wir häufiger in letzter Zeit. Was war’s denn bei Ihnen? Verschüttet? Ausgebombt?«
»Ja, nein. Da kommt noch einiges hinzu.«
»Vielleicht sind Sie ja auch Halbwaise.«
»Wollen Sie mich verscheißern, Mister Branner?«
»Nein, mein Bester. Ich habe für alles vollstes Verständnis. Es sollte ja nur ein Vorschlag sein.« Er lacht übermütig. »Ist mir neulich erst passiert. Da war uns ein Herr in die Arme gelaufen, Ende fünfzig, bestens genährt, der wollte uns vormachen, dass er Knecht eines Bauern war. Nur war er dreimal so fett wie der Bauer selbst, das machte uns stutzig. Der Bauer war in der Tat einer, bloß dass er den Hof auf Vermittlung des Fetten seinerzeit erworben hatte und diesen nun schützen musste. Die Kleidung passte dem angeblichen Knecht nicht, dafür passten haargenau sämtliche Beschreibungen, dass es sich bei ihm um ein recht hohes Tier handelte. Schließlich hat er mir unter rollenden Tränen eröffnet, dass er Halbwaise sei und seinen Namen deshalb nicht wüsste. Jesus, hatte der Selbstmitleid. Beinahe zerflossen ist er.«
»Weswegen erzählen Sie mir das?«
»Um Ihnen von vornherein zu zeigen, dass solche Geschichten mich nicht im Geringsten beeindrucken können. Mich interessiert nur die Wahrheit. Wollen Sie mir die Wahrheit erzählen?«
»Ja.«
Er lässt die Hände sinken. »Einfach so? Ohne Wenn und Aber?«
»Ja.« Ich schaue ihn an. »Das heißt, ein Aber hätte ich schon.«
»Na also. Welcher Art?«
»Mir ist in den vergangenen zweieinhalb Monaten wirklich Sonderbares passiert. Eigentlich Unglaubliches.«
»Ach so, ich soll Ihnen aber auf jeden Fall glauben?«
»Das wäre natürlich schön. Zunächst reicht es, wenn Sie mir zuhören. Das dauert allerdings ein bisschen.«
»Das ist kein Problem. Sie müssen mir dann auch meine Fragen beantworten. Dann höre ich Ihnen ... was ist das denn?«
Mein Magen hat geknurrt. Laut und deutlich. Und knurrt erneut lang und rollend. »Entschuldigen Sie bitte, Mister Branner.«
»Haben Sie Hunger? Möchten Sie etwas essen?«
»Gerne. Heute hatte ich noch keinen Bissen, und dann die Aufregung.«
Er greift zum Telefonhörer. »Ich lasse Ihnen sofort Ham and Eggs kommen. Ein Beer dazu?«
»Um Himmels willen, das würde ich nicht vertragen. In den vergangenen Tagen habe ich mich nur von Sauerkraut und Eingemachtem ernährt. Wenn ich eine Bitte äußern dürfte, Mister Branner, hätte ich gerne ein Schmalzbrot und eine Tasse Tee.«
Er lässt den Hörer ein Stück sinken und schluckt beinahe angewidert. »Schmalzbrot? Da muss ich erst nachfragen.« Er klopft die Gabel des Apparates ein paarmal, fragt anscheinend in der Küche nach und schimpft dann. »Not grease. It’s for a man not for a truck. A slice of bread with lard. Yes, rye, lard and salt. And a cup of tea; like greased lightning!« Er legt auf. »Kommt sofort, Sie mögen doch lieber dunkles Brot oder?«
»Vielen Dank.«
»Apropos Essen. Sie haben gerade etwas recht Interessantes erzählt. Von Sauerkraut und Eingemachtem. Wo hatten Sie das denn her?«
Ich halte es für ungefährlich, von der vergangenen Woche im Keller zu berichten und bezeichne auch die Ruine und den Kellerzugang. Ich beschreibe die Räumlichkeiten und hoffe insgeheim, dass Lutz dort ist, denn vielleicht hat er ja gesehen, dass ich das Gewehr nur am Lauf festgehalten hatte. Es klopft und ich schweige. Ein rothaariger GI trägt einen Pappteller in den Raum. Darauf liegen zwei dick mit duftendem Schmalz bestrichene Scheiben Brot. Mit dem Kinn deutet Mister Branner auf mich, der GI stellt den Teller auf meinen Schoß und drückt mir einen Pappbecher mit dampfendem Tee in die Hand. Im Schmalz entdecke ich Grieben und Zwiebeln. Herrlich. Mister Branner nickt mir zu und ich lege los. Mein Gönner telefoniert derweil.
17.
Mit einem Jeep fahren wir durch das absolut dunkle München. Ein Fahrer, Mister Branner daneben und ein GI, der mir seine MP mit dem Finger am Abzug gegen die Leber drückt. Ein unangenehmes Gefühl, denn der GI scheint hundemüde zu sein. Sobald der Jeep ruckt, sei es nun wegen einer Kurve oder einem Loch in der Straße - und wir müssen um zahlreiche Löcher herumkurven - zuckt der Mann mit dem Kopf und wacht für kurze Zeit auf. Schließlich sinkt sein Kopf zurück und dann gegen meine Schulter. Der Mann schläft leise schnarchend. Die Mündung der MP sinkt ebenfalls und zielt nun auf des Mannes höchstes Gut; noch dazu auf meines. Sachte löse ich die Waffe aus den Händen des Schlafenden und klemme sie mit dem Lauf in den Himmel zwischen meine Knie. So, nun fühle ich mich schon besser. Wir begegnen einigen anderen amerikanischen Militärfahrzeugen, schwer bewaffneten Dreierpatrouillen von US-Soldaten, aber keinem einzigen Zivilisten. Die Stadt scheint wie ausgestorben.
Vor dem Mietshaus, dessen Trümmer auf dem Keller liegen, halten wir an. Mister Branner wendet sich zu mir um und schreit den schlafenden GI wach. Der sucht natürlich nach seiner MP. Ich bemühe mich zu lächeln und reiche ihm die Waffe mit spitzen Fingern. Er schläft noch halb, versucht aber einen martialischen Eindruck zu machen und wirkt gleichzeitig wie ein großes Kind.
Mister Branner reibt sich das Kinn. »Ist dies das Haus?«
»Ich bin mir beinahe sicher. Um ganz sicher zu sein, müsste ich mich erst im Keller umschauen.«
Der Fahrer bleibt im Wagen und bewacht das Fahrzeug. Der GI leuchtet mit einer starken Taschenlampe durch das Kellerfenster in den Raum. Die zwei Deckenlager sind gut zu erkennen und ebenso einige leere Einmachgläser. Der GI muss in den Keller klettern und sich genau umschauen, um zu berichten.
18.
»Möchten Sie noch etwas essen oder trinken?« Wir sitzen wieder im überheizten Büro des Captains.
»Nein danke, Mister Branner.«
»Sehen Sie, Sie erzählen mir etwas, ich prüfe es nach und wenn sich Ihre Geschichte als wahr herausstellt, wird die Situation für Sie gleich viel angenehmer. Selbstverständlich werden Sie während der Untersuchung in einer Zelle untergebracht sein. Allerdings nicht mehr in dem Loch, in dem Sie heute hier im Keller gewartet haben, sondern in einem normalen Gefängnis. Davon gibt es ja zum Glück reichlich in diesem Land. Ich kann mich leider nicht dauernd um Sie kümmern, denn es gibt eine Unmenge für mich zu tun. Zu untersuchen und zu verurteilen.« Er schaut mich eine Weile eindringlich an. »Für heute habe ich eine letzte Frage. Was war das für eine Geschichtemit dem Gewehr, das Sie auf dem Marienplatz in den Händen hielten, nachdem Sie auf unsere Jungs geschossen hatten und dann unmittelbar vor Ihrer Verhaftung fallen gelassen haben?«
»Es war weder meine Waffe, noch habe ich damit auf Ihre Leute geschossen. Im Gegenteil, jemand wollte auf einen Ihrer Soldaten schießen und ich habe das verhindert.«
Er wirkt zustimmend, als glaube er mir.
»Wer wollte dies tun?«
»Ein Junge.«
»Aha. Sonderbar ist allerdings, dass niemand solch einen Jungen gesehen hat. Haben Sie dafür eine Erklärung?«
Ich berichte haarklein, was sich abgespielt hat und er hört mir geduldig zu.
