Türkei - Motorradreise 2007 von Detlev Simon

Türkei - Motorradreise 2007 von Detlev Simon

Im Frühjahr 2007 erfüllten meine Frau Rendel und ich uns einen Traum – auf zwei Motorrädern durch die Türkei. Zwar war ich 1999 schon einmal auf meiner BMW R 80 GS Basic dort, zu zweit versprach das natürlich noch viel besser zu werden.

Lange Jahre schien das jedoch prinzipiell undenkbar, da Rendel gar keinen Motorradführerschein hatte und auch keine entsprechenden Ambitionen hegte – Sozia: gerne, selber fahren: Nein danke! Ausgerechnet ein Motorradreisebericht über die Türkei gab den Anstoß, dass sie vor drei Jahren, im hohen Alter von 43, den Schein machte. Ihr Kommentar nach Lektüre des Berichts: »So will ich auch mal reisen!« Die Feuertaufe erhielt sie im Frühjahr 2006, als wir, gewissermaßen als Generalprobe für die Türkei, eine Peloponnes-Umrundung machten.

Wir sind Türkei-Fans, waren über zwanzig Mal – meist auf eigene Faust – dort. Das führte dazu, dass Rendel eine Reihe Türkischkurse belegte und sich mittlerweile gut verständigen kann; auch ich beherrsche einige hundert Wörter und Wendungen. (Wer die Türkei wirklich kennen lernen und bereisen möchte und den Aufwand für einen Türkischkurs scheut, dem möchten wir trotzdem ganz dringend raten, sich wenigstens die elementarsten Floskeln anzueignen. Wirklich notwendig brauchen wird man es zwar nie, aber es ist, vor allem abseits der Touristenpfade, immer wieder erstaunlich, was etwa ein freundliches »Merhaba« oder gar ein »İyi akşamlar« bewirken kann. Manche schöne Urlaubserinnerung hat ihren Ursprung in einer derartigen, wenn auch nur rudimentären »Konversation«.)

Wir führten die Reise auf zwei HONDA Africa Twin (XRV 750 – RD07/07a), Baujahr 1994 und 1996, durch. Aus Zeitgründen – wir wollten möglichst viel Zeit in der Türkei zur Verfügung haben – wurde die Hin- und Rückreise mittels Autoreisezügen und Fähre bewerkstelligt. Diese etwas luxuriöse (mache sagen »Weichei-«) Variante schlug mit ca. € 2.500,- zu Buche, dazu etwa € 1.000,- für Benzin. Bei einer evtl. Wiederholung wollen wir dieMotorräder per Spedition nach Thessaloniki bringen lassen und mit einem Billigflug hinterherkommen. Das würde (einem entsprechenden Speditionsangebot folgend) die genannten Kosten für Hin- und Rückreise etwa halbieren, zudem würde sich die An- und Abreisezeit von einer Woche auf gut einen, maximal zwei Tage reduzieren.

Auf unseren Türkeireisen – egal, ob bei Flugreisen oder mit dem Motorrad – nächtigen wir grundsätzlich in kleinen Pensionen oder Hotels, die wir fast immer erst vor Ort buchen; in unserer »Komfortklasse« liegen die Preise dafür meist zwischen € 25,- und 50,- für zwei Personen im Doppelzimmer mit Frühstück. (Im Mai/Juni 2007 entsprach 1 YTL [neue türkische Lira] etwa -,57 €.)
Die Tour im Überblick:

* Autoreisezug (DB) Düsseldorf – Verona
* Motorrad Verona – Ancona
* Fähre (Marmaralines) Ancona – Çeşme
* Türkeitour: Çeşme – Didyma – Pamukkale – Eğirdir – Kappadokien (Uçhisar) – Taşucu – Kizilot (bei Manavgat) –Patara – Selçuk – Bozcaada – Edirne
* Autoreisezug (Optima Tours) Edirne – Villach
* Autoreisezug (DB) Villach – Düsseldorf

Wir starteten am Freitag, den 11. Mai, und kamen am Sonntag, den 10. Juni 2007, zurück, insgesamt fuhren wir in der Türkei ca. 4.500 Kilometer. An den Motorrädern hatten wir, bis auf eine losvibrierte Tachowellen-Überwurfmutter, keinerlei Defekte oder Ausfälle, die Wartungsarbeiten beschränkten sich auf Ölkontrolle (nichts nachgefüllt) und Luftdruckkorrektur.

Die Motorräder waren mit Koffersystemen der tschechischen Firma GRAVE (2 x 45 Liter-Duraluminiumboxen) bzw. mit H&B Junior (2 x 40 Liter) ausgestattet, teilweise mit Innentaschen. Zudem hatte jeder einen Touratech- (Kahedo-) Tankrucksack, meiner noch mit zusätzlichen Seitentaschen, montiert. Außerdem führten wir eine Gepäckrolle mit. Ohne die Motorräder vom Volumen oder vom Gewicht her zu überladen, hätten wir also mindestens noch eine zweite Gepäckrolle sowie einen zweiten Satz Tankrucksack-Seitentaschen mitnehmen können, zu deutsch: Platz satt. (Tatsächlich sollte man mehr als einmal kritisch prüfen, was man mitnehmen will. In unserem Fall haben wir z. B. manche Kleidung unbenutzt wieder mit nach Hause genommen.)

Zur Kommunikation während der Fahrt haben wir uns ein Helmfunk-System zugelegt. Wir wollten ein möglichst simples, zudem »autarkes« System, das keiner weiteren Installation am Fahrzeug bedurfte, und uns somit für das Interphone-Bluetooth™-System entschieden. Das wird direkt am Helm befestigt, ist federleicht und ganz einfach zu bedienen. Bei freier Sicht haben wir damit Reichweiten von bis zu 500 Metern erreicht, eine Strecke, die für die gängigsten Situationen (»Ich muss mal!«, »Gleich rechts ab!« oder »Achtung, Eselskarren!«) voll und ganz ausreicht.

Zur groben Orientierung (ladbare Feindaten für GPS gibt es meines Wissens nach noch nicht) führten wir zwei GPS mit: ein GARMIN™ 60CS und eine altes MAGELLAN™ Meridian, wobei Letzteres nur zur tageweisen Aufzeichnung der jeweiligen Etappe diente. Wichtige Punkte hatte ich mir zu Hause mittels gescannter Karten und eines entsprechenden Programms auf das GARMIN™ geladen. Als »analoges« Kartenmaterial benutzen wir die beiden Türkei-Karten des World Mapping Projects, die vom Verlag Reise-Know-How vertrieben werden und die auch in digitaler, für verschiedene Programme kalibrierter Form erhältlich sind. (Für einige touristische Regionen gibt es mittlerweile auch sehr gutes Material des österreichischen Verlags Freytag & Berndt, zum Teil in 1:150.000.)

Zur Reisevorbereitung dienten eine Unzahl von Reiseführern, Zeitschriften und Internetartikeln, auf der Fahrt selbst führten wir die beiden unübertroffenen Bände Türkei (gesamt) und Türkische Riviera des Verlags Michael Müller mit.

An Werkzeug und Ersatzteilen waren dabei: optimiertes Bordwerkzeug, 3/8"-Knarre/-Nüsse, Knipex-Zangenschlüssel, 200-Gramm-Hammer, Mini-Digital-Multimeter, Bowdenzug-Reparatursatz, Regler, Zündboxen, Zündkerzen, Birnen/Sicherungen, Ersatzschläuche, Bremsklötze und Kleinteile.

Für »Nachahmer«: Zur Einreise in die Türkei mit einem Kraftfahrzeug braucht man einen Reisepass und die »Grüne Versicherungskarte«. Letztere ist i. d. R. zwar für die ganze Türkei gültig, die üblichen Deckungshöhen gelten aber nur für den europäischen Teil. Manche Versicherungen dehnen die Deckung für die Zeit der Reise kostenfrei aus, andere erheben einen Aufschlag. Zollrechtlich darf immer nur ein Einreisender maximal ein Fahrzeugvorübergehend einführen. Der ADAC riet uns, eines der Motorräder, die zunächst beide auf mich zugelassen waren, auf Rendel anzumelden. Mag sein, dass das auch anders gegangen wäre, doch wollte ich es nicht drauf ankommen lassen. Entsprechend muss das Fahrzeug auf den Einführenden zugelassen sein (oder man muss – etwa bei geliehenen Fahrzeugen – eine entsprechende, möglichst türkisch verfasste Vollmacht mitführen).

Ich habe mich bemüht, türkische Orts- und Eigennamen möglichst in korrekter Schreibweise wiederzugeben. Das türkische Alphabet hat einige Buchstaben, die uns nicht geläufig sind:

ç – wird wie »tsch« ausgesprochen, das normale »c« hingegen wie »dsch«

ğ – wird nicht wie unser »g« ausgesprochen, sondern dehnt i. d. R. den vorhergehenden Vokal (etwa wie das »h« in unserem Wort »mahlen«; »Eğirdir« wird also wie »E-ihr-dir« ausgesprochen)

ı – »i ohne Punkt«, wird etwa wie das »e« in »Rose« ausgesprochen (gibt’s als Klein- und Großbuchstaben)

ş – entspricht unserem »sch«

z – wird wie das »s« in »Rose« ausgesprochen

Alle anderen Buchstaben entsprechen im Wesentlichen unserer Aussprache (ein »x« gibt’s nicht, deshalb fährt man in der Türkei »Taksi«).

Mit dem folgenden Bericht von unserer Reise möchte ich versuchen, den Leser ein wenig an unseren Erlebnissen teilhaben zu lassen. Mir war dabei daran gelegen, nicht nur Fakten aneinanderzureihen, sondern den Bericht so zu gestalten, dass der Leser informiert wird und das zugleich unterhaltsam findet – ein hoher Anspruch, ich weiß …

(Hinweis für Leser, die uns nicht kennen: Die Anmerkungen zu frühkirchlichen Ausgrabungsstätten, Archäologie und Geschichte u. ä. lassen sich durch persönliches Interesse und berufliche Verbindungen erklären.)
Reisebericht

Es muss schlimmer gewesen sein als 1988, als ich mich auf meine Rucksackreise nach Israel vorbereitete. Mein seinerzeitiger Chef schickte mich zwei Tage vor Urlaubsbeginn mit den Worten nach Hause: »Mit dir ist ja eh nichts mehr anzufangen!« Und jetzt scheinen selbst mir ansonsten zugetane Freunde und Kollegen mich nicht mehr für ganz dicht zu halten. Da sogar Rendel – ganz untypisch – seit Tagen nicht mehr gut schläft, steht fest: Es muss endlich losgehen!

Am 10. Mai, dem Vortag unserer Abreise, will ich nachmittags die Motorräder betanken. Als ich Rendels Africa Twin starte, fällt mir eine Unregelmäßigkeit an der Elektrik auf. Der Tripmaster (ein digitaler Tageskilometerzähler) erlischt, wenn ich das Licht anmache. Ich erinnere mich an den Elektrikdefekt an derselben Maschine im letzten Jahr auf dem Peloponnes. Sch…! In Windeseile die Verkleidung abgebaut. Dalli, unser kroatischer Nachbar und Elektronikexperte, hilft mir, die Sache durchzumessen. Nur korrodierte Kontakte. Ich bin natürlich froh, dass ich die Nummer mit dem Betanken nicht erst – wie eigentlich geplant – am Abreisetag durchgezogen habe, das hätte dann wirklich Stress bedeutet. Die untrügliche Intuition eines erfahrenen Motorradreisenden.

Am nächsten Morgen fangen wir an, die Motorräder zu beladen. Gutes Equipment und gute Planung machen das zu einer Sache von Minuten. (Ja, belächelt ihr nur meine immer wieder verfeinerten Checklisten – aber wir haben nichts vergessen!) Zeitkritisch ist bei dieser Reise nur der heutige Tag, wo wir den Autoreisezug von Düsseldorf nach Verona erreichen müssen, und der morgige, wo wir die 350 Kilometer von Verona nach Ancona fahren, um die Fähre nach Çeşme zu bekommen. Leider hat der Wetterdienst für heute Regen und Sturm mit orkanartigen Böen angesagt. Nach einer Stunde, nach der wir bei normaler Witterung schon in Düsseldorf sein sollten, haben wir erst die Hälfte geschafft. Der Sturm macht Rendel ganz kirre. Wir haben jeder eine dünne Notfall-Regenkombi dabei und entscheiden, dass der Notfall schon nach 50 Kilometern eingetreten ist. Ich ahnte, dass XL – größer gab’s nicht – nicht reichen würde … Ich muss die Pelle vorne offen lassen, unter den Armen und im Schritt reißt sie schon während der Fahrt. Oh Mann, kurzatmig schon beim Motorradfahren – aber sonst platzt das Ding ganz.

