Wie der Islam Jesus Christus wirklich sieht

Wie der Islam Jesus wirklich sieht

Er ist ein Prophet, Maria seine Mutter - und sein Wort das Wort Gottes. Experte Mustafa Al-Slaiman über eine etwas andere Sicht auf den Mann, der vor fast zwei Jahrtausenden auferstanden sein soll: Was Jesus mit Mohammed gemeinsam hat und der Koran über ihn lehrt.

An einem Sommertag des Jahres 1910 führte der 18-jährige Shtaiwi, der zweitälteste Sohn der Witwe Amneh, zur Mittagszeit wie gewohnt die Kälber und Zicklein zum Brunnen, um sie zu tränken. Dorthin kam wie jeden Tag auch Safia unter dem Vorwand, Wasser zu holen. Während sie sich im Schutz der Kälber und Zicklein heimlich küssten, bemerkten sie das Herannahen von Safias Vater, der Shtaiwis Verhalten und das seiner Tochter mit entsetzter Miene und Enttäuschung zur Kenntnis nahm. Shtaiwi schämte sich und blieb zurück am Brunnen, während Safia mit ihrem Vater das unweit aufgeschlagene Zelt aufsuchte, von dem schon am nächsten Morgen keine Spur mehr zu sehen war.
Alljährlich am Karfreitag wird in zahlreichen Städten rund um die Welt der überlieferte Leidensweg Christi nacherzählt. 
Diese Begebenheit trug sich in einem christlich-muslimischen Dorf des nördlichen Jordaniens zu, das damals noch dem Osmanischen Reich angehörte. Shtaiwi war der Sohn muslimischer Eltern, während Safia einer christlichen Familie entstammte, und sie liebten sich. Fragte man Shtaiwi später danach, wie er sich diese Liebe zwischen zwei Religionen vorgestellt hatte, antwortete er mit einer Koransure: "Er ist Allah, der Einzige, Allah, der Unabhängige und von allen Angeflehte. Er zeugt nicht und ward nicht gezeugt; und keiner ist ihm gleich." (Sure 112, 2-5)

Mit diesen Versen, die für Shtaiwi bedeuteten, dass es nur einen Gott gab und die Propheten auch Menschen sind, bezieht der Koran zugleich eindeutig Position im Diskurs über die Natur Jesu, der diesen Zeilen zufolge nicht von Gott gezeugt wurde. Zwar sieht es der Koran nicht als seine Aufgabe an, das im Christentum vorherrschende Bild Jesu zu korrigieren, doch möchte er eine dem Christentum durchaus nicht fremde, ihm sogar nahe Vorstellung neu vermitteln.
Im 6. Jahrhundert n. Chr. und insbesondere um das Jahr 570, in dem Mohammed das Licht der Welt erblickte, kursierten abweichende Auffassungen über die göttliche Natur Jesu. Für die Position des Korans dürfte das Verhältnis Mohammeds zum gelehrten Vetter seiner ersten, 15 Jahre älteren Ehefrau Chadischa entscheidend gewesen sein. Der 25-jährige Mohammed hatte die erfolgreiche Geschäftsfrau Chadischa im Jahr 595 n. Chr. geheiratet und nahm bis zu ihrem Tod keine weiteren Ehefrauen. Chadischas Cousin, Waraqa Ibn Naufal, war mit der christlichen und jüdischen Lehre vertraut: Er dürfte selbst Christ gewesen sein und unterhielt Beziehungen zur Kirche im assyrischen Mossul und im Jemen, die bezüglich der göttlichen Natur Jesu eine andere Position als die inzwischen abgespaltene koptische Kirche in Alexandria oder die römisch-katholische Kirche vertraten.

So hatte Mohammed, der zugleich Mitarbeiter seiner Ehefrau Chadischa war, bereits vor der Offenbarung durch den Erzengel Gabriel die Gelegenheit, von der Zerstrittenheit des Christentums in Großsyrien und Ägypten, insbesondere nach 429 n. Chr., zu erfahren. Eine Ursache des Streits war die in Konstantinopel und Alexandria erbittert geführte Diskussion über die Mutter Jesu, Maria. Nestorius, der 428-431 Patriarch von Konstantinopel war, vertrat die Auffassung von Maria als Christusgebärerin, nicht als Gottesgebärerin. Für diese Ansicht wurde er auf dem Konzil von Ephesus im Jahr 431 seines Amtes enthoben und vier Jahre später von Kaiser Theodosius II. verbannt. Es ist nicht auszuschließen, dass sich Waraqa Ibn Naufal mit dem Streit befasste und diesen auch Mohammed vermittelte.