»Gut«, sagt er. »Gut. Es könnte ja stimmen, was Sie beschreiben, obwohl es dafür keinerlei Beweis gibt. Es könnte so gewesen sein. Aber Sie wissen, dass schon allein der Besitz von Waffen mit dem Tod bestraft wird?«
»Das hatte ich auf dem Marienplatz gehört, ja.« Ich muss lachen. »Na, dann können Sie mich ja gleich zweimal zum Tode bestrafen, nicht wahr?«
Er lehnt sich zurück. »Ja, das war beeindruckend. Die Waffe war geladen und entsichert. In einer Sekunde hätten Sie uns drei im Jeep erledigen können. Warum haben Sie diese Gelegenheit nicht genutzt?«
»Erstens wäre das Mord und zweitens, weil ich Schießen idiotisch finde.«
Eine ganze Woche lang sitze ich in meiner Zelle auf einem richtigen Stuhl an einem richtigen Tisch, esse an diesem Tisch täglich richtiges Essen und schlafe auf einer bequemen Pritsche. Sogar frisches Bettzeug hat man mir gegeben. Wenn ich geahnt hätte, dass es im Knast so feudal zugeht, hätte ich mich viel eher einbuchten lassen. Das ist natürlich Unsinn, denn es geht wahrscheinlich nur bei den Amis so zu. Montags und freitags hat Gérard bei uns Wache, ein französischstämmiger Amerikaner. Wir spielen an diesen Tagen stundenlang Schach miteinander. So auch heute, am Montag. Gérard hat mir gerade erzählt, dass heute am 7. Mai 1945 der Krieg praktisch zu Ende ist. Drei Partien habe ich gegen Gérard heute bereits verloren. Die Revanche muss ausfallen, denn ich werde endlich wieder in Mister Branners Büro geführt. Er erkundigt sich nach meinem Befinden, freut sich, dass es mir gut geht und zeigt sich überhaupt recht freundlich.
»Sie hatten nun eine ganze Woche Zeit, sich Ihre Aussagen zu überlegen«, beginnt er. »Wir wollen heute nun zu Ihrer Person kommen. Wer sind Sie? Was sind Sie? Woher kommen Sie? Wohin wollen Sie? Gibt es irgendwen, der Ihre Angaben bestätigen könnte? Ach ja, Sie werden es wahrscheinlich noch nicht gehört haben, morgen wird der Krieg wohl endlich wirklich zu Ende sein. Die Kapitulationsverhandlungen sind abgeschlossen und ab Mitternacht ist Schluss. Ich teile Ihnen das mit, für den Fall, dass Sie meinen, irgendjemanden schützen zu müssen. Oder sich vor irgendwem fürchten. Davon mal abgesehen hoffe ich, dass Sie intensiv nachgedacht haben, was Sie mir erzählen möchten. Fangen wir mit Ihrer Identität an.«
Und ob ich intensiv nachgedacht hatte, Schach motiviert das Gehirn ungemein und ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass ich ausschließlich die Wahrheit erzählen sollte. Somit nenne ich meinen richtigen Namen und schildere ihm meine Odyssee. Selbstverständlich nur ganz wenige hervorstechende Einzelheiten; als Jurist gibt man ja nicht gleich im ersten Augenblick sämtliche Trümpfe preis, nicht wahr. Nun habe ich dummerweise leider nicht den Eindruck, dass er mir glaubt, denn er verzieht angewidert den Mund, bevor er spricht.
»Nun gut, Herr Löwenthal. Ein hübscher Name, assoziieren sich mir die wundervollen englischen Rittergeschichten; Löwenherz, Löwenthal und so weiter. Lassen wir das. Sie sind also Jude?«
»Ja.«
»Können Sie das irgendwie beweisen?«
»Wie denn? Ich habe Ihnen doch dargelegt, wie es mir ergangen ist. Meine Frau könnte das natürlich bestätigen, nur wie gesagt, ich erinnere mich partout nicht mehr an den Namen des Ortes, wo ich sie krank bei dem Bauern zurückgelassen habe. Schauen Sie nicht so, glauben Sie vielleicht, mir macht es Spaß, erst ausgebombt zu werden, dann vor den Nazis zu fliehen und hier von Ihnen wie ein Verbrecher verhört zu werden? Kümmern Sie sich lieber um die richtigen Schweine, anstatt uns Opfer zu drangsalieren!«
»Ja, ja. Schon okay. Nicht gleich aufregen, Herr Löwenthal, aber seit ich in diesem Land bin und Leute verhöre, treffe ich ausschließlich auf arme Opfer. Niemand hat irgendetwas gemacht oder gewusst. ›Immer nur meine Pflicht getan!!‹, höre ich täglich. Bei Ihnen bin ich ein wenig ambivalent und kann mir selbst nicht erklären, wieso. Vielleicht, weil Sie der Erste sind, der behauptet, Jude zu sein und ohne Stern unterwegs ist. Den Fall hatte ich bisher noch nicht. Möglicherweise haben Sie ja doch irgendwelche Papiere, welche Sie entlasten könnten?«
Nicht gut, denke ich. »Nein.«
Er streicht über seinen Unterarm. »Eine Nummer haben Sie auch nicht eintätowiert?«
»Nein. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich ganz kurz vor der Deportation im Februar aus Dresden abgehauen bin.«
»Ah ja, das haben Sie. Eigentlich schade, eine KZ-Nummer würde die Sache vereinfachen.«
»Klar«, entgegne ich. »Dann säße ich nicht hier.«
»Das stimmt, verzeihen Sie, Herr Löwenthal.« Ihm gefällt mein Name anscheinend wirklich, denn er nennt ihn häufig. »Wenn ich richtig kombiniere, sind die Leute, die Ihre Angaben bestätigen könnten, entweder verschleppt, vergast oder von Bomben getötet worden? Beziehungsweise Sie wissen nicht, wo sie sich aufhalten?«
»Die meisten bestimmt.«
Er lächelt. »Tja, Herr Löwenthal, dann wollen wir beide wieder eine Woche in uns gehen und nachdenken, welchen Weg wir finden.« Er ruft die Wache. »Und ich schaue mir inzwischen mal Ihren Koffer an, Herr Löwenthal. Nächste Woche werden wir uns dann darüber unterhalten.«
Eine Woche lang denke ich darüber nach, was sich genau im Koffer befindet. Die Gemälde natürlich, zumindest von dem Cranach weiß ich. Schmuck und die Goldbecher. Der Hennessy. Und die US-Dollar, verfluchter Mist! Da wird Mister Branner klarerweise ganz genau wissen wollen, was es mit jeder Einzelheit auf sich hat. Und ich darf mir selbstverständlich keine Liste machen, sondern muss den ganzen Zauber aus dem Kopf erklären. Hätte ich den verdammten Kerl in Dresden doch bloß vor der Scheißbank liegen lassen ... na ja, ist nicht ganz fair. Weiß der Himmel, ob ich überhaupt noch da wäre. Also, ruhig nachdenken, Jakob. Ganz ruhig. Vielleicht kommt ja Carola bald nach München, um mich zu suchen. Wenn mir wenigstens der verdammte Ort wieder einfallen würde, wo ich sie bei dem Bauern gelassen habe. Weg. Der Name des Ortes ist einfach weg. Wie ausgelöscht. Bin ich schon so alt, dass ich mich nicht mal mehr daran erinnern kann? Wie heißt denn der medizinische Fachausdruck dafür? Auch vergessen, na, bitte! Nützt nix, ich hätte nie gedacht, wie schnell eine Woche vergeht, wenn man versucht nachzudenken.
Ich sitze erneut in Mister Branners Büro. Er hat den Koffer geöffnet vor sich auf dem Schreibtisch liegen. Na schön, das war zu erwarten gewesen, verdammt.