Wir kommen noch pünktlich an und treffen auf ein paar andere Biker. Wohin geht’s? Toscana? Na ja, wenn man sich nichts anderes mehr zutraut … Ein WDR-Reporter befragt mich auf dem Bahnsteig nach meinen Gründen für das Reisen per Autoreisezug.

Klaustrophobikern und Menschen mit Berührungsängsten sowie einem ausgeprägten Bedürfnis nach Intimsphäre sei ausdrücklich die Fahrt in einem Vierer-Liegewagen der Bahn empfohlen, am besten als Alleinreisender mit willkürlich zugelosten Mitreisenden. Wenn Letztere dann noch auf die per Reservierung zugeteilte Bettenverteilung bestehen, könnte es eine perfekte Nacht werden. Sich vor den anderen g’schamig oben auf der Liege seiner Kleidung zu entledigen … (Wer kennt noch die Serie »Salto mortale«?) Unbedingt anzuraten ist der Genuss von einigen Bierchen, um bei dem Geratter und Gepolter besser schlafen zu können. Damit ist auch sichergestellt, dass man, neben der genannten Schlangenmenschennummer, auch noch (mindestens) einen Auftritt in der Equilibristik-Abteilung hat, nämlich dann, wenn man nachts von der oberen Koje über das kleine Aluleiterchen nach unten steigen muss, um das, was man nicht ausschwitzen konnte, anderweitig zu entsorgen. Ziel sollte dabei sein, dem Untenliegenden nicht ins Gesicht zu treten (obwohl man es gerne täte – so könnte dessen Schnarchorgie zu beenden sein). Autoreisezüge sind extrem durchdacht und sinnvoll konzipiert. Erstaunlich, dass jeder Waggon gleich zwei Waschräume mit sich führt. Aber es gibt nichts, was sich nicht noch verbessern ließe. Was spricht etwa dagegen, dass sich die Waschraumtüren nach innen öffnen lassen? Ich knie doch sowieso beim Zähneputzen halb unter dem Waschbecken. Verschenkter Platz. Leider ist hier nicht der Ort, alle Vorzüge dieses modernen und überaus komfortablen Reisens zu beschreiben und angemessen würdigen zu können.

Auf jeden Fall ist man dem Reiseziel am nächsten Morgen etwas näher. Das Etappenziel heißt für uns Verona. Italien empfängt uns mit strahlendem Sonnenschein, den wir im einstündigen Stau vor Bologna doppelt genießen dürfen. Dort hänge ich meinen Gedanken nach, die sich hoch in die Lüfte emporschwingen, dem Mautticket hinterher, das ich, da nicht sicher verstaut, schon nach wenigen hundert Metern verloren habe. Auf einem Rastplatz raten uns andere Motorradfahrer, auf keinen Fall weiterzufahren. Pfff! Ich fahre in die TÜRKEI! Nichts kann mich aufhalten. Die Leute an der Zahlstelle sehen das auch so. »No problem! Sie müssen nur eben zu den Kollegen in dem Häuschen dort drüben.« Sag ich doch.

Kennt jemand die Schnittmenge aus Franz Kafka und deutscher Bürokratie? Richtig, die Verwaltung einer Mautstelle in Mittelitalien. Ich habe vier Unterschriften geleistet (worunter, weiß ich nicht), mein Pass, mein Führerschein und mein Kfz-Schein wurden fotokopiert (aber erst nach zehn Minuten, nachdem »Kollega« seiner Mitarbeiterin, die unbedingt beidseitig kopieren wollte, ihr vergeblich zu zeigen versucht hatte, wie das geht). Nein, ich brauche keine Nachgebühr zu zahlen, weil ich so ehrlich bin. Grazie, du mich auch! Die Saugfähigkeit einer Lederhose ist unbeschreiblich.

Den Hafen von Ancona kennen wir schon, auch, wo es gute Pizza gibt, wissen wir. Die Formalitäten sind fix erledigt, nur müsse ich noch zur italienischen Passkontrolle für die Ausreise. »Entschuldigen Sie, ich suche die Passkontrolle für die Türkei. Nein … Nein, nein, ich muss nur noch eben die Pässe … Ach, das ist doch hier. Ja … danke.« Fünfzig Leute vor mir, nichts scheint sich zu tun. Komme mit einem Deutschen mit Pferdeschwanz ins Gespräch. Kennt sich aus, hat das schon x-mal gemacht. Ist Künstler, singt und spielt in großen Hotels. Diesmal geht’s für immer in die Türkei. Okay, dafür lohnt das Anstehen. Mit einem etwas debilen (die Hitze!), aber glücklichen Grinsen geht es zurück zu den Motorrädern. Ein türkischer Motorradfahrer hat sich zu Rendel gesellt (etwas zu hübsch für meinen Geschmack, der Bengel). Augenscheinlich ist er recht gebildet und aus gutem Hause (sprich: mit viel Knete). Er hat auf seiner Triumph Europa bereist und will jetzt seine Eltern in Bodrum besuchen. Seine ganze Habe, inklusive Laptop, hat er im Rucksack, im Tankrucksack und unter der Sitzbank verstaut. Fast nur mit Kreditkarte und Handy lässt es sich eben unbeschwert reisen. Aber der Junge ist sehr nett und hilfsbereit; so vertreiben wir uns gemeinsam die Zeit bis zum Einschiffen. Zu uns gesellen sich noch ein älterer BMW R 1200 RT-Fahrer aus dem Allgäu und ein cooler Österreicher auf einer alten Moto Guzzi California. Der Allgäuer möchte inÇeşme gleich Richtung Nordosten schwenken, um auf die Krim zu fahren, während der Ösi schon am Tag nach der Ankunft in Konya sein will, um dann nach Syrien und in den Libanon zu fahren. Respekt. Ja, das ist unsere Klasse!

Wir positionieren uns strategisch günstig vor der Rampe, um als Erste auffahren und in Çeşme auch als Erste wieder von der Fähre runterfahren zu können. Zudem hatte ich schon ein wenig beim Lademeister antichambriert, Beziehungen sind halt alles. Gut, ging nicht ganz auf. Wir dürfen als Letzte drauf, dafür aber auch als Letzte wieder runter.

Aber so haben wir Gelegenheit zuzusehen, wie die »Çeşme«, so heißt auch unsere Fähre, beladen wird. Auch, wenn es keine dieser Riesenfähren ist, ist doch erstaunlich, was der Schiffsbauch alles verschlingt. Etwas erschreckend ist die Feststellung, was für ein Schrott in der Türkei noch seiner Zweit- bis Fünftverwertung zugeführt wird. Ein Bus zeigt noch Beschriftungen der »Aschaffenburger Verkehrsbetriebe« und der Stadt Oppeln – in Polen. Endlich sind auch unsere Moppeds verzurrt, erstmal ab in die Kabine und duschen.

Die »Çeşme« ist schon etwas älter und man kann sie nicht mit den modernen und schnellen Griechenlandfähren vergleichen, aber das Preis-/Leistungsverhältnis ist angemessen. Aus Sicht des Eigners vermutlich zu angemessen; den Ausgleich sollen wohl die Preise an Bord besorgen. Ein Gläschen Çay für einen Euro! Folgerichtig hat auch ein Mitreisender einen Segenswunsch für den Reeder parat: »Er möge doch bitteschön mitsamt seines Schiffes an der tiefsten Stelle des Meeres untergehen.« Türkische Gebrauchslyrik.

Aber die Fahrt ist, abgesehen von zwei Migräneanfällen, ruhig und entspannend. Hin und wieder gesellt sich der Allgäuer zu uns. (Ja, die Bayern, die haben’s drauf – vormittags schon Bier, während der Lorenz vom Himmel knallt.) Rendel macht ihr Spiel »Beruferaten«. Mit »Architekt« treffe ich es fast, er ist Bauingenieur bei der bayerischen Autobahnverwaltung. Zu seinen speziellen Motorraderfahrungen zählt eine Milzaufschlitzung, die er sich an einem Bordstein zugezogen hat. Ich sag ja: Hier sind die Harten versammelt. So vergeht die Zeit fast wie im Flug, wobei auch das türkischsprachige Bordkino und die Übertragung des Endspiels der türkischen Fußballmeisterschaft hilft. Mittlerweile weiß ich, dass man für Fenerbahçe sein muss.

So legen wir ziemlich pünktlich am Dienstagmorgen (also nach etwa 55 Stunden Fahrt) in Çeşme an. Der »Triumph-Türke« hat Probleme mit seiner Elektrik, muss vor absehbar längerer Standzeit immer die Batterie abklemmen. Kurz bevor sich die Laderampe senkt stellt er fest, dass er dabei eine Schraube verloren hat. Er hat unfassbares Glück, dass ein echter Profi-Motorrad-Globetrotter an Bord ist. Ein Griff in die durchdacht zusammengestellte Ersatzteilbox – et voilà! Ergriffen schüttelt er meine Hand, dankt mir überschwänglich und murmelt noch etwas auf Türkisch. Nehme an, dass er mich bei seinen (reichen) Eltern in Erwähnung bringen möchte. Schon recht, nix dafür.

Eine spezielle Ausprägung von Murphy’s Law ist der Warteschlangeneffekt, auf den ich abonniert bin, so auch bei der Zollabfertigung. Rendel: »Der Österreicher hat sich links angestellt, der ist schon viel weiter.« Ich: »Ach, wart’s ab. Da geht’s auch nicht schneller.« … Sie: »Ich geh mal vor und sag dem Ösi noch tschüss. – Ooch, schon weg!« Okay, die hätten den Wartebereich aber auch wenigstens überdachen können. Doch »ein Geduldiger ist besser als ein Starker« – sagt die Bibel. Und solange ich schwitze, lebe ich noch.

Endlich türkischen Boden unter den Rädern. Das Küssen desselben verkneif ich mir. Ein kurzer Check der Ladung, Funkgeräte an – und los geht’s. Wir müssen erst Richtung İzmir, wobei wir nicht die Autobahn, sondern die alte Straße nehmen wollen. Weibliche Logik bereichert den Alltag ungemein. Deutsche Autobahnschilder sind blau, darum können türkische nicht grün sein. Selbst ein drei Meter hohes (grünes) Schild mit dem typischen Autobahnsymbol darf sich dieser Logik nicht widersetzen. – Also gut, da ein Wenden nicht mehr möglich ist, fahren wir halt doch ein Stück über die Autobahn. Aber zum Streit ist eh keiner von uns aufgelegt, zu glücklich sind wir, endlich am Ziel unserer Träume zu sein. Aber aufgepasst: In der Türkei ist die Höchstgeschwindigkeit fürMotorräder 70 km/h – 80 werden geduldet, darüber wird’s teuer. Als Fahrtwind fühlt sich die heiße Luft viel schöner an. Zudem ist die Autobahn fast leer, so dass wir den typischen Duft, eine Mischung aus Seeluft und Pinie, riechen können. Ja, das steht jetzt schon fest: Es hat sich gelohnt!

Wir sind etwas unschlüssig, wohin uns die erste Akklimatisierungs-Etappe führen soll. Herakleia am Latmos bietet sich an – oder doch noch etwas weiter südlich? Wir entscheiden uns für Didyma, das ich 1999 auf der Rückreise kurz gestreift hatte. Auf dem Weg wollen wir in Milet Rast machen. Dorthin hatte Paulus die Ältesten aus Ephesusgerufen, um ihnen letzte Anweisungen zu geben und sich von ihnen zu verabschieden, auch Thales, der berühmte Philosoph und Mathematiker, stammt von hier. Vorher müssen wir die weite Ebene des Großen Menderes queren. Die Straße geht fast wie mit dem Lineal gezogen geradeaus, zudem ist die Ebene ein Glutkessel, obwohl ein starker Wind bläst. Nach dem Menderes ist das geometrische Ziermuster des Mäander benannt, eben deshalb, weil sich der Fluss so zickzackförmig durch die Landschaft windet. Zwischendurch essen wir in der Nähe von Pamucak etwas, ich traue mich gleich an einen Adana-Kebab (nicht, dass mir der zu scharf wäre, aber ist halt Hack, noch dazu vom Lamm, was ich eigentlich nicht so gerne mag).

Milet ist imposant, besonders das hoch aufragende Theater. Rendel will die Stufen hoch, ich nicht. »Geh du mal. Ich war 1999 schon oben.« Stimmt zwar nicht, aber ich werde in diesem Jahr fünfzig.

