Erneutes Drama in der Türkei: Kinder-Ehe endet tödlich
- Geschrieben von Portal Editor
Kader bedeutet Schicksal und "Schicksal" war nicht nur ihr Name. Mittlerweile ist die junge Mutter eines bereits 18 Monate alten Kindes, die selbst nur 14 Jahre alt geworden ist, längst begraben. Und wieder ist die Türkei in Aufruhr.
Kader erleidet während der bereits zweiten Schwangerschaft eine Frühgeburt, nur kurze Zeit später ist auch sie selbst tot. Laut Medienberichten ergab die Obduktion, dass 14 Kugeln aus einer Schrotflinte in ihrem Körper gefunden wurden. Es war Selbstmord nach der Fehlgeburt, sagen ihre Schwiegereltern. Depressionen der Kinderbraut?
Natürlich ist es ungesetzlich, Kinder zu verheiraten
Selbst wenn, was in der Türkei noch immer häufig vorkommt, ihre Geburtsurkunde falsche Daten wieder spiegeln, eine Kinderbraut war Kader allemal. Erst im September 2013 waren die Behörden auf die blutjunge Mutter aufmerksam geworden und hatten einen Knochentest angeordnet. Dieser hatte Kader ein mögliches Alter von 16 Jahren bestätigt. Selbst dann wäre ihr Heiratsalter maximal 13 Jahre gewesen. Zweifel am Selbstmord hatten auch die Behörden in der Südostprovinz Siirt und so wurde eine Autopsie veranlasst, durch die man auf die Kugeln stieß.
Jetzt sucht man verzweifelt nach dem Imam, der das damals 11 oder maximal 13-jährige Mädchen verheiratet hat. Natürlich ist es ungesetzlich, Kinder zu verheiraten, keine Frage. Vertreter der so wichtigen staatlichen Religionsbehörde haben sich von der Verheiratung Minderjähriger durch islamische Geistliche schon oftmals distanziert. Imame des Religion Amtes beteiligten sich nicht an solch illegalen Praktiken, erklärte die Gewerkschaft der Mitarbeiter des Religion Amtes. Wie konnte es dann zu einer so genannten „Imam-Hochzeit“, einer religiösen Zeremonie, kommen? Das Mädchen gebar sogar zwei Kinder, von denen eines starb.
Das gesetzliche Heiratsalter in der Türkei beträgt 18 Jahre
Die Beamten sind fieberhaft auf der Suche nach dem Imam, während weitere Details in den Medien zum Leben Kaders auftauchen. „Imam-Hochzeiten“ haben in derTürkei offiziell keine Gültigkeit, werden aber von den beteiligten Familie häufig als bindend angesehen. Das gesetzliche Heiratsalter in der Türkei beträgt 18 Jahre - für beide Geschlechter, mit Genehmigung der Eltern bei Mädchen allerdings bei 17 Jahren. Mit richterlicher Genehmigung kann das Mindestalter in Ausnahmefällen auf 16 Jahre gesenkt werden. Menschenrechtsorganisationen kritisieren seit langem vor allem diesen rechtlichen Graubereich und fordern eine Anhebung des Heiratsalters auf 18 – ohne Ausnahmen. Und Imamen ist es grundsätzlich nicht erlaubt, Kinder zu verheiraten.
Aus dem Amt für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) heißt es zum Thema, dass das Heiraten von Kindern nicht mit dem Islam vereinbar sei. Der Chef der türkischen Religionsbehörde, Mehmet Görmez, hat zwar Eltern, die ihre Töchter an ältere Männer verheiraten, erst jüngst als "rücksichtslos" bezeichnet, dennoch wird das Diyanet regelmäßig kritisiert: es schaue weg oder greife nicht streng genug durch. Auch Premier Recep Tayyip Erdoğan hat im Jahr 2003 eine gerichtliche Sondergenehmigung für seinen Sohn beantragt, damit dieser eine 17-Jährige heiraten durfte. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen werden dennoch jährlich etwa 180.000 Mädchen unter dieser Altersgrenze verheiratet.
Kritisiert wird die Regierung der islamisch-konservativen AKP aber auch hinsichtlich ihrer Mitverantwortung, insbesondere jener Bildungsreform, die gemeinhin „4+4+4“ genannt wird: Der Bildungsweg führt die Schüler je vier Jahre lang durch Volks-, Mittel- und Oberschule, erlaubt aber auch den Unterricht zu Hause und den Abgang von der Schule nach der Heirat. Das öffne Kinderhochzeiten Tür und Tor, so die Kritiker.