»Dieser Koffer lag Ihnen bei der Verhaftung so sehr am Herzen. Das ist doch Ihrer?«
»Ja. Nein. Das ist nämlich so: Ich habe bisher nicht den verstorbenen Kurt Anders aus Dresden erwähnt, und dass ich mir dort Papiere auf diesen Namen habe fälschen lassen, um vor der Gestapo geschützt zu sein. Wer gibt denn gerne zu, gefälschte Papiere zu besitzen, nicht wahr, Mister Branner? Macht ja keinen sehr guten Eindruck.« Nun erzähle ich vom toten Kurt Anders, dass ich den Koffer transportiert habe, weil ich es dem Sterbenden versprochen habe und dieses Versprechen unbedingt halten möchte. »Zwölf Jahre lang war ich mir selbst nichts wert, Mister Branner, jetzt aber, durch den Koffer, bin ich etwas wert. Mir wenigstens. Kein Weg wäre mir zu weit gewesen, um das Versprechen einzulösen, und zwar nicht, weil da irgendetwas Wertvolles drin ist, sondern nur aus ... ja, wie soll ich sagen ... Menschlichkeit. Haben Sie schon mal von John Donne gehört? Hat von 1572 bis 1631 gelebt und geschrieben: No man is an island ... and any man’s death diminishes me ...«
»Yes, kenne ich, ... because I am envolved in mankind! Hemingway - For Whom the Bell tolls! Habe ich vor ein paar Jahren gelesen, 1940 oder 1941, das weiß ich nicht mehr so genau. Auf jeden Fall vor Pearl Harbor.«
»Hemingway, hm, tja, bei uns ist es mit Büchern so eine Sache, Mister Branner. In Deutschland werden Bücher eher verbrannt als gelesen.«
»Davon habe ich gehört, Herr ... Löwenthal? Herr Anders? Das ist zwar alles sehr irritierend«, lächelt Mister Branner mich an, »aber ich will mich bemühen, Sie zu verstehen.« Mir fällt ein Stein vom Herzen. »Das heißt«, ergänzt Mister Branner, »ich verstehe nicht ganz!« Er zieht eine Kennkarte aus dem Koffer hervor. »Ulkigerweise habe ich im Koffer diese Kennkarte eines gewissen Karl-Heinz Lange gefunden.«
Scheibenkleister, das habe ich völlig verschwitzt. Es ist nun mal eine Ungerechtigkeit, wenn man als Angeklagter keine Notizen vor sich hat. Ich hatte mal in einem Prozess die Akten bezüglich einer Verteidigung vertauscht, stand vor Gericht und musste mein Plädoyer ohne Unterlagen halten, um mich nicht wegen meiner Schusseligkeit zu blamieren. Das Ding hatte ich in den Sand gesetzt, muss ich zugeben und hier geht’s auch in die Hose, fühle ich ganz genau, wenn ich nicht höllisch aufpasse.
Mister Branner redet derweil weiter: »Das Foto ist miserabel, trotzdem kann man eine gewisse Ähnlichkeit nicht absprechen. Lauten Ihre falschen Papiere nun auf den Namen Kurt Anders oder Karl-Heinz Lange? Für welchen Namen möchten Sie sich denn nun entscheiden, Herr ...?«
»Mein richtiger Name ist Löwenthal. Doktor Jakob Löwenthal.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Wozu?«
»Na für den Titel, den Sie sich schnell mal eben zugelegt haben, Herr Doktor. Ist mir eine Ehre.« Er verneigt sich leicht.
»Ich habe Ihnen von vornherein gesagt, dass es eine komische Geschichte ist. Nein, eigentlich nicht komisch, sondern unbegreiflich. Den Ausweis auf den Namen Anders hat mir die Gestapo in Hof abgenommen. Einer der Offiziere hat nämlich herausgefunden, dass ich Jude bin und mir nahegelegt, unverzüglich zu verschwinden.«
Captain Branner lehnt sich zurück. »Ach so. Na ja, das muss man ja natürlich verstehen«, räumt er verständnisvoll ein. Gott sei Dank! »Es ist mir vollkommen klar, dass die Gestapo, wenn sie einen Juden gefangen hat, der falsche Papiere mit sich führt, aber keinen Stern, gleich wieder laufen lässt und ihm neue falsche Papiere beschafft.« Mister Branner lacht und bekommt nur schwer Luft.
»Nein! Die Papiere habe ich doch nicht von der Gestapo! Wo denken Sie hin?«
Captain Branner hebt mühevoll atmend die Schultern. Tränen stehen ihm in den Augen. Er wischt sie am Uniformärmel ab. Es dauert eine ganze Weile, bis er mich fragt, woher ich denn die falschen Papiere hätte.
»Vom Ortsgruppenleiter in Hof«, antworte ich wahrheitsgemäß.
Captain Branner neigt sich prustend über den Schreibtisch und hämmert mit einer Faust auf die Platte. Er brüllt geradezu vor Lachen. »Gnade, ich kann nicht mehr! Hören Sie um Himmels willen auf. Das kostet mich heute Abend mindestens zwei Flaschen Whisky im Kasino, wenn ich den ganzen Schwachsinn wiedergebe. They’ll think, I’ve bats in my belfry!« Die Wachen lachen nun ebenfalls und ich möchte wissen, was Mister Branner gesagt hat. Sein Gesicht ist vom Lachen gezeichnet und tränenüberströmt. »Das glaubt mir kein Aas! Die werden denken, dass ich eine Meise unterm Pony habe! Raus mit Ihnen, Herr Löwenthal, ich kann nicht mehr!«
19.
An meiner Zellentür klappern die Schlösser, die Tür wird von außen geöffnet. Captain Branner tritt ein. Ein GI trägt ein Magnetbandgerät in meine Zelle, stellt es auf meinen Tisch, schließt ein Mikrofon daran an und verbindet das Gerät über ein Verlängerungskabel mit der Stromleitung außerhalb der Zelle. Weil deshalb die Zellentür nicht geschlossen werden kann, bleibt eine Wache dort stehen. Ein zweiter Stuhl wird in die Zelle gebracht. Captain Branner begrüßt mich mit Handschlag. Das ist neu. Er bittet mich, Platz zu nehmen, schaltet das Gerät an und das magische Auge leuchtet grün. Captain Branner redet zu mir, als die Spulen sich drehen.
»Dieses Aufnahmegerät haben wir in der Herstellerfirma beschlagnahmt.« Auf dem Gerät steht AEG. »Unsere Geräte funktionieren zwar einfacher, laufen aber nur mit 110 Volt. Ich habe den Auftrag, Ihre Aussagen aufzunehmen, um alle Missverständnisse auszuschließen.« Er stoppt das Band. »Außerdem hat mir wirklich kein Aas geglaubt, als ich Ihre Geschichtchen wiedergegeben habe. Mein Lieutenant Colonel hält Sie für einen möglicherweise gefährlichen Spion und schlägt vor, Sie vorsichtshalber erschießen zu lassen. Ich bin in Ihrem Fall, wie bereits gesagt, noch ein wenig ambivalent und möchte diese Entscheidung etwas hinauszögern.« Er schaltet erneut ein, die Teller drehen sich. »Heute ist der erste Jahrestag des D-Day, Mittwoch der 6. Juni 1945, elf Uhr vormittags. Ich rekapituliere die Aussage des Angeklagten Jakob Löwenthal vom 14. Mai 1945. Wenn etwas nicht stimmt, bitte ich Sie, mich zu unterbrechen.«
Da ist nichts zu unterbrechen, der Mann hat ein tadelloses Gedächtnis.
»Welche Bewandtnis hat es denn nun mit diesem Ausweis?«
»Das ist ganz simpel. Als ich mit meiner Frau und deren Tante vor der Gestapo aus Hof fliehen musste, hat die Tante mir diesen Ausweis gegeben, weil mir das Bild ähnlich ist. Wir hatten ja mit Kontrollen rechnen müssen.«
Er schaut die Kennkarte an, vergleicht das Bild mit meinem Gesicht und kratzt mit Daumen und Zeigefinger die Nasenspitze.
»Nun ja, etwas Ähnlichkeit ist schon vorhanden, obwohl das Foto halb verbrannt ist. Aber mich würde viel mehr interessieren, wieso Ihnen die Tante Ihrer Frau diesen Pass so einfach geben konnte?«
Nun strahle ich. »Weil sie die Frau des Ortsgruppenleiters Joseph Schreiner ist oder vielmehr war, sie hat sich nämlich erschossen, als ... oh verdammt!«
»Ja, Herr Lange-Anders-Löwenthal?«
»Fannys Waffe steckt ja noch im Koffer.« Schweiß rinnt mir schlagartig den Rücken hinab.
»Ach so, die Waffe gehört Ihnen selbstverständlich auch nicht, kapiere. Wessen ... ähm ... Fannys?«
»Fanny Schreiner, die Tante meiner Frau.«
»Frau Ortsgruppenleiterin.«
»Ja. Wenn Sie so wollen.«
Mister Branner schaltet das Gerät aus, verzieht das Gesicht, wirft die Kennkarte des Karl-Heinz Lange neben das Gerät und redet, während er durch meine Zelle wandert. »Jude ohne Identitätsnachweis, dafür falsche Pässe, wertvollste Kunstwerke, Gestapo, Ortsgruppenleiter und so weiter. Und vor allen Dingen eine funktionierende Schusswaffe, aus der bereits gefeuert worden ist. Ach ja, fünfzig US-Dollar haben wir ebenfalls im Koffer gefunden. Das ist alles ein bisschen viel, nicht wahr? Den bewaffneten Angriff auf unsere Truppen habe ich außen vor gelassen.«
»Ich habe nicht geschossen.«
»Ich bin sogar geneigt, Ihnen zu glauben. Mein Lieutenant Colonel nicht. Für den sind Sie ein toter Mann.«
»Na prima!«, brülle ich. »Nicht nur die Nazis bringen unschuldige Juden um, sondern ihr Amis auch!«
Branner legt einen Zeigefinger an den Mund. »Das wäre eine Möglichkeit. Passen Sie auf, ich schalte das Gerät wieder ein, Sie schreien den Satz gleich noch mal und dann den mit dem Rechtsstaat von neulich. Meinen Sie, das kriegen Sie hin?«
Was soll man da anderes machen als mit den Schultern zucken. Er stellt das Gerät an.