Etwas ermattet treffen wir am frühen Abend in Didyma ein. Unser Hotel, das Medusa, das wir uns – wie meistens – einer Empfehlung des Michael-Müller-Reiseführers folgend ausgesucht haben, erweist sich als recht urig. Allerdings sind die Zimmer sehr aufgeheizt, was die Nacht nicht angenehm macht (dass man die Fenster auch öffnen kann, entdecke ich erst am nächsten Morgen). Erste Bekanntschaft machen wir mit dem 12-jährigen Onur. Aus dessen Mund kam das wohl größte Kompliment, das Rendel auf dieser Reise bekommen hat. »Du? Mit dem großen Motorrad? Wooow!«

Das Hotel grenzt direkt an das antike Didyma, das im Altertum ausschließlich als Kultstätte diente. Von demOrakel erhofften sich viele Menschen Auskunft, bis hin zum ägyptischen Pharao. Entsprechend gut finanziell ausgestattet, wollten die Priester es zur prächtigsten Orakelstätte der Welt ausbauen. Die zwei gewaltigen kannelierten Säulen, die das Areal noch heute dominieren, sollten zu einem Wald von 122 Säulen ausgebaut werden. Die Bearbeitung eines einzigen dieser Giganten bedurfte einer Arbeitszeit von 20.000 Mann-Tagen! Da die Mittel dann doch bald versiegten, musste der Plan aufgegeben werden. Didyma in der Abendsonne – voll heidnisch, aber voll schön. Nach einem mäßigen Abendessen in einem nahegelegenen Restaurant lernen wir im Hotel noch den einzigen weiteren Gast kennen. Die Taiwanerin hatte schon die halbe Welt bereist, als sie in die Türkei geriet. »Warum soll ich überall rumreisen, wenn ich in der Türkei alles in einem Land habe?« – So verbringt sie schon seit längerer Zeit immer ein paar Wochen des Jahres in Didyma.

Am nächsten Morgen soll es zeitig losgehen. Aber zunächst frühstücken wir im schönen Garten, alte Säulenstümpfe dienen als Tische. Als Etappenziel haben wir uns Pamukkale vorgenommen, also etwa 350 Kilometer. Wir wollen die Hauptstraßen meiden, ab Muğla ist eine landschaftlich schöne Strecke eingezeichnet. Das Beladen läuft schon routiniert, kurze Verabschiedung – und los geht’s. Nach ein paar hundert Metern, auf Höhe des Restaurants, wo wir am Vorabend gegessen hatten, schickt sich ein Dolmuş (eine Art Sammeltaxi, mit dem man fast jeden Ort der Türkei erreichen kann) an auszuscheren. Ich warne Rendel über Funk, Rückmeldung: »Hab ich gesehen.« Kurz drauf ein entsetzter Schrei. Ein Blick in den Spiegel zeigt noch, wie Rendel stürzt und über den Boden rutscht. Glücklicherweise ist sofort klar, dass kein Fahrzeug hinter ihr ist, das ihr gefährlich werden könnte. Ich stell mein Mopped ab und renne zu Rendel, schrei sie an: »Was hast du gemacht?!« – War nicht so gemeint, aber ich war auch zu Tode erschrocken. Über Funk ruft sie mir zu, dass sie »okay« sei – was immer das in dem Moment heißen mochte. Da sie gleich aufsteht, machen wir uns schnell daran, ihr Mopped aufzuheben und zu sichern. Austretende Flüssigkeit erweist sich nur als übergelaufenes Benzin.

Die Bank einer Bushaltestelle dient als vorläufiges Krankenbett. Der Schock treibt Rendels Kreislauf in den Keller. Bestandsaufnahme: Schulter, Hüfte und Knie rechts scheinen geprellt zu sein, aber wohl nicht gebrochen. Mehr Sorge bereitet uns der augenscheinlich geprellte Brustkorb, das Atmen schmerzt. Innere Verletzungen? In meinem Kopf laufen Notfallpläne ab. Arzt? Krankenhaus? Urlaub abbrechen? Kurieren in Patara? Rendel schlägt vor, einen Moment zu warten, wie es sich entwickelt. Wir sind froh, dass sie Schutzkleidung getragen hat. Die ist lädiert, auch das Helmvisier hat an einer Seite tiefe Riefen, was anzeigt, dass sie mit dem Kopf über den Asphalt geschrammt ist. Der Blutdruck bekrabbelt sich wieder. Rendel schlägt vor, gleich weiterzufahren, um der Angst zu begegnen (okay, sie ist halt Traumatherapeutin …) Nachdem ich mich rückversichert habe, dass sie das ernst meint, stimme ich zögernd zu. Abends wollen wir dann ihren Bruder anrufen, der Arzt ist, und ihn um Rat bitten. Beim Auf- und Absetzen des Helms muss ich ihr in den nächsten Tagen behilflich sein. Was die Leute wohl dachten? »In die Türkei fahren und nicht mal den Helm selbst aufsetzen können!« (An dieser Stelle sei schon erwähnt, dass sich Rendels Verletzung zu Hause als Rippenserienbruch herausstellte, betroffen waren drei Rippen, eine davon gesplittert. So viel zum Thema weibliche Zähigkeit und Leidensfähigkeit …)

Wie Rendel später rekapituliert, war der Grund des Sturzes ein blockierendes Vorderrad, als sie für den Dolmuş bremsen wollte. Jemand hatte, wie im Süden üblich, gegen den Staub die Straße gewässert. Wir wussten um die gefährliche Kombination von glattem türkischem Fahrbahnbelag und Wasser, wollten deshalb nie bei Regen fahren, hier hatte es uns kalt erwischt. Aber egal: Bewahrung war es trotzdem allemal.

Nach 15 Minuten Fahrt meldet sich Rendel mit der Feststellung, dass sich alles Zittern gelegt hätte und dass sie so sicher führe wie vorher, keine Spur von Angst. Zudem sei die Fahrhaltung mit nach vorn gestreckten Armen wesentlich erträglicher als andere Positionen. Aber vor uns liegen noch die 350 Kilometer! Die kleine Straße vonMuğla Richtung Denizli lässt sich erst ganz manierlich an, auf etwa der Hälfte wird es dann aber voll schotterig. An einigen etwas prekären Stellen biete ich Rendel an, ihr Motorrad für sie zu fahren. Sie lehnt ab: »Ich schaff das schon!« Und sie schafft es. Zwar ist Schotter nicht ihr Lieblingsuntergrund, doch kommt sie klar. Witzig war die Situation, wo zwei große Hunde hinter uns her hetzten. Ich nahm mit Rücksicht auf sie auf dem Schotter das Gas zurück, während sie mir im Nacken saß: »Mach schneller!«

Etwa 70 Kilometer vor Denizli mündet der Schotter auf einer Hauptstraße, Zeit für eine ausgiebige Rast. Das kleine Gartenlokal ist leer. Bei einem Jungen bestellen wir zwei Salate. Später gesellt sich auch sein Vater, der Inhaber, dazu. Irgendwie hat er einen Narren an mir gefressen, streichelt mir immer über den (Glatz-)Kopf. Ein weiterer Mann kommt dazu und zeigt uns auf seinem Handy ein Bild von einer Steinmetzarbeit, die eine Art Sarkophag mit Kreuzmotiv zeigt. Dazu immer »Kilise, Frankfurt, Frankfurt«. Schließlich kommen wir dahinter, dass er tatsächlich Steinmetz ist und diese Arbeit für eine Frankfurter Kirche angefertigt hatte.

Die letzten Kilometer nach Denizli sind unangenehm zu fahren. Es ist heiß, der Asphalt schmierig, zudem viele LKW. Kurz vor Denizli machen wir auf einem Parkplatz Halt, von dem man einen schönen Blick über die Stadt und die Ebene hat. Ein Polizist spricht uns an, stellt die üblichen Fragen. Normalerweise sei er Motorradpolizist und als solcher mit einer BMW F650 unterwegs. Mit Blick auf Rendels Rippen empfiehlt er uns die Poliklinik in Denizli, zudem bestätigt er, dass das von uns in Pamukkale ins Auge gefasste Venüs-Hotel eine gute Wahl sei (gehört wahrscheinlich dem Cousin seiner Frau). Also noch einmal los. Ein Verfahrer im Feierabendverkehr von Denizlierweist sich als nicht so schlimm, kurz darauf sind wir in Pamukkale. Die Warnung vor den Schleppern ist berechtigt. Manche gebärden sich wie Parkplatzwächter, die so tun, als wollten sie einem einen guten Platz anweisen, andere stellen sich in den Weg (ich ignoriere sie bzw. fahre sie einfach um …), wieder andere verfolgen einen mit ihrem Roller. Vom dritten Rollerfahrer lasse ich mich anhalten. Der ältere Herr erweist sich prompt als Inhaber des Venüs, zu dem wir wollen. Zwei Minuten später fahren wir dort vor. Karen, Australierin und Freundin des Hotelierssohns, empfängt uns und zeigt uns unser Zimmer, ein schönes, großes Dreibettzimmer, frisch renoviert und zum günstigen Preis. Das Hotel liegt mitten im Dorf, also mit Hühnern und allem ländlichen Drumherum. Rendels erste Liegeprobe an diesem Tag fällt vernichtend aus, verheißt nichts Gutes für die Nacht. Das Hotel ist mäßig ausgelastet, zumeist Amerikaner oder Briten, die für zwei bis drei Nächte bleiben. Wir freuen uns auf’s Abendessen. Karen stellt uns das Menü vor, das wir so übernehmen – vor allem eine leckere Suppe mundet hervorragend. Ich komme mit einem jungen kanadischen Paar ins Gespräch. Er ist türkischer Abstammung, aber schon in Kanada geboren, während sie waschechte Kanadierin ist, die mir erzählt, dass sie für den Navigationsgerätehersteller TomTom gearbeitet hat. Ihr Freund begutachtet unsere Motorräder und erzählt ihr begeistert von den Extreme Bikes – muss ein Kenner sein!

Nach dem Essen rufen wir Rendels Bruder an. Da seit dem Unfall schon etliche Stunden ohne Komplikationen vergangen sind, tippt er »nur« auf Rippenprellung oder -bruch. Man könne nur »Painkiller« nehmen, um den Schmerz zu lindern und damit das Atmen nicht zu flach wird (Gefahr der Verschleimung und der Lungenentzündung).

Die Nacht (wie auch die nächst folgenden) verbringt Rendel mehr sitzend als liegend, trotzdem ist sie gut gelaunt. Heute wollen wir uns Kolossä und Laodizea anschauen und lassen uns vom Junior den Weg beschreiben. So geht’s zunächst nach Honaz, an dessen Stadtrand das alte Kolossä liegt. Wenn man überhaupt davon sprechen kann, dass da noch etwas liegt. Zu sehen ist buchstäblich fast nichts, außer einem vielleicht 20 Meter hohen Hügel. Okay, kann nicht alles wie Ephesus aussehen. Also nach Laodizea. Der Wegweiser an der Hauptstraße besagt »Laodicea 1 km«. Wir fahren direkt bis auf das Ausgrabungsgelände, doch der noch fast minderjährige Aufpasser in Uniform will uns unnötigerweise auf den Parkplatz verweisen (wir sind die einzigen Besucher). Ich versichere ihm, dass es kein Problem sei, dort zu parken, wo ich stehe. Hat er auch gleich eingesehen.

Im Gegensatz zu Kolossä ist Laodizea sehenswert. Eine gut erhaltene Agora, Stadtmauern und ein etwas überwuchertes Theater. In Richtung Norden kann man die Terrassen von Pamukkale erkennen. Kein Wunder, dass Paulus Hierapolis, Laodizea und Kolossä in einem Atemzug nennt. Mittlerweile brennt die Sonne ziemlich heftig, mir wird es in der Motorradkluft etwas viel. Also zurück, sind ja nur fünf Minuten. Am Ortseingang überfällt uns İbrahim, unser Hotelierssohn, weil er uns nicht gleich erkennt. Ist ihm wohl etwas peinlich. Der Rest des Tages wird vergammelt, für morgen haben wir uns die Terrassen vorgenommen.

Es mag manchem seltsam vorkommen, aber dies ist unser erster Besuch in Pamukkale – und das mit Bedacht. Als meine Eltern 1969 von ihrer ersten Türkeireise zurückkamen (vom Münsterland bis Adana und zurück mit einem VW-Käfer, meine fünfjährige Schwester auf der Rücksitzbank – ich lag mit Blinddarmentzündung im Krankenhaus), schwärmten sie von diesem einmaligen, schneeweißen Naturwunder. Als wir dann 1988 in ihre Fußstapfen traten, mehrten sich schon die Meldungen, dass das Areal viel von seiner ursprünglichen Schönheiteingebüßt haben sollte. Erst jetzt, wo die Verunstaltungen zum Großteil wieder behoben sind, trauen wir uns dahin.