Tradierte Geschlechterrollen, Armut, Mangel an Bildung sowie Religiosität sind die vorherrschenden Gründe für eine Kinderheirat, aber auch die diffuse Annahme, dass es den Mädchen dadurch besser gehen kann. Kader wurde etwa durch das „Berdel“-System verheiratet – eine Art Tausch, wobei Sohn und Tochter einer Familie mit Sohn und Tochter der anderen verheiratet werden. Offiziell wird Berdel nicht geduldet.
Auf Druck der Öffentlichkeit hat nun Familienministerin Ayşenur Islam eine eigene Untersuchung zum Fall Kader veranlasst. Die Dimension des Problems muss längst auch der Regierung bekannt sein. Die im Südosten aktive Frauenorganisation Kamer befragte 60.000 Frauen in 23 Provinzen: Ein Drittel waren bei ihrer Hochzeit minderjährig. Ein Tabu ist das Thema in der Türkei nicht mehr, aber die Debatten auf Konferenzen und in den Medien haben bislang wenig genützt.
Gülten Kaya von der Türkischen Anwaltskammer fürchtet sogar eine Zunahme der Fälle. Immer mehr Eltern forderten von den Gerichten, ihre Kinder "älter" zu machen, zitierte Hürriyet die Juristin. Nicht immer wird der Staat überhaupt gefragt. Da viele Kinder Ehen offiziell nicht registriert werden, "sagen die Statistiken nicht die Wahrheit", warnt Erhan Tunç von der Gaziantep-Universität, der herausfand, dass 82 Prozent der Kinderbräute Analphabetinnen sind. 20.000 Familien sind im Jahr 2012 vor Gericht gezogen, um eine Verheiratung ihrer Töchter unter 16 Jahren erwirken zu können.
Würden die Geistlichen bestraft, wäre das Problem bald erledigt, schreibt die Hürriyet. Denn das Gesetz sieht für alle Beteiligten sogar Gefängnisstrafen vor. Doch meist schaut der Staat erst hin, wenn es zu spät ist - wie bei Kader.
Was sind Imam-Ehen
İmam nikâhı oder zu deutsch die Imam-Ehe, ist mittlerweile ein politisches Schlagwort für Islamische Eheschließungen im Gegensatz zur rechtsverbindlichen Zivilehe (türk.: resmî nikah). Atatürk hatte 1926 die Zivilehe eingeführt.
Mit dem türkischen Zivilgesetzbuch (Türk Medenî Kanunu) von 1926, welches das schweizerische Zivilgesetzbuch zum Vorbild hatte, wurde in der Türkei die standesamtliche Trauung eingeführt und die bisher praktizierte islamische Eheschließung zur Nicht Ehe degradiert. Außerdem wird im türkischen Strafgesetzbuch (Artikel 230/5-6 TCK) verboten, eine religiöse Eheschließung ohne vorhergehende standesamtliche Eheschließung zu vollziehen (vgl. Verbot der religiösen Voraustrauung).
Obwohl die staatlich geregelte, monogame Ehe zum "kemalistischen Kernprogramm" gehörte (vgl. Reformschutzgesetze), fand die für die Bevölkerung sehr bürokratische Zivilehe, die medizinische Untersuchungen, teils nicht vorhandene Geburtsurkunden und weitere Formalitäten erforderte, anfangs nur geringe Akzeptanz und Anwendung. Mit Hilfe von Sondergesetzen wurden deshalb von 1935 bis 1950 ca. 7,5 Millionen offiziell nichteheliche Kinder aus nicht rechtsgültigen Imam-Ehen nachträglich legitimiert.
Studien aus den 1990er Jahren zeigen bei der Verbreitung aber deutliche Unterschiede zwischen Großstädten (4 % Imam-Ehe) und Land (21,6 % Imam-Ehe), sowie ein regionales Gefälle zwischen Westtürkei (2,2 % Imam-Ehen, 1993) und östlichen Regionen (22,4 % Imam-Ehen). 2009 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Nicht-Anerkennung und damit Ungleichbehandlung der Imam-Ehe in der Türkei keine Verletzung von Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention darstellt.
Obwohl die Gegenwart eines Imam bei Ehevertragsschluss nach dem islamischen Recht eigentlich nicht verlangt wird, ist in der Türkei traditionell ein Imam zugegen, der die Eröffnungsansprache (türk.: hutbe) und das Trau- oder Schlussgebet (türk.: nikah duası) hält. Zwingend ist die Anwesenheit von (muslimischen) Zeugen, einem Heiratsvormund der Braut (Wali oder Wali mudschbir) und dem Bräutigam, der sich mit dem Wali über Ehevertrag und Morgengabe einig sein muss. Im Koran heißt es in der 4. Sure an-Nisā' („Die Frauen“) in Vers 4: „Und gebt den Frauen ihre Morgengabe als Geschenk (so dass sie frei darüber verfügen können)!“
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