Ich schreie ins Mikrofon, für mich selbst wirkt es wenig beeindruckend. Ich erzähle nun alles, ohne die geringste Kleinigkeit wegzulassen. Dass ich beschnitten bin, ist kein Beweis, dass ich Jude bin, sagt Captain Branner, weil es in manchen Ländern aus hygienischen Gründen eben üblich ist, beschnitten zu sein. Er sei sogar mit einem Lieutenant Colonel befreundet, der gleichfalls ...
Drei Wochen lang höre ich nichts von Captain Branner. Erst am Freitag, den 29. Juni betritt er meine Zelle. Die Lippen geschürzt, die Hände wie zum Beten gefaltet, klopft er die Daumen aneinander. Dann schüttelt er den Kopf. »Ich habe mir den Mund fusselig geredet, Herr Löwenthal. Habe mir gehörigen Ärger eingehandelt, weil ich mit Ihnen nicht vorankomme. Es gibt in Ihrem Fall zu viele Ungereimtheiten.«
»Ja.« Mein Blick bleibt am Boden haften.
»Ihre Erklärungen in allen Ehren, aber die sind nicht stichhaltig. Nicht überzeugend genug. Wenn man wenigstens Ihre Identität beweisen könnte. Ich habe mich mehrfach mit Dresden in Verbindung gesetzt.«
»Ja?«
Er winkt ab. »Da sitzen jetzt die Russen. Von der ursprünglichen deutschen Verwaltung ist kein Stäubchen mehr zu finden, ebenso wenig Papiere, Unterlagen, irgendetwas. Und den Russen ist ein einzelner Jude, entschuldigen Sie, scheißegal. Stalin hat mindestens ebenso viele Juden umbringen oder vertreiben lassen wie Hitler. Bloß in Russland gibt es keine bürokratischen Aufzeichnungen darüber wie in Deutschland.«
Ich schaue ihn an. »Weswegen haben Sie sich solche Mühe mit mir gemacht?«
»Weil ich Ihnen die Geschichte glaube. So dämlich lügt kein Profi, Entschuldigung. Zugegeben, anfangs habe ich Ihre Storys im Kasino wiedergegeben. Wir haben uns köstlich amüsiert. Vielleicht gefällt es Ihnen zu erfahren, dass Sie und Ihre - wie nannten Sie es mal - Odyssee in den Kasinos weiterhin kursieren. Selbst bei den französischen Kameraden.«
»Nein, gefällt mir nicht. Ich danke Ihnen, dass Sie mir wenigstens glauben, Mister Branner. Apropos französische Kameraden. Haben Sie gute Kontakte zu den Franzosen, Mister Branner?«
»Ja durchaus. Warum?«
»Weil einer meiner Schüler aus Dresden geflohen ist. Der wollte unbedingt zu den Franzosen. Nach Antibes, dort unten an der Côte d’Azur. Antibes ist nicht groß, der müsste doch zu finden sein. Bruno könnte mich identifizieren, meinen Sie, das könnte mir helfen?«
»Of course, you’ll be out of jam! Selbstverständlich. Und das erzählen Sie mir erst jetzt? Bruno? Wie heißt der Mann weiter?«
»Bruno Bierlos!«
»Das hätte Ihnen ein wenig früher einfallen können.« Er schlägt die rechte Faust in die linke Handfläche. »Sogar bei der jüdischen Glaubensgemeinschaft in New York habe ich nachgefragt. Man kennt Sie dort nicht. Ist noch nicht mal interessiert.«
»Das ist klar. Ich bin Halbjude und nicht orthodox. Deswegen konnte ich neulich die Schmalzbrote essen. Ich bin ... ach, egal. Kann man halt nichts machen, normal wäre ich ohnehin längst tot. Glauben Sie, man wird mich zum Tode verurteilen?«
»Im Augenblick fürchte ich, ja. Aber zunächst versuche ich, diesen Bruno Bierlos aufzutreiben. Wie heißt der Ort?«
»Antibes. An der ...«
»Das habe ich verstanden.«
»Scheibenkleister!« Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken.
»Wie bitte?«
»Na, der Bruno Bierlos heißt in Frankreich ja gar nicht Bruno Bierlos!«
»Geht das schon wieder los?«
»Nein, der bekäme Papiere vom französischen Widerstand, hat er erzählt. Dann heißt er ... dann heißt er? Vergessen. Irgendein Schnaps. Mensch, Branner, was gibt es für Schnäpse?«
»Die gibt es haufenweise. Ich kann ja nicht nach einem Mann suchen, der heißt wie irgendein Schnaps. Das wird eine Sisyphusarbeit!«
»Ich will nicht totgeschossen werden.«
»Das kann ich gut verstehen, andererseits haben wir nur sehr wenig Zeit. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass an Ihnen ein Exempel statuiert werden soll, offiziell natürlich. Insgeheim denke ich, dass jemand scharf ist auf den Inhalt Ihres Koffers. Die Gemälde sind unerhört wertvoll. Ich denke, darum geht es hauptsächlich. Kann nur niemand beweisen. Schauen Sie mich nicht so an, Herr Löwenthal. Auch in unserer Armee gibt es Schweine.«
»Schweine gibt es in jeder Armee. Vielleicht fällt mir ja der Name ein. Halt ich weiß - Napoleon! Nein, das ist ja der aus dem Koffer. Ich werde Tag und Nacht nachdenken und mich zu erinnern versuchen. Falls es nicht klappt, würden Sie mir dann einen Gefallen tun, Mister Branner?«
»Wenn ich kann, Herr Doktor Löwenthal.«
Schöner Name, stimmt eigentlich. War mir bisher noch nie aufgefallen. »Ich würde gern einen Abschiedsbrief schreiben. Für meine Frau.«
»Ich denke, Sie wissen nicht, wo die ist?«
»Das stimmt. Aber Carola weiß, dass ich in München bin. Oder zumindest nach München wollte. Irgendwann wird sie sicherlich hier eintreffen und sich nach mir erkundigen. Vielleicht können Sie es einrichten, dass sie meinen Brief bekommt?«
20.
Nun ist also Freitag, der 13. Juli 1945. Die Sonne steht hoch am Himmel. Ein wundervoller Freitag wird das heute. Kann man ja wohl erwarten für seinen letzten Tag des Lebens. Morgen früh um sechs Uhr ist nämlich Schluss damit. Zum Glück werde ich erschossen und nicht aufgehängt. Spürt man kaum etwas, hat mir Captain Branner gerade gesagt. Komisch, woher will der das denn wissen? Branner war sogar ein wenig enttäuscht, weil ich nicht mit dem Pfaffen reden wollte, der bei der Urteilsübergabe neben ihm stand, und erst recht nicht beichten. Branner hat anscheinend nicht begriffen, dass ich wirklich und wahrhaftig Jude bin.
»Sie werden morgen früh nach Sonnenaufgang standrechtlich erschossen«, hat mir Captain Branner seufzend erklärt. »Rechtsmittel sind ausgeschlossen.« Er weist nochmals auf den Geistlichen. »Möchten Sie nicht doch vorher ...?«
»Ach lassen Sie nur«, habe ich geantwortet. »Wenn die Erde mal zur Hölle fährt, gibt’s für Menschen keinen Gebetsausweg. Affen haben es da besser, die beten nicht, die meinen es ehrlich. Na, nichts für ungut, Mister Branner. Besorgen Sie meinen Brief?«
»Das habe ich versprochen, Herr Doktor Löwenthal.« Er hat mir die Hand gedrückt und die Zelle verlassen.
»Tja, der Gerechte muss viel leiden«, hat der Pfaffe gemeint. Ein ganz junger Kerl ist das. Mit ganz traurigen Augen. Als ob der erschossen werden würde und nicht ich. Hätte ihn fragen sollen, ob wir nicht tauschen, schließlich reden die ja ständig vom Paradies. Na egal. Der hat vielleicht gezuckt, als ich aus meiner Zelle in den Gang hinausgerufen habe: »Wenn Ihr mich schon umbringen müsst, als Erfüllungsgehilfen der SS, dann schickt mir wenigstens einen Rabbi!«
Dieser Sommertag ist wirklich ein ganz herrlicher Tag. Der Himmel sieht, jedenfalls soweit ich ihn sehen kann, wolkenlos aus. Na, wär ja auch noch schöner, im Regen erschossen zu werden. Ich stehe stundenlang an dem vergitterten Fenster, das hoch oben in der Zelle eingelassen ist und starre den Sommerhimmel an, der langsam zu dämmern beginnt. Mein letzter Sabbat. Ich denke an die vielen zurück, die ich bereits erlebt habe.