Karen hat uns geraten, vor Eintreffen der Touribusse vor Ort zu sein, was wir beherzigen, trotzdem ist schon einiges los. Das eigentliche Areal darf nur barfuß betreten werden, die Ablagerungen sind aber rau, etwas geschuppt, so dass die Füße gut Halt finden. Wenn die Terrassen einmal schlimm ausgesehen haben, so haben die Verantwortlichen das wieder recht gut in den Griff bekommen, wiewohl immer noch Wassermangel herrscht. Bis auf wenige Stellen sind die Stufen und Becken wieder schneeweiß, das Wasser schimmert hellblau. (»Pamukkale« kann mit »Baumwoll-« oder »Watteburg« übersetzt werden.) Von den Hotels, die lange Zeit oberhalb der Terrassen standen und die das meiste Wasser für ihre Swimmingpools abgezweigt hatten, ist nichts mehr zu sehen, wurden alle abgerissen. An neueren Gebäuden stehen nur noch das Museum und der Komplex, in dem sich das Thermalbad – mit allem touristischen Drumherum – befindet. Man kann den Bereich kostenlos betreten, das Baden kostet jedoch YTL 13,-, was uns etwas viel ist.

Eine Überraschung ist Hierapolis. Die antike Stätte erstreckt sich über mehrere Quadratkilometer oberhalb der Kalksinterterrassen. Im Westen liegt eine große Nekropole mit Gräbern verschiedenster Stile und Epochen. Das imposante ehemalige Badehaus wurde schon früh zu einer Basilika umfunktioniert. Zudem gibt es Reste einer dem Martyrium des Stephanus gewidmeten Kirche. Da das Areal sehr weitläufig ist, schenken wir uns das Erklettern des gut erhaltenen Theaters, sehen uns stattdessen noch einige Tempel an.

Auf dem Rückweg schau ich im Dorf noch beim Berber, dem Friseur, rein; während ich mich dort verwöhnen lasse, überrascht mich leider ein Migräneanfall. Und keine Medikamente dabei! In der Folge habe ich noch einen weiteren Anfall, danach herrscht an dieser Front für den Rest des Urlaubs Ruhe.

Noch einmal genießen wir das leckere Essen im Venüs, plaudern ein wenig mit einem holländischen Paar, das sich die Türkei erwandert und die verschiedenen Ausgangspunkte mit dem Bus erreicht. Der Mann lässt sich interessiert unsere Motorräder zeigen. Auch zwei amerikanische Paare am Nachbartisch sind von der Türkeibegeistert.

Vor unserem Aufbruch erläutere ich İbrahim noch unsere weiteren Pläne. Er rät uns, statt nach Beyşehir lieber nach Eğirdir zu fahren, Stadt und Umgebung seien wesentlich schöner. Wir nehmen den Rat an, der erste Teil der Strecke ist eh identisch. Mittlerweile habe ich es mir angewöhnt, Rendel bei jedem Start auf den ersten Metern zu erinnern: »Okay, konzentrieren, tief durchatmen, erst einmal wieder die ersten Kilometer schaffen.« Ich meine nämlich festgestellt zu haben, dass sie gerade beim morgendlichen Start unkonzentriert und abgelenkt ist (Winke-winke machen usw.)

Wir müssen uns zunächst in Richtung İsparta halten, das auch schon früh ausgeschildert ist. Der Himmel ist bewölkt, nach Regen sieht es aber nicht aus. Von İsparta ist es nicht mehr weit nach Eğirdir. Der Anblick auf Stadt und See, wenn man über die Berge hereinkommt, verschlägt uns den Atem. Der See, etwa so groß wie der Bodensee, lässt einen meinen, man sei am Meer – zumal denjenigen, der von der Türkei nur Küste gewohnt ist. Serpentinen schlängeln sich runter zur Stadt und zum See. Schon von Weitem sieht man die lange, nur einige hundert Meter breite Halbinsel, die nadelgleich in den See sticht. Dort haben wir uns einige Pensionen ausgeguckt. Als wir die Uferstraße entlangfahren, werden wir an Erzählungen über die Bora, den legendären Fallwind in Kroatien, erinnert, derart müssen wir dem Sturm gegenhalten. Die eigentlich ins Auge gefasste Pension hat geschlossen, eine Alternative ist schnell gefunden. Die Göl-Pension wird von drei Schwestern, unterstützt von deren Mutter, geführt. Wir scheinen die einzigen Gäste zu sein. Auffällig, wie sauber die Pension ist. Bevor wir Quartier nehmen, werden die Fenster noch schnell von den Gischtspritzern befreit, die der Wind die zwanzig Meter vom Ufer herübergeweht hat. Nachdem wir die Treppe benutzt haben, wird sofort hinter uns her gewischt, was bei Rendel eine Assoziation an Asterix bei den Schweizern auslöst. Sie stellt sich – in Anlehnung an die entsprechende Szene im Comic – vor, wie uns die drei Schwestern vor der Polizei verstecken und wie sie, von dieser auf die Schlammspuren, die wir hinterlassen haben, hingewiesen, in einem schier übermenschlichen Akt der Selbstverleugnung selber mit schlammigen Stiefeln durch die Empfangshalle stapfen, um uns nicht zu verraten …

Das Abendessen nehmen wir unter lauter türkischen Touristen in einem Fischrestaurant ein. Allerdings gibt’s nur Barsch, im Teigmantel frittiert – fett und etwas muffig. Rendel unterhält sich noch ein wenig mit den drei Schwestern, bewundert das Baby der einen, dann geht’s ins Bett.

Für den nächsten Tag haben wir uns die Umrundung des Sees und einen Besuch in Antiochien in Pisidien vorgenommen – für mich eines der wichtigsten Ziele dieser Reise. Wir entschließen uns zu einer Fahrt im Uhrzeigersinn. Erster größerer Ort ist Barla. Der Name ist mir gut in Erinnerung, denn als ich 1999 mit demMotorrad in die Türkei reiste, machte ich mich auf der Fähre mit einem Deutschen bekannt, der mir erzählte, dass er in Barla ein Haus hätte und wie schön die Gegend sei. Und er hatte nicht übertrieben. Meist geht es direkt am See lang, schöne, langgestreckte Kurven – Rendel bezeichnet die Strecke als eine der schönsten dieser Reise. Am Nordostende des Sees lösen wir uns vom Ufer und halten auf Yalvaç zu, an dessen östlicher Stadtgrenze sich das alte Antiochien erstreckt. Hierher scheinen sich nur wenige Besucher zu verirren. Am Eingang des Geländes können wir unsere Helme und Jacken deponieren, der Wächter erkundigt sich noch interessiert nach unserem Helmfunk.

Antiochien in Pisidien. Ich hatte mich ausführlich über diesen Ort kundig gemacht. Theologen wissen, dass das einer der Orte war, den Paulus häufiger und für länger aufgesucht hat, hier hat er in der Synagoge gepredigt, sein Schüler Timotheus steht in engem Zusammenhang zu der Stadt, zudem ist die längste Predigt, die uns das Neue Testament überliefert, in Antiochien gehalten worden. Die Stadt liegt an der Grenze zwischen den historischen Landschaften Pisidien und Phrygien, wurde aber zu neutestamentlicher Zeit zur römischen Provinz Galatien gerechnet. Das Ausgrabungsgelände ist weitläufig, zu weit, um es komplett zu erwandern, zumal es heute Regen geben könnte, etwas, was wir als Motorradfahrer nicht mögen. Aber auf jeden Fall wollen wir uns die Stelle der alten Synagoge ansehen. Schon von Weitem kann man die Reste der achteckigen Außenmauer des Altarraums der Kirche sehen, die auf dem Fundament der Synagoge errichtet wurde. Als wir uns der Ruine nähern, hören wir Gesänge. Die Sprache ist uns unbekannt, die Lieder aber unverkennbar christlich. Eine Gruppe Asiaten feiern augenscheinlich einen Gottesdienst. Wir stören sie nicht, warten ab, bis sie geendet haben. Dann stellen wir uns vor: Die Gruppe kommt aus Südkorea. Die Leute sind, mit Zwischenlandung in Dubai, für nur eine Woche in dieTürkei gereist. Freudig registrieren sie, dass wir auch Christen sind. Ungläubiges Staunen überkommt sie, als wir erzählen, wo wir herkommen und wie wir reisen. Stolz posieren wir mit der Gruppe für ein Erinnerungsfoto. Danach erkunden wir noch ein wenig die Gegend, bis wir uns dann flott – mit Blick auf den Himmel – zurück Richtung Eğirdir machen. Wider Erwarten kommen wir trocken an.

Nächstes Zwischenziel – und insgeheim gehen wir davon aus: Höhepunkt der Reise – soll Kappadokien sein. Ein Blick auf die Karte lässt vermuten, dass die heutige Fahrt die längste Tagesetappe bedeuten könnte. Das Wetter ist super, fast blauer Himmel, hier und da von ein paar harmlosen Wolken aufgelockert. Wir nehmen zunächstBeyşehir ins Visier. Dabei werden wir ein Stück am Ostufer des gleichnamigen Sees entlanggeführt. Da auf meiner Urlaubsagenda auch das Thema »Hethiter« seinen Platz hat, habe ich uns noch einen Ort namens Eflatun Pınar als Zwischenstopp ausgesucht. Zunächst wird unsere Fahrt jedoch durch einen langen Stau auf offener Strecke gebremst, wohl ein Unfall. Die Leute, die mit uns dort stehen, bedeuten uns, es doch einigen Autofahrern gleichzutun, die den Stau umgehen, indem sie einfach den Weg durch den Straßengraben nehmen. So eine kleine Offroadeinlage hätte ihren Reiz, mit Blick auf Rendels Rippen verkneife ich mir das jedoch (worüber sie wohl ohnehin froh ist …)

Um nach Eflatun Pınar zu gelangen, muss man die Hauptstraße verlassen und einige Kilometer durch grüne, klatschmohngesprenkelte Wiesen und Felder Richtung Osten fahren. »Pınar« bedeutet »Brunnen«. Es stellt ein altes hethitisches Quellheiligtum dar. Die Einfassung der Quelle besteht aus riesigen Steinquadern, die Menschen, Tiere und Fabelwesen darstellen. Beim Versuch, einen Steg zu überqueren, um eine bessere Fotografierposition zu bekommen, bricht die Konstruktion ein und ich lande im Wasser. Zum Glück kann ich die Kamera retten. Natürlich ist auch diese Anlage »voll heidnisch«, trotzdem strahlt sie etwas auf angenehme Art Mystisches aus, friedlich, arkadisch. Eine Frau nähert sich uns. Nein, keine Quellnymphe, sondern eine Bauersfrau, die uns ihre Häkelsachen verkaufen möchte. Wir lehnen freundlich ab, Rendel bietet ihr noch ein paar Schokobonbons an, die sie gerne annimmt.

Auf der Weiterfahrt nach Kappadokien stellt sich uns noch Konya in den Weg. Diese Stadt ist als sehr konservativ-islamisch bekannt, zugleich soll sie den höchsten Pro-Kopf-Rakıverbrauch der Türkei haben. Da uns weder nach Großstadt noch nach den »tanzenden Derwischen« – eine der bekanntesten Attraktionen der Stadt – und für den Augenblick auch nicht nach Rakı zumute ist, wollen wir Konya schnell hinter uns lassen. Aber zunächst müssen wir mal durch. Wir nähern uns der Stadt durch die kargen Berge. Als sie sich dann vor uns ausbreitet, muss der Agoraphobiker in mir seinen Tunnelblick aufsetzen, um nicht zu viel Beklemmung zu bekommen. Das GPS zeigt zwar die ungefähre Streckenführung, trotzdem verfahren wir uns. An einer Ampel spricht Rendel einen Autofahrer an, der sich anbietet, solange vor uns herzufahren, bis wir die Straße Richtung Aksaray erreicht haben. Mit Mühe können wir an ihm dranbleiben, finden uns dann aber schon nach kurzer Fahrzeit auf der richtigen Straße wieder. Gleich hinter Konya fängt die topfebene Obruk Yaylâsı an, eine steppenartige Dolinenlandschaft, an die im Norden der Tuz Gölü, ein riesiger Salzsee, grenzt. Auf der schnurgeraden Straße ignorieren wir das 70 km/h-Tempolimit und geben Gas. Am liebsten würde man den Lenker einrasten lassen und etwas dösen. Rendel kann nicht mehr, will eine Pause. Ich auch. Gleich, noch fünf Kilometer. Aber nichts, was etwas Schatten spenden könnte. Kurz hinter Sultanhanı, das eine schöne alte Karawanserei beherbergt, halten wir dann doch auf freier Fläche. Ein weiterer Stopp ist eher unfreiwillig-komisch. Mitten auf der Strecke, nur eine Handvoll Häuser rechts und links, steht eine Ampel auf rot – ohne, dass von irgendwoher ein Auto oder Fußgänger käme. Verkehrsberuhigende Maßnahme auf Türkisch.