Der Koran sieht im Islam keine Alternative zum Christentum, sondern vielmehr ein neues Verständnis auf der Basis einer Diskussion, die über 150 Jahre zuvor begonnen hatte. Nach dem Koran ist die Geburt Jesu die Geburt eines Menschen aus einer menschlichen Mutter. Damit will das heilige Buch des Islam keinen Vorwurf gegen das Christentum erheben, sondern vielmehr den Versuch unternehmen, das Christentum und dessen Wahrheitsanspruch vor dem "Missbrauch" zu schützen, der durch diese Diskussion entstand. Dementsprechend heißt es in der Sure 19/17 ff.: "Erzähle, was in diesem Buch über Maria steht, da sie sich zurückzog von den Ihren nach einem gen Osten gewandten Ort, und sich vor ihnen barg im Schleier, da sandten Wir Unseren Geist zu ihr, und er erschien ihr in Gestalt eines vollkommenen Menschen. Sie sprach: ,Ich nehme meine Zuflucht vor dir bei dem Allerbarmer; wenn du Gottesfurcht hast, lass ab von mir.' Er antwortete: ,Ich bin nur ein Gesandter deines Herren, auf dass ich dir einen reinen Sohn beschere.'"

Der Islam sieht in Jesus einen Propheten, dessen Mutter Maria ist und dessen Wort das Wort Gottes und der Wahrheit ist. In Sure 19/35 heißt es: "So ist Jesus, Sohn der Maria - eine Aussage der Wahrheit, über die sie uneins sind." Damit geht der Koran auf die unterschiedlichen Vorstellungen in jener Zeit ein.
Darüber hinaus weicht das Bild Jesu im Islam auch in der Frage der Kreuzigung von der christlichen Vorstellung ab. Der Islam empfindet die Kreuzigung als Erniedrigung des Propheten und Gottes zugleich, denn Gott durfte nach dem islamischen Verständnis nicht zulassen, dass sein Prophet gepeinigt und getötet wird. Während der Islam Maria die Unschuld zuspricht und sie vor den sogenannten Ungläubigen beschützt, betont er auch, dass die Kreuzigung nicht stattgefunden habe.
Sure 4/157-158 besagt: "Und ihres Unglaubens willen und wegen ihrer Rede - einer schweren Verleumdung gegen Maria; und wegen ihrer Rede: ,Wir haben den Messias, Jesus, den Sohn der Maria, den 'Gesandten' Allahs, getötet'; während sie ihn doch weder erschlugen noch den Kreuzestod erleiden ließen, sondern er erschien ihnen nur gleich (einem Gekreuzigten); und jene, die in dieser Sache uneins sind, sind wahrlich im Zweifel darüber; sie haben keine (bestimmte) Kunde davon, sondern folgen bloß einer Vermutung; und sie haben darüber keine Gewissheit. Vielmehr hat ihm Allah einen Ehrenplatz bei sich eingeräumt (...)."
Im koranischen Verständnis gilt Jesus als einer der wichtigsten Propheten, und das Christentum nach wie vor als Gottes Wort. Da der Islam in einer Region auf der Arabischen Halbinsel entstand, die zwischen Byzanz auf der einen Seite und dem zoroastrisch geprägten Persischen Reich auf der anderen lag, aber auch unmittelbar von den monotheistischen jüdischen Gemeinden Medinas umgeben war, wollte er sich selbstverständlich nicht gegen diese Religionen stellen, sondern verstand sich vielmehr als Ergänzung und Vervollständigung derselben.