Hinter mir rappelt jemand an der Tür. Ob es jetzt schon losgeht? Unsinn, Jakob, das wird das Nachtessen sein. Richtig. Und eine Kanne Tee dazu.
Ich schlinge alles bis auf den letzten Rest in mich hinein und stehe dann gerade wieder ein paar Minuten unter dem Fenster, als die Tür erneut geöffnet wird. Ich dreh mich gar nicht erst um. Ich will das restliche Sonnenlicht sehen. Jemand räuspert sich hinter mir. »Herr Doktor Löwenthal?«
»Was?«
»Ich bin Kellner in einer der Kantinen der französischen Armee.«
»Wie schön für Sie.« Du kannst mich mal, denke ich. Von einem dämlichen Tablettjongleur lass ich mich nicht vom letzten Sommerhimmel meines Lebens ablenken.
»Man erzählt sich mancherlei drollige Dinge über Sie.«
»Na, da können wir ja einen drauf trinken, was?« Ich werde mich ums Verrecken nicht umdrehen. Die Stimme kommt mir irgendwie bekannt vor, ob das Major Branner ist, der mir den Schierlingsbecher reicht? Nicht ablenken lassen, Jakob, pfeif auf die Stimme. Wahrscheinlich gibt’s die gar nicht wirklich, sondern ist nichts weiter als eine Ausgeburt meines Irrsinns.
»Ja, das sollten wir tun«, beharrt die Stimme. »Allerdings kann ich im Augenblick keinen 37er Johannisberger mehr auftreiben.« Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Unverschämtheit von dem Scheißkellner denke ich und schreie ihm ins Gesicht: »Pfoten weg! Sie können abräumen!«
Wieso grinst mich jetzt Bruno Bierlos an?
»Gerne, Jakob«, sagt eine Frauenstimme hinter uns. Das gibt’s doch nicht! Ich schaue abrupt über die Schulter. »Carola?!«
EPILOG
Carola war bereits am 30. Mai, einem Mittwoch in München angekommen. Auch ihre Reise hatte einen kuriosen Verlauf genommen. Züge fuhren nur recht selten und wenn, dann nur Teilstrecken über sonderbarste Umwege. Um nach München zu gelangen, musste sie in vielen kleinen Strecken fast bis nach Stuttgart fahren, um von dort aus in ebenso zahlreichen kleinen Teilstrecken über Augsburg nach München zu gelangen. In München fand sie natürlich kein Quartier. Viel zu viele obdachlose Menschen suchten in der Stadt Zuflucht. Keller waren komplett belegt. Aus Trümmern und Mauerresten hatten Menschen sich Unterschlupfgelegenheiten gebastelt. Nächtelang hatte Carola auf einer Bank der Theresienwiese unter freiem Himmel geschlafen. Da sie sich auf ihrer Reise mit einer anderen Frau angefreundet hatte, konnte sie schlafen, denn die beiden Frauen gaben aufeinander Acht, genauso wie Lutz und ich. Abwechselnd schlief die eine Frau auf der Bank und die andere wachte. Täglich ging Carola zum Marienplatz und suchte nach dem Zettel, den sie dort neben zahlreichen Zetteln von anderen Leuten für mich angeheftet hatte, ob nicht eine Meldung von mir da wäre. Überall fragte sie wildfremde Menschen nach mir. Niemand konnte irgendeinen Hinweis geben. Bei der alliierten Verwaltung erkundigte sich Carola, aber die Leute dort hatten mehr zu tun, als sie schaffen konnten.
Allerdings erhielt sie dort die Stelle einer Spülhilfe vermittelt. In einem nahezu unversehrten Hotel, in dem jetzt einige hochrangige US-Offiziere logierten. Sie bekam kein Geld für die Arbeit, dafür endlich ein Bett in einer Kammer mit vier anderen Spül- und Putzhelferinnen und täglich mehr als ausreichend zu essen und durfte baden, so oft sie wollte. Die Amis badeten wohl selbst oft und gern.
Bewacht wurde das Hotel von zahlreichen US-Soldaten. Einer von ihnen fuhr mit ihr einmal in die Schwaiger Straße. Von dem Haus, in dem die Familie Anders wohnen sollte, war nichts mehr vorhanden.
Auf dem Marienplatz war von mir keine Spur zu finden. Carola befürchtete schon das Schlimmste.
Für das Wochenende vom 14. und 15. Juli war im Hotel ein Galaabend für die Offiziere geplant, deren Ehefrauen dann eintreffen sollten. Édith Piaf sollte singen und ein französischer sowie ein italienischer Koch hatten für das leibliche Wohl zu sorgen. Als Barmixer hatte man einen französischen Experten verpflichtet.
Die Köche trafen bereits am Dienstag, den 10. Juli im Hotel ein. Sie mussten sich vorbereiten. Der Experte für Drinks erschien erst am Freitagabend.
Er baute gerade seine Batterie Flaschen in der Bar auf, als Carola ein Tablett mit kristallenen Gläsern in den Barraum trug. Sie erkannte den Mixer und ließ vor Schreck das Tablett mit den schönen Gläsern fallen. »Bruno! Bruno Bierlos!«
»Frau Löwenthal! Da haut es einen doch lang hin. Lassen Sie mal ruhig die Gläser, die nehme ich auf meine Kappe. Ich habe wegen meinen Drinks Narrenfreiheit. Was tun Sie denn in München? Was macht Ihr Mann?«
»Ich suche hier nach ihm.«
»Ja, wieso denn?«
Carola erzählte ihm, dass ich nicht aufzuspüren sei.
»Wenn er in München ist, wissen die Amis auch, wo. Und wenn er nicht da sein sollte, müssen wir den Weg, den er genommen hat, einfach rekonstruieren. Ich habe ein paar mir sehr ergebene Freunde beim militärischen Geheimdienst. Die Jungs saufen so gern, verzeihen Sie, Frau Löwenthal. Die sollen Ihren Mann suchen. Mit ihrem behördlichen Apparat ist das ein Klacks. Ich will mal schnell telefonieren, warten Sie bitte eine Sekunde, Frau Löwenthal.«
Nach wenigen Minuten erschien Bruno. Frau Löwenthal hatte inzwischen die Scherben beseitigt. Ängstlich schaute sie Bruno Bierlos an. »Und?«
»Wir müssen zur Administration. Irgendwie liegt dichter Nebel über dem Namen Doktor Jakob Löwenthal, obwohl er bekannt zu sein scheint. Mysteriöse Sache. Keiner will das Maul aufmachen. Kommen Sie, gnädige Frau. Wir werden das schon herausfinden. Fahren wir eben hin.«
»Fahren?«
»Klar«, feixte Bruno, »als unübertroffener Barmixer der ›Grande Armée‹ verfüge ich selbstverständlich über ein eigenes Fahrzeug - wenn die hohen Herren Durst haben, möchten sie schließlich nicht lange auf mich warten. Na los, nichts wie hin, zur US-Administration.«
Der GI in der Telefonzentrale dort hatte sie an einen gewissen Captain Branner verwiesen. Der war allerdings bereits ins Wochenende gestartet. Er wohnte in einer beschlagnahmten Bonzenvilla am Starnberger See. Die Haushälterin der Villa sagte am Telefon, der Herr Captain Branner sei unten im Schuppen, um irgendetwas am Boot zu reparieren und dabei wolle er auf gar keinen Fall gestört werden.
Die Adresse des Captains könne man nicht so einfach herausgeben, sagte der GI in der Telefonzentrale der Administration auf Brunos energische Nachfrage. No can do!
Bruno hatte daraufhin gebeten, selbst einmal telefonieren zu dürfen. Dem GI wurde die Aufdringlichkeit des französischen Kameraden mit dem akzentfreien Deutsch langsam zu bunt. No can do!!! Nichts zu machen. Ein US-Telefon dürfe nur auf ausdrücklichen Befehl des verantwortlichen Vorgesetzten von Nichtamerikanern benutzt werden. Und der sei ebenfalls im Weekend! Nicht einmal Carolas Charme vermochte den sturen GI umzustimmen.
Bruno und Carola fuhren zurück ins Hotel. Dort durfte Bruno ohne jegliche Einschränkung geradezu in die ganze Welt (amerikanischer Ansicht) telefonieren. Seine Drinks mussten wirklich etwas ganz Besonderes sein, denn im Handumdrehen hatte er erreicht, dass Brigadier Webster höchstpersönlich in Captain Branners Villa angerufen hatte und dringend darauf bestand, dass der Captain gefälligst ans Telefon zu gehen hätte!