»Kaputt wie tausend Mann« nähern wir uns Nevşehir. Das letzte Stück – wir haben schon fast 550 Kilometer auf dem Tageskilometerzähler – erfordert nochmals Konzentration, denn die Straße wird gerade erneuert und weist viele Schlaglöcher und Rillen auf. Mit letzter Kraft rollen wir in Uçhisar ein. Die Abendsonne brennt, das sandige, steile Kopfsteinpflaster ist tückisch. Ob die im Terrasses d’Uçhisar noch ein schönes Zimmer haben? Die französische Inhaberin muss uns hinhalten, vor uns bemüht sich noch ein anderes, türkisch-deutsches Paar um ein Zimmer. Wir hatten uns auf eines der Höhlenzimmer gespitzt – eine Wahl, die wir bereuen sollten … Das andere Paar nimmt ein normales Zimmer, während wir zu Höhlenmenschen mutieren. Das Hotel ist einmalig. Zunächst von der Lage her, direkt unterhalb des Burgbergs von Uçhisar, von der Terrasse einen Blick über das Taubental hin zum Erciyes Dağ, dem erloschenen Vulkan, dem die Welt diese einmalige Landschaft Kappadokiens zu verdanken hat. Zudem ist das Hotel sehr urig und gemütlich eingerichtet und recht komfortabel ausgestattet. Marco und seine Frau, das Inhaberehepaar, waren hier vor zwölf Jahren hängengeblieben. In der Folgezeit haben sie das Hotel aufgebaut und sich einen guten Namen gemacht – nicht zuletzt wegen ihrer Kochkunst, einer Mischung aus französischer haute cuisine und typisch türkischen Elementen. Unsere Höhle ist groß, mit einem schönen Bad, doch merken wir bald, dass der Raum vom langen Frühjahrsregen noch klamm und kühl ist. Selbst ich verkrieche mich unter einem ganzen Stoß von schweren Decken, ohne dass mir warm würde. Wir befürchten, dass Rendel sich erkälten könnte – mit der fatalen Folge, dann niesen zu müssen. Tatsächlich bekommt sie einen Anflug von Erkältung, die sich aber nicht weiter auswächst. Trotzdem hat es sie ein paar Mal fast zerrissen.

Patron Marco liebt Kappadokien. Darum bietet er vormittags kostenlos geführte Wanderungen durch die Umgebung an. Wir wollen nach dem Frühstück starten, zu einer Zeit, zu der die Heißluftballons, mit denen man fast lautlos über die bizarre Landschaft schweben kann, schon wieder am Boden sind. Das wäre auch etwas für uns, aber 200 Euro pro Person sind uns doch etwas happig (wiewohl angemessen, da die Wartung und Unterhaltung der Ballons nach Luftfahrtvorschriften sehr kostenintensiv ist). Also wandern. Einige Gäste aus unserem und einem anderenHotel schließen sich an. Schon nach 50 Metern rutscht einer der Männer aus, stürzt und schlitzt sich an einem Felsen den Oberarm tief auf. Marco ist entsetzt, ruft immerzu »Merde, merde!« Die Wanderung wird abgebrochen, der Mann nach Nevşehir ins Krankenhaus gebracht. (Abends taucht er wohlgemut wieder im Hotelrestaurant auf, den Arm dick verbunden.) Wir erkunden ein wenig die nähere Umgebung, wollen abends, wenn es etwas kühler ist, noch ein Stück fahren, um uns eine unterirdische Stadt anzuschauen. Mittlerweile haben sich Siegfried und Petra per SMS angekündigt, ein motorradreiseerfahrenes Ehepaar aus Bayern, das wir kurz vor der Abreise in einem Internetforum kennengelernt und mit dem wir uns locker verabredet hatten.

Auf zur vorabendlichen Tour. Wir sind gerade in der Ortsmitte von Uçhisar angelangt, als uns zwei Suzuki V-Strom entgegenkommen. Großes Hallo. Schon da? Zurück ins Hotel. Die beiden kommen direkt von derSchwarzmeerküste, wo sie im Dauerregen fast Schimmel angesetzt hatten. Also »southward bound«, ab nachKappadokien (was übrigens vom hethitischen Katpatuka kommt – »Land der schönen Pferde«). Bevor es ans Einquartieren geht, gibt’s erst einmal ein Bier auf der Terrasse. Der Abend klingt dann bei türkisch-französischer Kost, Wein aus Uçhisar und viel Bikerlatein aus.

Sigi und Petra schwingen sich am Morgen für eine Tagestour auf ihre Moppeds, wir holen die Wanderung nach. Trotz der akribischen Reiseplanung, die sich ansonsten auch durchweg bewährt hat, hatte ich einen Fehler begangen, nämlich die Größe Kappadokiens und die Vielzahl seiner Sehenswürdigkeiten unterschätzt – und entsprechend zu wenig Zeit eingeplant. Schnell wird klar, dass wir nur einen Bruchteil werden sehen können, wenn wir unsere Routenplanung halbwegs einhalten wollen.

Marco fährt ein paar Kilometer bis Göreme, wo wir dann in die Tuffsteinlandschaft einsteigen. Die Schönheit und Einzigartigkeit dieser Landschaft lässt sich mit Worten nicht beschreiben, auch der versierteste Fotograf kann mit seiner Kamera nur einen bescheidenen Eindruck davon vermitteln. An manchen Stellen meint man sich in die Kulissen eines Fantasyfilms versetzt. Kultur und Natur sind ganz dicht verwoben. Man läuft irgendwo über eine Tuffsteinkuppel und sieht auf einmal, dass da ein kleiner Schornstein aus dem Boden ragt. Dabei ahnt man nur, was sich da unter einem im weichen Fels erstreckt. Besonders beeindruckend sind die phallusförmigen Felsgebilde und die, die wie Zipfelmützen aussehen.

Für unsere heutige Wanderung hat sich Marco das Taubental ausersehen, so genannt, weil man in den dortigen Felsen sehr viele Taubenschläge findet. Früher wurden die Tauben einmal im Jahr mittels Feuer und Rauch für kurze Zeit aus ihren Höhlen vertrieben, damit man an ihre Hinterlassenschaften kommen konnte, die dann als wertvoller Dünger Verwendung fanden. Wir besichtigen einige Höhlen, von denen ein paar als Kirchen dienten, was noch gut an den Ausmalungen zu erkennen ist. Geschafft kommen wir gegen Mittag wieder im Hotel an, ahnend, dass wir nochmal wiederkommen müssen, denn viele der beeindruckendsten Stätten haben wir noch gar nicht zu Gesicht bekommen, etwa die erwähnten unterirdischen Städte.

Am nächsten Morgen verabschieden wir uns von Sigi und Petra, nicht ohne die Verabredung, über SMS in Verbindung zu bleiben. Die beiden wollen noch weiter Richtung Osten, insbesondere zum Nemrut Dağ (mit den kolossalen Steinköpfen der Kommagene-Könige) und nach Urfa. Wir rödeln auf und orientieren uns Richtung Süden, die Kilikische Pforte und Tarsus sind unsere nächsten Wegmarken. Das Wetter ist zum Fahren nach wie vor optimal. Wir fahren die ganze Zeit, bis es südlich des Taurus zum Meer hin abfällt, auf durchschnittlich gut 1.000 Metern Höhe, angenehme, trockene Festlandsluft. Die langen, geraden Straßen lassen einen die Geschwindigkeitsbegrenzung leicht vergessen, aber ich schiele immer nach vorn rechts, denn zum Glück werden die Messungen meist aus den weiß-blauen Polizeifahrzeugen gemacht, die schräg entgegen der Fahrtrichtung am Straßenrand stehen und somit leicht zu identifizieren sind. So passieren wir im Laufe des Tages drei Kontrollen, ohne herausgewunken zu werden.

Nach etwa zwei Stunden erreichen wir den Çaycavak-Pass, der einen wunderbaren Blick auf die südlich vor uns liegende, noch schneebedeckte Bergkette des östlichen Taurus freigibt. Sicher sind die Alpen spektakulärer, aber so unvermittelt, wenn man von der endlosen Hochebene kommt …

Eigentlich ist es von hier kein großer Umweg nach Kozan. Nördlich dieser Kleinstadt wurde erst vor wenigen Jahren auf den Höhen des Karasis eine riesige Bergfestung entdeckt, die, so war in Bild der Wissenschaft zu lesen, als mögliches Versteck des legendären Diadochenschatzes gedient haben könnte. (Die Diadochen waren Feldherren Alexanders des Großen, die als dessen Nachfolger sein Reich unter sich aufteilten.) Ob unser Zeitplan das noch hergibt? Wohl nicht. Zudem mutmaßen wir, dass es insofern eine Enttäuschung sein könnte, als man nicht oder nur mit großem Aufwand auf die Festung gelangen kann (die späte Entdeckung des Areals lässt darauf schließen, dass es schwer zugänglich ist). – Nächstes Mal!

»Kilikische Pforte« – manche Begriffe haben sich in der Schulzeit unauslöschbar ins Hirn gebrannt, ohne dass man noch wüsste, was es damit auf sich hat. Dieser Taleinschnitt war durch die Jahrhunderte der einzige Zugang von Norden her in die Levante und den vorderen Orient. So mussten alle Heere, von Alexander über die Kreuzzügler bis hin in neuere Zeiten diesen Durchgang benutzen. Ich bin gespannt. Natürlich ist diese Stelle auch heute noch ein bevorzugter natürlicher Übergang für LKW, die nach Adana oder zu anderen Orten wollen. Uns nerven der Gestank und die Fahrweise gehörig und wir sind froh, dass diese Kisten ab spätestens Pozantı die neuere Autobahn nehmen, während wir die regelrecht lauschig-romantische Landstraße fahren. Ein sehr eigenwilliges und gefährliches Fahrmanöver von Rendel veranlasst mich, ihr einen deftigen Anschiss zu verpassen, was mich daran erinnert, dass es bislang noch praktisch keine Unstimmigkeit geschweige denn Streit auf unserer Tour gab – was dann auch so bleiben sollte.

Die nächste Fahrtanweisung lautet: »In Tarsus rechts ab!« – also Richtung Westen an der Küste lang. Bibelkundige horchen beim Namen »Tarsus« auf, stammt doch der bekannte Apostel Paulus, ehedem Saulus, von hier. Der Reiseführerhinweis, dass es hier aber nicht viel zu sehen gäbe, gepaart mit unserer Abneigung größeren Städten gegenüber, lässt es uns dabei bewenden, am Ortsschild eine kurze Rast und ein paar Bilder zu machen. Es ist heiß, und wir ahnen, dass uns die Strecke zum nächsten Etappenziel noch einiges abverlangen wird, besonders die Fahrt durch Mersin, zumal wir dort gerade zum Feierabendverkehr eintreffen werden. Wenn man sich die Ausdehnung einer Stadt auf der Landkarte ansieht, erliegt man leicht der Fehlannahme »Ach, da sind wir schnell durch.« So auch bei Mersin. Die Vor- und Wohnstädte ziehen sich schier endlos. Rush hour in einer türkischen Großstadt – Nervenkitzel vom Feinsten. Wieder einmal sind wir froh, dass wir uns vor dem Urlaub mit einem Helmfunksystem ausgestattet haben. »Achtung, der kommt raus!«, »Komm ran, sonst kriegst du die Ampel nicht mehr!«, »Sch…, sieht mich der Trollo denn nicht?«

Obwohl wir am liebsten Gas geben würden, müssen wir doch eine Rast einlegen. Mitten in Mersin, der Heimatstadt von Seher, Rendels Türkischlehrerin, biegen wir kurz von der Haupt- in eine Seitenstraße ein und parken dieMotorräder. Ich suche einen Market und eine Bäckerei. Unverkennbar, dass Touristen hier eher selten sind. Zuvorkommend und freundlich-schüchtern werde ich bedient. Zurück bei den Motorrädern sehe ich Rendel schon von Menschen umringt. Bedingt durch die lange Türkeierfahrung hege ich keinen Argwohn oder gar Angst, ich weiß, dass es hier wahrscheinlich wieder darum geht, eine Touristenattraktion zu bewundern – wobei in diesem Fall jedoch der Tourist selbst die Attraktion darstellt. Zuerst war Rendel, als sie den Helm abnahm und sich als weiblich outete, von einigen jungen Frauen angestaunt worden. Kurz drauf öffnet sich die Tür des Hauses, vor dem wir geparkt hatten, und einige Leute kommen heraus. Wir werden freundlich begrüßt, zunächst gibt’s kühles Wasser aus einer demonstrativ für uns frisch geöffneten Flasche. Dann werden Stühle rausgeholt und Kaffee aufgesetzt. Fröhliches Palaver über das Woher, Wohin und Warum – vor allem »Warum mit dem Motorrad? Habt ihr denn kein Auto?!« Eine typisch türkische Frage. Das Auto ist eben immer noch Statussymbol (kein Wunder, bei etwa € 1,70 für einen Liter Normalbenzin). Wohl beunruhigt, dass wir eine solche Frage als beleidigend werten könnten, entgegnet einer unserer Gastgeber dem Fragesteller: »Aber schau doch mal, was für grooße Motorräderdas sind!«

Wieder einmal sind wir froh, dass wir uns etwas verständlich machen können. »Gastfreundschaft, Freundlichkeit« – diese Begriffe sind mittlerweile mit Bezug zur Türkei fast jedem Deutschen zumindest vom Hörensagen bekannt. Auch wir haben diese hier selbstverständlichen Gepflogenheiten viele Male erlebt und genossen (und sind häufig beschämt worden). Doch hier, mitten im staubig-heißen Mersin, sind wir wieder einmal überwältigt, zumal unsere Gastgeber offensichtlich nicht zu den vom Leben bevorzugten Menschen gehören. Aber vielleicht wissen gerade die, die selbst nicht viel haben, noch am besten, wie wichtig Teilen und Gastfreundschaft sind. An Leib und Seele gestärkt, begleitet vom Wunsch »Iyi yolculuklar!« – »Gute Reise!«, starten wir unsere Moppeds für das letzte Teilstück des Tages.