Das neue Verständnis des Islam ist auch darauf zurückzuführen, dass Mohammed die Araber in Mekka ausgehend von der metaphysischen Vorstellung Gottes zur Staatsgründung hinführen wollte. Eine Staatsgründung erforderte nach Mohammeds Vorstellung die persönliche Führung durch Gottes Wort, die sich zwar von der bisherigen Tradition abhob, jedoch nicht im Widerspruch zu ihr stehen wollte. Der Koran selbst gründet teilweise auf den Evangelien und den apokryphen Schriften; er lehnt Götterfamilien strikt ab und bemüht sich um Abgrenzung von deren Urheber. Damit ist die islamische Religion im Grunde auch als eine Reform zu verstehen.
Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen Bibel und Koran in der Sure 4/172, in der es heißt: "Oh Volk der Schrift, übertreibt nicht in eurem Glauben, und sagt von Allah nichts als die Wahrheit. Der Messias, Jesus, Sohn der Maria, war nur ein Gesandter Allahs und eine frohe Botschaft von Ihm, die er niedersandte zu Maria, und eine Gnade von Ihm. Glaubet also an Allah und seine Gesandten, und sagt nicht: ,Drei'. Lasset ab - ist besser für euch. Allah ist nur ein einiger Gott. Fern ist es von seiner Heiligkeit, dass er einen Sohn haben sollte. Sein ist, was in den Himmeln und was auf Erden ist; und Allah genügt als Beschützer."

Hier wird deutlich, dass der Islam die Anerkennung der Propheten verlangt und deren Botschaften als Gottes Wort versteht.
Der Koran stellt eine Verbindung zum Christentum her und sucht die Bestätigung im Wort Jesu, der die Ankunft des Propheten Mohammeds, auch Ahmad genannt, ankündigt.
Nach der Lehre Christi bildet die Ablehnung von Unterdrückung und Verfolgung die Grundlage für die Bildung der Gemeinde. Wie in keiner anderen Lehre wurde dieses Prinzip von ihrem Stifter Jesus Christus selbst verfolgt: Er bekämpfte Gewalt mit Barmherzigkeit, Fanatismus mit Toleranz, Egoismus mit Nächstenliebe, Unterdrückung mit Opferbereitschaft. Er lehnte Macht und Reichtum ab und betrachtete sich als Prophet der Armen. Im Islam gilt das ebenfalls. Diesen Weg wollte auch Mohammed zur Verbreitung seiner Botschaft gehen.

Erst als ihn die Koreischiten gewaltsam davon abbringen wollten, begann Mohammed über das Märtyrertum nachzudenken und die Gläubigen zur Kampfbereitschaft aufzurufen. Dieser Sinneswandel mag darin begründet gewesen sein, dass die Staatsgründung zu scheitern drohte.

Sowohl Jesus als auch Mohammed versprachen ihren Anhängern die Belohnung Gottes im ewigen Reich der Seelen, der Liebe und der Toleranz.
Das Bild Jesu in der Kirche des kleinen nordjordanischen Dorfes Taibeh, der Heimat des 1984 verstorbenen, 28-fachen Mekkapilgers Shtaiwi, stellt einen Mann mit arabischen Gesichtszügen dar, der wie jeder Bewohner dieses Orts aussah. Shtaiwi, der mit seinen christlichen Nachbarn auch deren Feste feierte, wiederholte stets, Gott ruhe auch im Holz, und meinte im Kreuz.
Als ich selbst ein Schulkind in Taibeh war, stellte sich für mich nie die Frage, wer was denkt. Vielmehr beschäftigte mich, wie Jesus im Libanon, in Syrien, in Jerusalem und in Ägypten aussieht. Mein Freund Akmal, den ich darum beneidete, dass er wegen der zusätzlichen christlichen Feiertage häufiger als ich der Schule fernbleiben durfte, sagte dazu: "Jesus ist in Ägypten Ägypter, in Syrien Syrer und in Jerusalem Palästinenser". Für Safia war Jesus Jordanier. Häufig erinnere ich mich an die traurigen Worte meines Vaters, der noch sechzig Jahre später von seiner großen Liebe zu der Christin Safia erzählt, die er nie wiedersah.

Der Übersetzer und Germanist Mustafa al-Slaiman übersetzt deutsche Literatur ins Arabische und unterrichtet Simultandolmetschen an der Universität Mainz.

Quelle: Süddeutsche

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