Also sausten Bruno und Carola wieder in die Administratur. Der GI am Telefon hatte sofort stramme Haltung angenommen, als Carola und Bruno erschienen. Der muss ganz schön zusammengestaucht worden sein, hatte Bruno gedacht. Der zitterte ja geradezu.
Die Haushälterin in der Villa hatte derweil ihrem Herrn mitgeteilt, dass der Herr Brigadier Webster darauf bestünde, dass der Herr Captain gefälligst ... Der ließ seinen Unmut nun seinerseits an der ängstlichen Frau aus. Wie es so geht im menschlichen Leben.
Als er dann mit Bruno telefonierte und erfuhr, dass es sich bei dem um einen einfachen französischen Barmixer ohne hochrangigen Dienstgrad handelte, wäre der Captain beinahe an seiner Wut erstickt - bis der Name Löwenthal fiel. Dann hatte der Captain nach wenigen erklärenden Sätzen Carola und Bruno in das Gefängnis bestellt, in dem ich auf die Hinrichtung wartete.
Es beginnt bereits zu dämmern, als ich Bruno anschreie: »Pfoten weg! Sie können abräumen!« Und Carola in der Zellentür hinter mir steht.
»Carola!«
Bevor ich weiß, was mir geschieht, halte ich sie im Arm und höre nur ihr schluchzendes »Jankele, Jankele!«
Über ihre Schulter schaue ich Bruno ins grinsende Gesicht. Neben ihm steht Mister Branner, der sehr nachdenklich wirkt.
Von Carolas Tränen ist mein Gesicht ganz feucht, als sie sich von mir löst. Bruno schlägt mir kräftig auf die Schulter, er schüttelt still den Kopf.
Mister Branner weist mit einer Hand aus der Zelle. »Kommen Sie, Herr Doktor Löwenthal.«
»Zum Erschießen?«
»No, Sir. Ich habe gerade mit Washington telefoniert, no execution.«
»Na, das freut mich aber, was haben Sie...?«
»Wenn Sie wüssten«, sagt Captain Branner, während er uns in seinem Büro je ein Glas Whiskey eingießt. »Wenn Sie wüssten, was ich mit meiner Haushälterin geschimpft habe, als Webster mich aus dem Weekend gerissen hatte. Wollen Sie Eis?«
»Danke.«
»Pur«, winkt Bruno ab.
»Webster hat keine sichere Leitung und er befahl mir, mich mit General Loosey in Verbindung zu setzen. Weil wir in Ihrem Fall Kompetenzen von ganz oben haben wollten. Es ist nicht ganz einfach, eine festgesetzte Exekution zu verhindern, wissen Sie?«
»Nein.«
»Kann ich mir denken. Also rief ich Washington an. ›Urgend state Washington!‹ Mir lief die Zeit weg. Die Vermittlung teilte mir mit, dass General Eisenhower zum Golfspielen gefahren war. Bei uns ist das Weekend heilig. Auch nach diesem Krieg. Blieb mir nur, es in Washington selbst zu versuchen. Ich verlangte den Präsidenten. Es meldete sich der Mister Secretary of State. Ihm erklärte ich, was hier in Ihrer Sache vor sich ging und erzählte von den Kunstwerken und dem Koffer. Das interessierte ihn brennend. Er liebt Kunst, aber wiegelte ab und versprach, im Headquarter in Munic anzurufen und mit meinem Lieutenant Colonel die Sache zu regeln. ›No execution‹. That’s it.«
»Danke, Mister Branner.« Mir ist richtig schwindelig geworden. »Was geschieht nun mit dem Koffer?«
»Hat Ihre Frau Sie informiert, dass es das Haus in der Schwaiger Straße nicht mehr gibt?«
»Ja.«
Er massiert mit Daumen und Mittelfinger die Augenbrauen. »Die Leute, denen Sie den Koffer bringen sollten, sind leider nicht auffindbar. Der Koffer gehört Ihnen nicht, Herr Doktor Löwenthal. Uns gehört er ebenso wenig. Und ... ob er dem Mann tatsächlich gehört, der ihn an Sie übergeben hat, ist ungeklärt.«
»Und nun?«
Mister Branner kratzt seinen Handrücken am Kinn, ich höre das Geräusch.
»Wir haben einen Art Collecting Point eingerichtet, wo alle möglichen Kunstwerke gesammelt werden, die von den Nazis gestohlen, erpresst oder sonst wie beiseitegeschafft und versteckt worden sind. Dahin wird auch Ihr Koffer samt Inhalt geliefert. Dort wird man die tatsächlichen Besitzer festzustellen versuchen und ihnen ihr Eigentum übergeben.«
»Und wenn diese Leute tot sind oder verschollen?«
»Dann werden die Werke an Museen oder ähnliche öffentliche kunsthistorische Einrichtungen gehen.«
»Ihr Lieutenant Colonel kann sich die Werte nicht unter den Nagel reißen? Oder sonst wer?«
»No can do. Das ist jetzt eine Sache der US-Administration. Aber Sie können Finderlohn beantragen.«
Drei Augenpaare schauen mich erwartungsvoll an, verschwimmen vor meinen Augen. Die letzten Wochen laufen in meiner Vorstellung wie ein Film ab. Ohne den Auftrag, den Koffer zu retten, wäre ich längst eines der vielen Opfer des Naziterrors geworden.
»Nein, danke.« Ich reiche Mister Branner die Hand zum Abschied und nehme Carolas Hand. Am liebsten würde ich hinausschreien: Hurra, wir leben noch! Na, Schwamm drüber.
»Komm, Carola, lass uns noch mal neu anfangen.«
Zur Geschichte
Die Geschichte dieses Buches folgt in großen Zügen den Geschehnissen, denen Dresden und die sich in der Stadt befindlichen Menschen leidvoll ausgesetzt waren. Trotz der historischen Wahrheit ist dieses Buch ein Roman. Sollten sich irgendwelche Ähnlichkeiten mit Lebenden oder bereits Verstorbenen konstruieren lassen, wären diese rein zufällig, denn sämtliche in diesem Roman handelnden Personen sind frei erfunden. Die geschichtlichen Daten, Vorfälle und beschriebenen Handlanger des Todes sind leider nicht frei erfunden, sondern haben wirklich so existiert. Lediglich gewisse zeitliche Verschiebungen können sich aus dramaturgischen Notwendigkeiten eingeschlichen haben.
Sicherlich ist in dem Roman recht häufig von Mord und Tod die Rede, aber das wäre nur natürlich, denn in jenen Tagen des nationalidiotischen Regimes waren nahezu alle Menschen in Deutschland überwiegend mit dem Sterben oder dem Ausweichen davor beschäftigt. Es hat mir nicht gefallen, jene Tage derart düster und bedrückend zu beschreiben, doch jede freudige Nuance wäre verlogene Geschichtsklitterung. Freudige, hoffnungsvolle Nuancen hat es nur in einigen wenigen Menschen gegeben - und dies in strengster Heimlichkeit.
Wie ist dieser Roman entstanden?
Im Februar 1990 besuchte ich Dresden. Die Mauer zwischen den beiden Teilen Deutschlands war gerade durch den riskanten Einsatz hoffnungsloser und demzufolge mutiger Bürger der DDR gegen - und nicht etwa durch Politiker - zum Einsturz gebracht worden.
Das Elbflorenz hatte ich mir so nicht vorgestellt. Überall erinnerten Ruinen an die deutscheste aller Götterdämmerungen, umrahmt von fürchterlichen Neubaubetonkästen.
Vor dem alten Schloss blieb ich lange stehen. Ein alter Mann war mir aufgefallen, der links, etwas weiter weg von mir stand und stumm zu Boden blickte. Woran mochte er denken, was träumen? Komischer Kauz, dachte ich und fotografierte ihn. Dann wandte ich mich nach rechts und wanderte die Schlossmauer entlang. Durch das rostige schmiedeeiserne Gitter betrachtete ich das Gebäude und den Garten.
Schließlich tauchte vor mir wieder der alte Mann auf, ich hatte das Schloss anscheinend umrundet. Er schien sich nicht bewegt zu haben. Nun fotografierte ich ihn von dieser Seite aus. Das Klicken des Verschlusses muss er gehört haben, denn er schaute zu mir hin.
»Sind Sie von der Stasi?«, fragte er mich feindselig.