Als heutiges Etappenziel soll Taşucu dienen, eine kleine Hafenstadt, die bei türkischen Urlaubern beliebt ist und die einen wichtigen Fährhafen nach Nordzypern darstellt. Vorbei an der Meeresfestung Kizkalesi und seinen Hotels fahren wir die Küste entlang und treffen am frühen Abend in Taşucu ein. Die Pension, die wir uns ausgesucht haben, ist schnell gefunden. Da keine Menschenseele anwesend ist und uns die angeschlagene Telefonnummer auch nicht weiterbringt, suchen wir nach einer Alternative. Vorschlag b) des Reiseführers, die Meltem Pension, erweist sich schließlich sogar als die bessere Wahl, da ruhiger (dazu später mehr) und nur durch einen Fußweg vom Meer getrennt. Wie immer freundliche Gastgeber, die uns ein schönes Zimmer zuweisen, das wir jedoch noch einmal wechseln müssen, da die Klimaanlage nicht funktioniert. Im Nachbarhotel hat sich wohl eine Schulklasse einquartiert. Eingeräumt, geduscht, Hunger. Also an der gepflegten Promenade entlang Richtung Ortsmitte. Bei »Pension Vorschlag a)« regt sich mittlerweile auch etwas, aber wir sind froh, woanders untergekommen zu sein. Wir entscheiden uns für ein typisch türkisches Familienrestaurant, was fast immer ein Garant für gutes, traditionell zubereitetes und zudem preiswertes Essen darstellt. Der Umstand, dass das zumeist auch »alkoholfrei« bedeutet, ist zu verkraften. Tatsächlich ist das Essen supergut und kaum zu schaffen.

Mit vollem Bauch spazieren wir zur Pension zurück. Schon von Weitem hören wir etwas, das man zunächst nur als Lärm bezeichnen kann, verursacht wohl durch eine riesige Trommel (Davul genannt) und dieses typische, etwas quäkig klingende türkische Blasinstrument (die Zurna). An der Pension angekommen, stellen wir fest, dass sich das Spektakel ausgerechnet in unserem Innenhof abspielt. Oh nein! Die ganze Nacht Party, und das mit der Trommel, die es ohne Weiteres mit dem Wummern einer Bassdrum in einem aufgemotzten VW Polo in einer lauen Sommernacht aufnehmen kann. Beim Nähertreten zeigt sich, dass sie auch schon tanzen. Aber nur Jungs! Acht bis zehn in einer Linie, die Arme jeweils über die Schultern des Nebenmanns (erinnert etwas an Sirtaki). Drehung, in die Knie, aufspringen, die Beine fliegen nach vorn – alles exakt synchron, gleichmäßig, kraftvoll. Wir werden gewahr, dass es sich bei den Jungen um eine Gruppe aus Trabzon (am Schwarzen Meer) handelt, die zum jährlich stattfindenden Musik- und Folklorefestival in der Nachbarstadt Silifke angereist sind. Dort findet auch ein Tanz-Wettbewerb statt. Die Jungen besuchen ein Gymnasium, auf dem, als sportliches »Vertiefungsfach«, dieser spezielle Volkstanz gelehrt wird. Die Trainer und Schüler kommen mit uns ins Gespräch, erklären uns den Tanz und den Grund der abendlichen Vorstellung – und uns wird klar, dass das nur ein kurzes Abschlusstraining für den morgigen Auftritt war, die Nachtruhe sollte also gesichert sein. Ärgerlich nur, dass wir in dem Moment keinen Fotoapparat zur Hand haben.

Beim Frühstück merkt man den Tänzern und ihren Begleitern die Nervosität an. Wir sind auch freudig erregt, denn wir planen einen Tagesausflug zu einer Stätte, die ein Reiseführer so beschrieb: »Schöner können Ruinen nicht liegen.« Mal sehen. Wir wollen nach Alahan (nicht zu verwechseln mit dem fast gleichklingenden »Alarahan« beiAlanya). Erst einmal geht’s ein Stück zurück Richtung Silifke, dann nach Norden, zunächst immer entlang am Göksu Nehri. Schon nach kurzer Zeit funkelt der Fluss grünlich durch die Bäume. Kein Wunder, dass sich Kaiser Barbarossa auf seinem Kreuzzug zu einem Bad im kühlen Wasser verführen ließ. Was er allerdings mit dem Leben bezahlte. Ob Herzschlag oder unzureichende Schwimmkünste – auf jeden Fall erinnert eine deutsch- und türkischsprachige Gedenkplatte, gestiftet vom deutschen Botschafter, an den tragischen Tod des Kaisers. Weiter folgen wir dem Flusslauf, kreuzen ihn hier und da. Ich war noch nie dort, der Vergleich einiger Stellen mit dem Grand Canyon scheint vielleicht etwas übertrieben, aber doch naheliegend zu sein. Meine rechte Schulter, die mich schon seit einigen Tagen piesackt, meldet sich wieder. Muss wohl mit der etwas verkrampften Haltung des Arms mit der »Gashand« zu tun haben. Also öfter mal ’ne Pause. Die Gegend wird zusehends karger, nach Mut wird es gebirgig. Auf dieser Strecke hat ein Africa Twin-Kollege, den wir in Kappadokien trafen, ziemlich viel Geld für eine Geschwindigkeitsübertretung gelassen, also obacht! In einer Rechtskurve, links eine kleine Ansammlung von Häusern, endlich der Hinweis Alahan. Man soll wohl anfahren können, jedoch alles Schotter und enge Serpentinen – wie gemacht für Rendel … Auch sie weiß mittlerweile, dass es hoch einfacher geht als runter. Wieder einmal zeigt sie, dass sie kein Hasenherz hat, nimmt die Strecke couragiert unter die Reifen. Nach zwei Kilometern bergauf ein Parkplatz. Schon der Blick über die Ebene, Alahan liegt etwa 1400 Meter hoch, gibt dem Reiseführer recht. Wenn jetzt die Ruinen als solche noch …

Die Anlage ist eine rein sakrale, sprich: eine Klosteranlage aus byzantinischer Zeit. Sie besteht im Wesentlichen aus zwei Kirchen (im Westen nicht mehr gut erhalten, die östliche dagegen umso besser), dazwischen ein Baptisterium, also eine Taufkapelle. Mit Abstand am imposantesten ist die östliche Kirche, vor allem wegen des guten Zustands. Immer noch (bzw. nach der Restauration wieder) strecken sich die hohen Rundbögen majestätisch in den Himmel. Etwas Holz für’s Dach und für die Kirchenbänke, schon könnte man hier wieder Gottesdienst feiern. Die fast absolute Ruhe verstärkt noch den andächtigen Charakter des Orts. Interessant ist für mich die Ausgestaltung des Baptisteriums, insbesondere des eigentlichen Taufbeckens, selbst noch im 5. Jahrhundert offensichtlich für eine Erwachsenentaufe ausgelegt. Eindrücklich auch die Einfassung des Beckens in Kreuzform. Derartige Taufbecken aus vergleichbarer Zeit haben wir mehrfach zu Gesicht bekommen. Also ein absolut wunderbarer Ort, dem wir einerseits mehr Besucher wünschen würden, andererseits … Hier müssen wir uns wirklich losreißen.

Beim Abstieg zeigt Rendel wieder, was sie gelernt hat, unterstützend gebe ich ihr über Funk noch ein paar Hinweise. Unten angekommen regt sich dann doch noch ein menschliches Wesen, der unvermeidliche Parkwächter fordert seinen Obolus: etwa zwei Euro pro Person – wir hätten auch zehn gezahlt.

Bei der Rückfahrt dränge ich ein wenig, da ich meine Schulter kaum mehr ertragen kann. Zum Glück legt sich der Schmerz nach der Fahrt immer wieder schnell. In der Pension herrscht gespannte Ruhe. »Unsere« Jungs treffen die letzten Vorbereitungen für ihren großen Auftritt. Durch die Zimmerfenster sieht man sie einzeln oder zu zweit, wie sie die Schritte nochmal üben, manche haben schon ihre traditionellen Kostüme angelegt. »Bol şans!« – »Viel Glück!«

Wir suchen nach einem Restaurant, dessen Terrasse direkt über dem Meer liegen soll und dessen Küche als eine der besten in Taşucu gilt. Ein deutsch sprechender Kellner weist uns einen schönen Tisch an und zeigt uns die Vorspeisen. Optisch schon mal vielversprechend, und der äußere Schein sollte nicht täuschen. Rendel hat es besonders das Humus mit gebratenem Speck angetan (schmeckt wie Schwein, ist es aber ganz sicher nicht …) – Das war mal wieder ein Tag, den man uneingeschränkt als »rund« bezeichnen kann (abgesehen von der schmerzenden Schulter). Die Nacht hingegen ist etwas unruhig; augenscheinlich haben die Trabzoner gut abgeschnitten, was sie, zusammen mit den Mädels aus dem Nachbarhotel, angemessen feiern. In manchem entspricht das Miteinander und das Verhalten dem bei uns: in Grüppchen tuschelnd umherflanieren, immer das Handy am Ohr oder am Simsen. Andererseits ist der Umgang zwischen den Geschlechtern wesentlich zurückhaltender, auch Alkohol sieht man kaum (viele – Jungen wie Mädchen – sind jedoch am »quarzen«).

Nach einem schönen Frühstück, bei dem ich die meist etwas muffelig dreinschauende Putzfrau noch zu einem herzhaften Lachen herausfordern kann, geht’s los – fast, denn am Ortsausgang fällt mir ein, dass mein Personalausweis noch beim »Pensionär« liegt.

Wir wollen heute in das kleine, rosa Hotel am Ufer des Oymapınar-Stausees nördlich von Manavgat. Dazu geht es erst durch die Berge nach Anamur. Das bedeutet auf jeden Fall eine wunderschöne Strecke mit unzähligen Kurven, häufig »überdacht« von Pinien. Die alte Bundesstraße ist hier noch nicht ausgebaut und entsprechend eng. Auf den ersten 20 Kilometern ist es sehr voll, viele PKW und Kleinlaster. Dann lichtet es sich. Rendel möchte gern eine Rast, ich verspreche ihr, nach einem guten Platz Ausschau zu halten. Überall am Straßenrand stehen Obststände, die vor allem die hier angebauten, nur gut fingerlangen und zuckersüßen Bananen (Muz) feilbieten. Bei einem Händler halte ich und erbitte »İki kilo, lütfen«. Der Preis, den er mir nennt, liegt etwa beim fünffachen dessen, was mir als aktueller Preis geläufig ist. Diesen biete ich, worauf der Händler breit grinst und mir noch ein paar Orangen mit in die Tüte stopft. So verproviantiert steuern wir ein Plätzchen auf einer Klippe an, wo wir uns ausruhen und stärken.

Ich bin gespannt auf Anamur. Vor fünfzehn Jahren war es ein verschlafenes Nest. Wie so viele Städte, ist es kaum wiederzuerkennen: breite Straßen, hohe Häuser – schade, aber wohl unvermeidbar. Ähnlich verhält es sich mitAlanya, obwohl wir hier natürlich vorgewarnt sind. Schon von Weitem sieht man, wie sich rechter Hand ein riesiges, festungsartiges Hotel gegen den Himmel abzeichnet. Die Straßen werden sechs- und mehrspurig, Hotel an Hotel, so weit das Auge reicht. Im Grunde weiß man nicht, wo Alanya anfängt und wo man schon im nächsten Ort ist. Entsprechend unangenehm gestaltet sich auch die Fahrt. Heiß, glatter Asphalt. Einzig die interessierten bis begeisterten Reaktionen mancher Verkehrsteilnehmer muntern etwas auf. Ein schon älteres Paar überholt uns hupend und winkend, Beifahrer in LKW rutschen auf die Fahrerseite um zu grüßen und zu fragen, wo wir herkommen, vor allem meine großen Koffer scheinen es vielen angetan zu haben. Unzählige anerkennend nach oben gereckte Daumen strecken sich uns entgegen. Einmal war es wie in einer Slapstick-Nummer: Der Fahrer eines Lastenfahrrads (vorne zwei Räder, hinten eins) schaut uns während der Fahrt mit offenem Mund nach – und lenkt sein Gefährt fast in den Straßengraben!

Beim einem Ampelstopp in Alanya hält neben mir ein etwas beleibter Mofafahrer, Schutzkleidung bestehend aus T-Shirt, Turnhose und Badeschlappen. Auf einmal zupft er an meinem protektorenbewehrten Ärmel und nickt anerkennend. Etwas verdutzt schaue ich zunächst wieder nach vorne. Dann wende ich mich ihm zu, kneife entsprechend in seinen nackten Arm und kommentiere »yok« – »nichts«. Wir beide grinsen, und Rendel, die das verfolgt, kringelt sich vor Lachen. Trotzdem bewerte ich diesen Teil der Etappe abends vor anderen Reisenden so: »Ich habe die Vorhölle gesehen!« – Mir völlig unverständlich, wie Deutsche ausgerechnet nach Alanya ziehen können.

Manavgat hingegen scheint sich noch etwas von seinem Charme erhalten zu haben. Wir schlängeln uns durch die Stadt und suchen den Weg Richtung Norden. Der Oymapınar-See, in dem der Manavgat-Fluss gestaut wird, ist bald ausgeschildert. Nach einigen Kilometern durch grüne Wälder kommen wir am Eingang des Reservoirs an einen Polizeiposten. Neben der Frage nach dem Weg stehen unsere Motorräder im Mittelpunkt des Gesprächs. Hier sind wir auf jeden Fall falsch, wir müssen zur anderen Seite des Sees. Tatsächlich: Nach einiger Zeit sehen wir am jenseitigen Ufer das rosa Gebäude, unser Ziel. Und klasse: Dahin führt nur eine bessere Cross-Strecke! Was Rendel etwas anders bewertet. Aber toll, wie sie eine Herausforderung nach der anderen annimmt und meistert. Vor dem Hotel, das sehr einsam und malerisch gelegen ist, treffen wir den Gärtner (vielleicht war es auch der Inhaber). Auf jeden Fall bedeutet er uns recht mürrisch, dass das Hotel geschlossen ist. Keine weitere Erklärung. Wir sind völlig kaputt, mittlerweile auch schon etwas gereizt. Was nun? Wir hatten vorher auch eine Hütte auf einem Campingplatz in Kizilot, von hier aus gesehen wieder hinter Manavgat, ins Auge gefasst, der, so der Reiseführer, »von der freundlichen Schweizerin Verena geführt wird«, uns dann aber doch für Oymapınar entschieden. Also alle Kraftreserven gesammelt und zurück. Nach einigem Suchen und Verfahren sehen wir den Wegweiser »Nostalji Camping«. Der Platz soll direkt am Strand liegen. Okay, und da ist die Pension. Zwar empfängt uns keine »freundliche Schweizerin«, doch zeigen uns einige Türken die Zimmer – nicht, ohne uns zuvor zu fragen, ob wir verheiratet sind. Das Hotel ist leer, die Zimmer heiß und stickig (wiewohl mit Klimaanlage). Hauptsache angekommen. Als ich gerade mein Mopped abrödeln will, fällt mein Blick aufs Nachbargrundstück. Eine blonde Frau winkt mir zu. Hmmh. »Sind Sie die ›freundliche Schweizerin Verena‹?« – »Ja, wer nennt mich so?« Okay, wir haben uns vertan. Also schnell von den Türken verabschiedet und rüber. Der Platz ist klein, Stellfläche für etwa zehn Wohnmobile, dazu zwei Doppelhäuschen mit jeweils einer netten Veranda. Eins davon ist unseres! Die Anlage ist zum Teil von hohen Bäumen überschattet und sehr lauschig. Dazu gehört ein Restaurantteil, eine Bar und ein eigener Strandabschnitt. Verena führt den Platz mit einem türkischen Helfer, dazu hat sie zwei riesige, aber lammfromme Hunde (an denen ich – Schimpf und Schande über mich! – einfach mal meine Ultraschall-Hundescheuche ausprobieren muss. Funktioniert …)

Klasse Essen, guter Wein – mehr muss es nicht sein. Zumindest für heute. Wir unterhalten uns noch ein wenig mit den anderen Gästen, zumeist pensionierte WoMo-Treiber aus Deutschland, die zum Teil zwei Monate oder mehr Zeit haben. Ein Traum.

Wieder einmal überrascht uns, dass wir, wie fast immer auf dieser Tour, keine Probleme mit Mücken haben. Auch hier meine ich erst das Mückennetz vermissen zu müssen, wir haben aber keins gebraucht. Nach dem Essen setzt sich Verena noch zu uns. Als sie hört, dass ich beruflich theologische Bücher mache, haben wir gleich ein gemeinsames Thema. Es scheint, als habe sie es vermisst, mal wieder ausführlich und offen mit jemandem zu quatschen, einen Gefallen, den wir ihr gerne tun, zumal ihre Geschichte wirklich hörenswert ist. Nicht nur eine nette, sondern auch eine starke Frau.

Wir ringen mit uns, wie die letzten Etappen aussehen sollen. Noch über Patara oder nicht? Mein Sicherheitsdenken empfiehlt mir, uns nicht zu spät in Richtung Edirne, von wo aus wir die Türkei per Autoreisezug zu verlassen gedenken, aufzumachen. Schließlich entscheiden wir uns für zwei Tage Patara, was bedeutet, dass wir drei statt zwei Nächte bei Verena bleiben können. Also ist richtig Abhängen angesagt. Ich entschließe mich, mal wieder einen Berber aufzusuchen. Zum Glück ist einer in Laufweite. Der Meister liegt auf seiner Bank und schaut eine Soap. Sichtlich unwillig erhebt er sich und seift mich ein, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Hin und wieder lacht er laut los. Vorsicht, du hast ein Rasiermesser in der Hand! Aber alles läuft ohne Blutvergießen, zudem für nur 10 YTL. (Für den interessierten Herrn: Das beinhaltet – zumindest bei mir: zwei Mal den Bart mit dem Messer rasieren, entsprechend den Schädel von den letzten, sich wehrenden Stoppeln befreien und die, von mir so genannte, »Feuerzeremonie«, bei der letzte Härchen an Wangen und Ohren abgeflämmt werden, zum Schluss eine Kopf- und Oberkörpermassage, deren Wirkung sich zumeist nur mit der Floskel vom »wie neu geboren sein« beschreiben lässt.) Wir nutzen den Rest der Zeit zum Relaxen, Wäsche waschen u. ä. Verena verrät uns, dass auch die Autoren der Michael-Müller-Türkeireiseführer gerne bei ihr übernachten.

Am Morgen unserer Abreise leert sich der Platz fast völlig, auch wir zahlen und sagen »Görüşürüz!« – »Tschüss!«

Die Streckenführung der Etappe nach Patara ist uns geläufig, nur in Antalya müssen wir kurz nach der Abzweigung in Richtung Burdur fragen. (Wir fahren also über Land, wobei die Strecke an der Küste lang – Stichworte: Kemer,Olympos, Finike und Kaş – natürlich auch ihren eigenen Reiz hat.) Durch die majestätischen Berge geht es vorbei an der grandios gelegenen Bergfestung Termessos, die selbst Alexander dem Großen trotzte, in Richtung Korkuteli und von dort nach Elmalı. Elmalı ist uns ein wenig vertraut, hier kommt Ramazans Familie her (Ramazan ist unser Hotelier und »Fast-schon-Freund« in Patara). Zeit zum Essenfassen, außerdem muss ich an den Geldautomaten. Als ich von dort zurückkomme, ist Rendel schon wieder von einer Horde Mädchen umzingelt, diesmal Teenager in ihren blauen Schuluniformen. Ganz unschüchtern versuchen sie, ihre Englischkenntnisse zu erproben: »What is your name?« Als ich antworte »Detlev«, kichern sie nur. Blöde Hühner. Mopped teilweise abrödeln? Nee, wenn irgendwo nichts wegkommt, dann hier, selbst die GPS bleiben dran. Es ist Mittagszeit und das große, einfache Restaurant ziemlich voll. Viel Personal wuselt durch die Gegend, unverkennbar die klar geregelte Hierarchie – vom Oberkellner bis zum Tischabputzer. Elmalı lebt vom Obstanbau, vor allem von Äpfeln (Elma heißt »Apfel«). Ein Mann kommt an unseren Tisch und stellt sich als Holländer vor, der hier bei der Zucht neuer Apfelsorten berät. Das Essen – kaum nötig zu erwähnen – ist wieder klasse und preiswert.

Der Strecke nach Patara fiebere ich schon ein wenig entgegen, denn oft, wenn wir hier mit dem Auto langfuhren, hatte ich mir schon gewünscht, das Stück auf zwei Rädern genießen zu können. Sorgenfalten bereitet der Blick zum Himmel. Regen käme, nicht zuletzt im Blick auf die abnehmenden Urlaubstage, nicht gut. Aber es bleibt trocken und die Strecke ist schön. Rendel muss dort unbedingt ein Foto von mir machen. Dann geht es die letzten Haarnadeln nach Kalkan runter, dann über Yeşilköy nach Patara. In den Kurven auf den letzten Kilometern rutscht Rendel nochmal das Hinterrad heftig weg, nicht schlimm, aber eine Warnung, trotz der Gewöhnung doch immer ein Auge auf die Fahrbahnbeschaffenheit zu haben.

Die Einfahrt in Patara ist immer ein wenig wie coming home. Trotz der Helme erkennen uns schon einige und winken uns zu. Am Hotel Ferah rührt sich nichts, dann sehe ich Semra, die Tochter des Hauses, um die Ecke kommen. Bewusst lasse ich den Helm auf und frage auf Türkisch, ob ein Zimmer frei sei: »Boş oda var mı?« Semra erschrickt ein wenig, ruft dann laut »Detlev!« – Ja, ja, ich bin’s! Nach freudiger Begrüßung und Präsentation ihrer kleinen Tochter Yildiz führt sie uns auf das Zimmer. Ehrensache, dass wir die 19, unser Zimmer, bekommen. Wir wollen nur zwei Nächte bleiben, darum lautet das Hauptproblem: Welchem Lokal lassen wir an dem Abend die Ehre unserer Anwesenheit angedeihen (am zweiten Abend wollen wir unbedingt nach İslamlar zur Fischfarm)? Wir entscheiden uns für das Aspendos, Inhaber »Osmans Bruder«, dessen Frau die Herzlichkeit in Person ist. Schön, wieder zu Hause zu sein.

In der Nacht schüttet es wie aus Eimern, ich liege wach und lasse besorgt den Zeitplan für den Rest der Reise vor meinem Innern ablaufen. Wenn es sich so richtig einregnet? Für die Jahreszeit eher ungewöhnlich, aber wenn ich an die beiden Bayern an der Schwarzmeerküste denke …

Patara heißt fast zwangsläufig: Strand, zumal, weil wir bislang kaum Gelegenheit zum Baden hatten. Also auf dem bewährten Beer Can Track ans Meer. (Ein freundlicher Zeitgenosse hat vor Jahren den kürzesten Weg, mitten durch Olivenhaine, Dünen und Gestrüpp, mittels leerer Bierdosen markiert.) Kaum ein Mensch zu sehen. Relaxen pur. Wieder einmal sind wir froh, dass sich die Tourismusindustrie hier noch nicht gegen die Interessen der Naturschützer und Archäologen durchsetzen konnte. Man braucht nicht viel Fantasie um sich vorzustellen, wie schnell der – je nach Messweise – acht bis zwölf Kilometer lange Sandstrand verbaut sein würde. Im Moment sieht man vom Strand aus so gut wie kein Haus – abgesehen von den Ruinen des antiken Patara.

Abends machen wir uns dann zeitig in Richtung Fischfarm auf. Neben dem Vorsatz, nicht bei Regen zu fahren, gilt ein zweiter: Nie bei Nacht fahren – und das gilt auch und gerade für den Weg hoch nach İslamlar. Die Strecke ist sehr kurvig, mit Schlaglöchern übersät, teilweise Sand, Lehm und Schotter auf der Fahrbahn, zudem lauern überall Köter, die nichts Besseres zu tun haben, als Zweiradfahrer zu erschrecken. Rendel will mein Angebot, mich mal als Sozius hintendrauf zu nehmen, nicht annehmen, mit Blick darauf, dass es bei der Rückfahrt doch schon dunkel sein könnte, möchte sie auch nicht selbst fahren, also rauf auf meinen Rücksitz.