»Um Himmels willen«, erwiderte ich, »wie kommen Sie denn darauf?«
»Na, weil Sie mich knipsen!«
»Entschuldigen Sie bitte vielmals«, lenkte ich ein. Mir war die Sache nun sehr peinlich. »Ich wollte Sie nicht ...«
»Sie sind von drüben?«
»Von drüben? Ach so ja, ich komme aus Westdeutschland.«
»Na, diesen Begriff wird man wohl auch lange nicht aus den Köpfen kriegen. Warum haben Sie mich fotografiert?«
»Tja, Sie sehen so ... so, wie soll ich mich ausdrücken? Sie wirken so weg von allem. Weit weg.«
»Ja, junger Mann, ich war in Gedanken. Schopenhauer hat mal gesagt ›Erst wenn wir etwas verloren haben, erkennen wir den wirklichen Wert!‹« Er blickte mich an, als würde er tief in mich hineinsehen. Hm. »Wissen Sie, ich habe hier mal gewohnt.«
»Hier?« Wir standen auf einer schmalen gepflasterten Straße. Wo will der denn hier gewohnt haben? Hier gibt es doch nichts, überlegte ich. Er schaute erneut zu Boden. »Ja«, bestätigte er, »genau hier! Nur etwas höher. Hm. Direkt über unsern Köpfen gab es einen wunderschönen Erker, in dem ich täglich saß.«
Ich wollte lieber weggehen, weiß der Henker, was das für ein Typ sein mochte, der Alte.
»Wissen Sie, junger Mann, welchen Tag wir heute haben?«
Klar, dachte ich, muss ich ja nur zweimal auf das Knöpfchen meiner Armbanduhr drücken. »Tuesd ... Dienstag. Februar, den 13. Es ist genau 4 Uhr 22 p.m. ... ähm, nachmittags.«
»Ja. Ja, Dienstag der 13. Februar.« Er schaute mich an und ich wusste nicht so genau, ob er lächelte oder böse war. Beides irgendwie. »Was sagt Ihnen Dienstag, der 13.?«, erkundigte er sich.
Nichts, dachte ich, gar nichts. »Wie meinen Sie das?«, fragte ich. Will der wissen, ob ich abergläubisch bin? Hätte ich den Alten bloß nicht angesprochen. Wenn ich wieder zu Hause bin, werfe ich den Fotoapparat weg und kaufe mir einen, der leise knipst!
»Ich langweile Sie, nicht wahr?«
Ja!, dachte ich. »Nein«, sagte ich. Wenn der nur nicht so interessant melancholische Augen hätte. Jahrtausende Leid und Kummer standen darin. Mitleid, Güte und gleichzeitig Niedergeschlagenheit.
»Heute vor fünfundvierzig Jahren war ich zum letzten Mal an diesem Ort. Allerdings in der Nacht, also eigentlich morgen vor fünfundvierzig Jahren, na, egal. Wie alt sind Sie?«
»Ich?«
»Ja.«
»Vierunddreißig. Ich werde dieses Jahr fünfunddreißig, wieso?«
»Sie Glücklicher, da haben Sie wenigstens keinen Krieg miterlebt.«
»Na, ja. Ein paar Hundert schon, aber die waren immer weit weg. Ich persönlich habe keinen mitgemacht, und ich lege auch keinen Wert darauf! Das können Sie mir glauben.«
»Würden Sie für Ihr Vaterland in den Krieg ziehen?«
»Nee, danke! Jeglicher Nationalismus ekelt mich an und Krieg ist wirklich nur was für die paar Figuren, die prima daran verdienen! Wenn nicht einige wenige daran verdienen könnten, gäbe es überhaupt gar keine Kriege. Dann wäre der Quatsch absolut sinnlos. Ich finde es ohnehin schlimm genug, dass andauernd irgendwo Nationalhymnen gespielt und Fahnen geschwenkt werden. Für mich ist das bereits Krieg! Beim Sport zum Beispiel, Fußball, Olympia, was weiß ich!«
»Sie freuen sich nicht, wenn Deutschland gewinnt?«
»Was geht mich denn das an? Bloß weil irgendein Mensch einen Ball in ein Tor schießt oder wirft, oder mit noch mehr Tempo seinen hohlen Kopf riskiert, oder irgendeinen anderen härter kaputtboxt, gewinnt doch nicht das ganze Land?! Dies ist ja auch eine Art Krieg - nur weil die Sportindustrie Geld damit verdient. Und wenn dazu haufenweise Kleinstbürger vorm Fernseher oder sonst wo grölen und sich allen anderen überlegen fühlen, kann ich das nicht lustig finden. Dann werden Ausländer oder Nichtfans verprügelt, Scheiben eingeschlagen und Parolen gegrölt! Feine Nation! Alles Übermenschen!«
»Sie meinen, Ausländerfeindlichkeit kommt im Sport vor?«
»Klar! Gehen Sie mal in ein Fußballstadion, da ist jeder ein übler Feind, der nur eine klitzekleine Farbnuance unterschiedlich ist. Ob nun Haut oder Trikot, das ist egal.«
»Nun ja, Ausländer sind hier wirklich nicht beliebt.«
»Eben! Ausländer bin ich selbst - nahezu überall auf der Welt. Bloß nicht in diesem Land der Glatzen und Springerstiefel! Haben Sie vergessen, wie die braunen Horden - und nicht nur im Osten - auf alles prügeln, was dunklere Haut hat? Fidschis klatschen nennen die das - und die Bullen schauen amüsiert zu! Die deutsche Polizei ist in manchen Gegenden schon wieder sehr national!« Ruhig, mein Junge, schimpfte ich mit mir. Ganz ruhig. Immer, wenn das Thema national berührt wird, raste ich aus. Dagegen kann ich nichts machen. »Verzeihen Sie, an diesem Punkt geht mir stets der Gaul durch.«
»Jetzt erzählen Sie mir nur noch, dass Sie unter den Nazis gelitten hätten.«
»Unter den nicht, unter dem ja. Mein Vater ist bekennender Nazi - ein Vollidiot! Als ich den zuletzt sah, hat er mir zu erklären versucht, dass Willy Brandt ein Kriegsverbrecher sei - nicht Adolf Hitler! Und es seien überhaupt gar keine Juden umgebracht worden - und viel zu wenige dazu! Außerdem wären die das nämlich sowieso selbst schuld gewesen! Und nun kommen Sie mir mit Vaterland, na danke!«
»Nun beruhigen Sie sich mal.«
»Entschuldigung.«
Er schaute mich durchdringend an. Seine Blicke kribbelten unter meiner Haut. »Was machen Sie beruflich, junger Mann?«
»Hm. Weswegen?«
»Ich würde Ihnen gerne eine Geschichte erzählen.«
»Genau das tue ich.«
»Was tun Sie?«
»Ich erzähle Geschichten. Ich reise ein bisschen in der Welt herum, und da ich eine Menge Leute kenne, die gerne Partys geben und stets jemanden suchen, der die Gäste mit Geschichten unterhält, erzähle ich eben solche.«
»Kann man damit Geld verdienen?«
»Etwas, ja. Sind zwar immer nur wenige, die zuhören, aber es läppert sich.«
»Warum schreiben Sie Ihre Geschichten nicht auf?«
»Aufschreiben?«
»Ja, Bücher machen.«
»Hören Sie, ich hatte auf dem Gymnasium in Deutsch bloß ‘ne Vier. Meine Aufsätze haben die Pauker mir um die Ohren gehauen - schon allein wegen der Kommata! Zum Text stand unter den Arbeiten meist: Die Fantasie ist wohl mit dir durchgegangen! Ich schreibe kein Buch!«
»Na, dann eben nicht, liebe Tante! Lesen Sie wenigstens ab und zu welche?«
»Logisch! Ich hab ein paar Hundert in meinem Haus in den Regalen.«
»Das heißt ja nix. Haben andere auch. Haben Sie zumindest ein paar davon gelesen?«
»Klar, alle. Wozu soll ich mir ein Buch ins Regal stellen, wenn ich es nicht lesen will? Ist doch albern.«
»Lieblingsautoren?«
»Ist das jetzt ein Quiz?«
»Bevor ich Ihnen meine Geschichte erzähle, möchte ich nur wissen, wen Sie gerne lesen? Ist das so dumm?«
»Nein, na, dann bitte schön. Ich lese gerne die Geschichten von Leuten, die die braune Pest selbst erlebt haben und mir davon erzählen; Remarque, Kästner, Simmel, Böll.«
»Schiller? Goethe?«
Mir platzte ein lauter Lacher raus. »Na ja, Goethe. Hm, ich habe mir mal ein Reclam-Heftchen gekauft. Den Götz. Nicht wegen Goethe, ich wollte nur mal nachlesen, ob der das auch wirklich geschrieben hat - Sie wissen schon: Dritter Aufzug; Jagsthausen; Götz, Elisabeth, Maria, Sickingen ... er kann mich - - - (schmeißt das Fenster zu). Ja, Pustekuchen, bloß drei dusselige Gedankenstriche. Na ja. Wo war ich? Ach ja, so viel zum Herrn von und zu - ich bin da lieber auf und davon! Nein, so meine ich das nicht, ich bleibe. Was glauben Sie, wie dankbar ich bin, wenn mir jemand eine Geschichte zum Besten gibt, selbst fällt mir manchmal so wenig ein. Bitte, ich höre zu!«
Der alte Mann mit dauernd verrutschendem Hut auf dem schmalen Kopf begann zu erzählen. Wir saßen auf der Umrandungsmauer des alten Residenzschlosses in Dresden. Der Alte hatte äußerlich eine beeindruckende Ähnlichkeit mit Paul Henckels, dem Schauspieler, der in der Feuerzangenbowle den Lehrer Bömmel gespielt hat. Vielleicht ist dies auch eine falsche Assoziation von mir, aber als ich vor ein paar Jahren einmal Heinz Rühmann am Starnberger See getroffen habe, hat er mir während des Gespräches von diesem Schauspieler und seiner beeindruckenden Ausstrahlung berichtet, und der Alte hier in Dresden kam mir nun irgendwie genauso vor. Nun, ja.
Er erzählte so, dass ich am liebsten gleichzeitig geweint und gelacht hätte, so traurig und komisch zugleich. Nicht trübe, nicht lustig. Ergreifend.
»Hm«, begann er. »In der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 nahmen unter anderem 235 viermotorige Lancaster-Bomber der 5th Group der Royal Air Force Kurs auf die Elbe. Sie sollten zwischen 22:03 und 22:28 ihre tödliche Last über der Stadt Dresden abladen.
Um 21 Uhr 48, zwischen Chemnitz und Leipzig, zog der Pilot, wir wollen ihn James Wood nennen, in einer der Lancasters, jene von den Besatzungen wegen ihrer Zuverlässigkeit sehr beliebten Maschinen, eine Flasche französischen Champagner aus seinem Bord-Case, denn er feierte genau in dieser Minute an jenem 13. Februar seinen 25. Geburtstag. Er reichte die Flasche dem hinter ihm sitzenden Bordingenieur, um die Flasche zu öffnen. Das Geburtstagskind, der Funker und der Bordingenieur tranken direkt aus der Flasche. Der Pilot hatte sich ausgerechnet zu seinem Ehrentag freiwillig zum Einsatz gemeldet, worüber der Bordingenieur immer noch den Kopf schüttelte. ›You’re driving me nuts ...‹, sagte er dem Mann am Knüppel, was so viel bedeutet, wie Du machst mich wahnsinnig. Selbstverständlich redeten die Männer englisch, aber wir wollen sinngemäß übersetzen.
›Du machst mich wahnsinnig, weshalb hast du dich denn ausgerechnet heute freiwillig gemeldet? Wärst besser daheim geblieben und hättest gefeiert!‹
›Ja von wegen, dann wäre ich morgen über Berlin dran gewesen. Lieber Dresden als Berlin, ich habe drei Einsätze auf Berlin überlebt. Die schießen da aus allen Rohren auf uns. Ich mache alles, nur nie wieder Berlin. Beim letzten Mal haben die mir glatt einen Motor und das halbe Leitwerk abgeschossen und der Rumpf sah aus wie ein Schweizer Käse. Die Mühle ist zum Glück brav nach Hause geflattert, ich hatte freilich die Hosen gestrichen voll. Und ich glaube nicht, dass ich ein viertes Mal heil nach Hause komme. Außerdem ist es völlig sinnlos.‹
›Was ist sinnlos?‹
›Weiterhin Berlin zu bombardieren. Oder überhaupt irgendwelche Städte.‹
Der Bordingenieur schlug mit einer Faust auf seinen Oberschenkel. ›Nein, nein, nein! Das ist nicht sinnlos. Erst wenn alle Städte zertrümmert sind, werden die Hunnen endlich aufhören! Und ganz besonders Berlin muss zerstört werden, da sitzt schließlich das Nest der Brut.‹
›Das schon, aber die kriegen wir ja ohnehin nie. Zumindest nicht mit Bomben. Die Hitlers verstecken sich nämlich unter meterdickem Beton. Da geht so ein Wohnblockknacker nie durch. Damit kannst du nur die kleinen Leute treffen und entnerven und setzt dafür deinen Arsch aufs Spiel. Wir können noch so viele Bomben schmeißen, damit verkürzen wir den Krieg nicht um einen einzigen Tag.‹
›Und trotzdem hast du dich freiwillig gemeldet, du Idiot.‹
›Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich bin Flieger und kämpfe in der Luft. Ich habe ja nicht gesagt, dass wir aufhören sollen, gegen diese Pest zu kämpfen, bloß die Bombardiererei nützt nicht viel. Das merkst du doch andersherum genauso.‹
›Wie andersherum?‹
›Na, die neuen Dinger, die die Deutschen herüberschießen. Diese fliegenden Bomben, die man weder sehen noch hören kann. Die sind plötzlich da und wumm!‹
›Du meinst Raketen?‹
›Genau, Raketen. Es macht wumm, irgendetwas ist von dieser zur nächsten Sekunde kaputt, es sterben ein paar Menschen, sonst nützt es den Deutschen gar nichts. Gut, wenn ich in London bin, habe ich auch Angst, wie so viele. Aber deswegen geben wir nicht auf. Nimm nur meine Schwester, zierlich, gerade 19 Jahre alt, arbeitet im Londoner Westend in einer Waffenfabrik. Genau wie wir hat sie jeden Tag Angst. Und früher, als die uns so bombardiert haben wie wir jetzt ihre Städte, hatte meine Schwester bei jedem Angriff der Deutschen große Furcht. Wenn sie dann hinterher aus dem Keller kam, existierte lediglich maßlose Wut und sie meldete sich dann zu Doppelschichten. Sonderschichten und was weiß ich, nur um sich für die maßlose Angst zu revanchieren. Das geht den Leuten, denen wir nun die Häuser zerstören, nicht anders. Die werden genauso wie bei uns sagen, nun erst recht; ob nun Berlin oder London, Coventry oder Dresden. Mit Bomben kriegen wir die Banditen nicht klein.‹
Der Funker hatte dem Disput schweigend zugehört. Nun klopfte er mit dem Stift seinem Piloten auf die Schulter. ›Well, James, ob wir die nun kleinkriegen oder nicht, wir sind auf 12 Grad 51 Minuten und sollten planmäßig 23 Ost-Nord-Ost machen, damit wir nicht schon hier Zunder kriegen. Ob es was nützt oder nicht, die sollen hinten die Zigarren scharf machen, raus damit und dann nichts wie weg, ich möchte wieder nach Hause.‹ Er nahm einen Schluck und reichte die Champagnerflasche dem Geburtstagskind, um den Rest auf die eigene Gesundheit zu trinken. ›For he’s a jolly good fellow, for he’s a jolly good fellow ...‹, erklang zweistimmig in der Kanzel. Noch war Dresden nur ein umfassend verdunkelter Punkt am Horizont. Fünfzehn Minuten später, als die Maschinen der 5th Group den Stadtkern Dresdens erreicht hatten, ohne durch nennenswertes Flakfeuer gestört worden zu sein, lud Captain James Wood - der nicht so hieß - durch einen leichten Druck auf den Knopf zur Klappenöffnung und zum Lösen der Arretierungen die tödliche Last, genannt Zigarren, inkognito über Dresden ab.«
Der alte Mann, der aussah wie Paul Henckels, schaute mich an. »Was hätte James Wood wohl gesagt«, fragte er mich, »wenn er gewusst hätte, dass so viele der Menschen in den verschiedenen Städten, die beinahe täglich bombardiert wurden, ganz still, aber zutiefst um mehr und gewaltigere Bomben beteten, um mehr Zerstörung des Bösen beteten, so auch an jenem 13. Februar, seinem Geburtstag, tief unter ihm. Dass zahlreiche Menschen seinen Bomben ihr Leben verdankten, ihr Überleben vor dem Bösen. Dass so mancher, wie ich, den Alliierten und ihren Bomben die Möglichkeit verdankten, beizeiten auf den Baum zu steigen vor dem Bösen!
Magst du weiter zuhören, mein Junge?«, fragte mich der Alte und wartete meine Antwort nicht mal ab. Er redete mehr zu sich selbst. »Dienstag. Faschingsdienstag, und mir ist überhaupt nicht nach Fasching oder irgendwie nach Frohsinn. Ich bin nämlich Pessimist. Ich befürchte stets das Schlimmste und bin dann froh, wenn das weniger Schlimme eingetreten ist. Das ist heute am Faschingsdienstag nicht anders! ...«
Fortsetzung am kommenden Wochenende!