Der Juniorchef des Restaurants begrüßt uns wie immer mit zurückhaltender Freundlichkeit. Eine detaillierte Bestellung erübrigt sich, ähnlich wie beim heimischen Döner kann die eh nur lauten: »Mit alles!« In einem Alabalık-(Forellen-) Restaurant heißt das natürlich zunächst frisch vor unseren Augen gefangene Forelle (danach schwimmend in Öl gebacken). Trotz aller Schlichtheit und Frugalität sind die Beilagen fast noch sensationeller: Pommes frites aus frisch geschnittenen Kartoffeln, eingelegte scharfe Peperoni, überbackener, pikant gewürzter Schafskäse, hauchdünnes Fladenbrot, Frühlingszwiebeln, Çoban-Salat, eingelegte Oliven und manches mehr. Nur den Rotwein verkneif ich mir heute aus fahrsicherheitstechnischen Gründen. Trotzdem wir hier zigmal waren, erstaunt uns immer wieder, wie niedrig der Rechnungsbetrag ausfällt und wie gleichbleibend gut die Qualität ist. Üç Kardeşler – »Drei Brüder« – ist unser Lieblingsrestaurant in der Türkei. (Wobei der Hinweis nicht fehlen soll, dass man mit »Restaurant« – wie häufig in der Türkei – nicht unbedingt das assoziieren sollte, was man bei uns gewohnt ist. In diesem Fall handelt es sich um ein kleines Häuschen mit überdachter Terrasse, einfach möbliert mit Tischen und Stühlen. Der Bach fließt unter dem Haus durch und dann in die Forellenbecken. Auf der Terrasse sitzend hört man das Rauschen und genießt gleichzeitig den herrlich weiten Blick bis auf’s Meer in RichtungKalkan – mit Geld nicht zu bezahlen.)

Wieder im Hotel scheint sich schon zu rächen, dass ich mich am Strand von Rendel nicht hab vernünftig eincremen lassen. Warten wir’s ab.

Der Himmel ist bewölkt, aber nicht bedrohlich. Wir rödeln die Moppeds auf, mittlerweile eine Sache weniger Minuten, und fahren winkenderweise durch Patara in Richtung Fethiye, das wir aber links liegen lassen. Über Yatağan und Muğla soll es zunächst nach Aydın gehen, Heimat eines meiner Lüdenscheider Dönermänner, von da nach Selçuk, an das direkt das alte Ephesus grenzt. Die Strecke vor Aydın ist von der Straße her öde, landschaftlich aber recht schön. Linker Hand erstreckt sich das bizarr geformte Latmos-Gebirge. Das hatten wir vor Jahren schon mal von der anderen Seite kennengelernt, als wir eine Woche im alten Herakleia ad Latmos, dem heutigen Kapıkırı, direkt am Bafa-See gelegen, verbrachten. Das Gebirge wirkt so verwunschen, dass ich mich immer fragte, wie es wohl dahinter aussieht. Im Latmos hat eine deutsche Archäologin vor nicht langer Zeit beeindruckende steinzeitliche Zeichnungen, geschätzte 8.000 Jahre alt, entdeckt. Wir dürfen uns zu den wenigen Menschen zählen, die diese, tief im Gebirge verborgenen Zeichnungen schon »live« zu sehen bekamen.

Mittagszeit, Hunger macht sich breit. Lange vor dem Ort Çine buhlen mittels riesiger Werbetafeln einige Restaurants um die Gunst der Vorbeifahrenden, unter anderem eins namens Köfteci Dede, was etwa mit »Köfte-Opa« zu übersetzen ist. Davor ein großer Parkplatz, auf dem eifrige Helfer die PKW der Gäste waschen, während diese essen. Eigentlich ein McDonald’s auf türkisch – nur viel besser. Wir sind pappsatt, trotzdem fällt die Zeche so gering aus, dass wir es (wieder mal) kaum glauben können.

Aydın ist als Provinzhauptstadt auch nicht klein, umso froher sind wir, sie im Wesentlichen umfahren zu können. Kurz vor Selçuk noch mal Sprit fassen. Gut, dass die Tankstellen allesamt Kreditkarten akzeptieren. Zwei Mal am Tag zwei Motorräder mit Sprit zu € 1,70 je Liter voll tanken – das geht ins Geld. Die Kreditkarte macht es zwar nicht billiger, aber einfacher.

Schließlich rollen wir in Selçuk ein und suchen anhand eines Ministadtplans den Weg zur Diana-Pension. Nach etwas Rumfragen finden wir sie in einer ruhigen Seitenstraße. Ein Zwölfjähriger, der wohl kurzzeitig die Amtsgeschäfte des Hoteliers übernommen hat, empfängt und hilft uns, die Sachen aufs Zimmer zu bringen. Nachdem wir die Lage des Zimmers gecheckt haben, ziehen wir noch einmal um, hier ist es ruhiger und etwas kühler. Meine Haut brennt.

Mittlerweile hat sich auch der Inhaber eingestellt, ein freundlicher Enddreißiger. Er ist etwas aufgeregt, da sich ein indischer Ex-General mitsamt Frau als Gast angekündigt hat, den er am nächsten Tag irgendwo abholen soll. Wir marschieren in die Stadt in der nicht grundlosen Hoffnung, etwas zu essen zu bekommen. Vorher streifen wir noch über den Wochenmarkt, der in der Nachbarschaft abgehalten wird, schauen den Einheimischen zu und bewundern wie immer die Massen an Obst und Gemüse und – das Meer ist ja nicht weit – an frischem Fisch.

Um den Stadtkern verteilen sich die immer noch imposanten Reste der alten Stadtmauer. Auf jedem der Stümpfe nistet ein Storchenpaar, das seine Hinterlassenschaften ungeniert auf die Straße hinabfallen lässt. Ich rufe kurz im Betrieb an, nur, um mir versichern zu lassen, dass es auch ohne mich läuft. Etwas kaputt und genervt kann ich mich nicht für ein Lokal entscheiden, wir setzen uns in der Fußgängerzone an einen einfachen Tisch und essen ausnahmsweise schlicht Spaghetti, die der deutsch sprechende Koch super zubereitet. Von allen Städten dieser Größenordnung, die wir bislang in der Türkei kennengelernt haben, hat uns Selçuk mit am besten gefallen, besonders die netten, sehr einladenden Fußgängerzonen.

In der Pension lasse ich mir noch einen Wein empfehlen (»Nimm den, der ist zwar billiger, aber besser!«); ich leere die Flasche, Rendel im Arm, auf einer Bank auf der Dachterrasse, die einen schönen Blick auf die Umgegend und die Festung bietet, hinter der gerade die Sonne untergegangen ist.

Am nächsten Tag lässt mich der Junior mal an seinen Computer, damit ich eine Mail nach Bursa absetzen kann. Tochter und Schwiegersohn einer amerikanischen Geschäftspartnerin haben uns eingeladen, sie auf unserer Rücktour zu besuchen, ein Angebot, das wir aus Zeitgründen leider ausschlagen müssen.

Man kann diesen Teil der Türkei nicht besuchen, ohne Ephesus zu besichtigen. Ich war zwar 1999 schon mal hier, aber Rendel kennt es noch nicht. Natürlich zieht eine Stätte mit einer so hohen Attraktivität Unmengen von Touristen an – mit allen Begleiterscheinungen. Die meisten scheinen wirklich interessiert zu sein, was ich aber bei der aufgetakelten jungen Türkin, die versucht, das Gelände in Extrem-Highheels zu erobern, nicht annehme. Wir entscheiden uns, auf den 50-Euro-Führer zu verzichten, was wir hinterher ein wenig bereuen, zumal ich von 1999 weiß, dass die ihr Geld echt wert sind (zu der Zeit aber noch für 50 Mark). Nachdem wir die wichtigsten Dinge gesehen haben, schlagen wir uns in die Büsche und schauen uns noch ein paar Sachen außerhalb der Hauptattraktionen an. In Richtung alter Hafen (Ephesus war früher Hafenstadt, ist dann aber großflächig verlandet) stehen noch die Reste einer Kirche, auch hier wieder mit »Erwachsenen-Baptisterium«. Mein Sonnenbrand ist schlimmer als erwartet. Während wir auf einen Dolmuş warten, juckt mir die Brust wie unter tausend Nadelstichen, kratzen hilft nicht. Endlich auf dem Zimmer, creme ich mich ein, was aber nicht viel Linderung bringt. Rendel geht’s auch nicht gut, Übelkeit und Kopfschmerz (zum Glück das einzige Mal in diesem Urlaub). Ich lass sie schlafen. Für den Abend haben sich Sigi und Petra angekündigt. Schön, dann hat Rendel am morgigen Geburtstag etwas mehr Gesellschaft.

Happy Birthday! – Rendel geht’s besser. Petra nicht so. Über SMS haben wir schon erfahren, dass sie einen Sturz hatte, bei der sie sich die Hand verletzte, danach sind die beiden noch in Alanya in einem Kreisverkehr ineinandergerasselt, sie verstauchte sich den Fuß, zudem ist Sigis rechter Koffer vermatscht. (Ich sag ja: Alanya…)

Wir haben uns für heute die Johannesbasilika und das Museum vorgenommen. Das Museum beherbergt zum Großteil Funde aus Ephesus, unter anderem viele Statuen, Mosaike und Reliefs, zudem eine kleine Darstellung zur Geschichte des Gladiatorentums (sinnigerweise für Kinder aufbereitet). Hauptattraktion sind jedoch die Statuen der berühmten »Diana der Epheser«, auch als Artemis bekannt (wiewohl beide nicht ganz identisch sind). Diese, mit Stierhoden »geschmückten« Statuen, lassen einen heute noch frösteln. Nach dem Museumsbesuch lassen wir uns im Museumsgarten noch einige Portakal Suyu (frisch gepressten Orangensaft) munden.

Die Reste der Basilika sind höchst beeindruckend, das, was man als Begräbnisort des Apostels Johannes ausgibt, hat zumindest eine lange Tradition hinter sich, stützt also die Behauptung. Von dem Gebäude stehen nur noch wenige, trotzdem schöne Reste, unter anderem auch ein Baptisterium für – erraten – Erwachsene. An dieser Stelle fand im 6. Jahrhundert das Ökumenische Konzil von Ephesus statt. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich zudem eine der ältesten Moscheen der Türkei, ein Gebäude von schlichter, zurückhaltender Schönheit.

Abendessen – und Rendel lädt ein. So essen und trinken wir fein lecker auf ihre Kosten. Ich nehme Pfeffersteak. Huuh, eine Panade aus gehackten Peperoni! Da habe ich länger was von. Zum Schluss verpasst mir der Kellner noch eine gekonnte Nacken- und Schultermassage, was mir im Moment besonders gut tut. Den endgültigen Ausklang findet der Abend in der Pension. Petras Fuß wird dicker, was den Hotelier veranlasst, mit ihr noch mitten in der Nacht einen »Heilkundigen« aufzusuchen. Wer oder was immer das war: Es hat geholfen, mit viel händischem Geschick hat er für Linderung gesorgt.

Wieder Abschied nehmen. Noch ein paar Fotos und gute Wünsche, wir vereinbaren, noch bis zum Ende unserer Touren über SMS in Kontakt zu bleiben. Sigi und Petra arbeiten sich langsam nach Norden vor. Ihr Auto mit Anhänger steht in Alexandroupoli (zwischen Thessaloniki und der türkischen Grenze). Wir wollen noch auf eine Insel. Zunächst nehmen wir ausnahmsweise (diesmal bewusst …) die Autobahn, um İzmir zu umfahren. Das klappt, was die Autobahn anbelangt, auch recht gut. Aber auch hier gilt, was schon für Mersin zutraf: Die Vororte, durch die wir dann doch müssen, ziehen sich endlos. Irgendwelche Fahrbahnmarkierungen scheinen nur mehr folkloristische Bedeutung zu haben, von allen Seiten kommen sie, drängen ab, warnen durch Hupen – oder auch nicht. Rendel schwitzt Blut und Wasser, und ich mit ihr. Aber auch das ist irgendwann ausgestanden, die Straßen werden wieder freier, die Luft besser. Ich tucker mit 80 vorneweg, als sich ein junger Mann mit Krawatte mit seiner 100er-Honda – noch kein wirkliches Motorrad, aber auch kein Moped mehr – neben mich setzt und in voller Fahrt ein Gespräch über unsere Tour anfängt. Anerkennend hebt auch er den Daumen, gibt Gas und zieht davon.

Aus Zeitgründen beschließen wir, das Stück bis Ezine nicht über die Küstenstraße zu fahren, sondern durch die Berge abzukürzen. Tatsächlich erweist sich die Strecke als äußerst reizvoll, zwar geht es da nicht besonders hoch, durch die Wälder fährt es sich aber sehr schön, hin und wieder sieht man in der Ferne das Meer. Lediglich der Gedanke an den Tankinhalt lässt mich ein wenig nervös werden. Keine Tankstelle in Sicht – und Rendel fährt schon auf Reserve. In der nächsten Kurve stottert auch mein Motor, also auch dessen Benzinhahn auf R-Stellung gebracht. Rendels Motor brauchte immer etwas mehr, müsste also »kurz vor alle« sein. Endlich, mitten in der Walachei, das erlösende Tankstellenschild. Zum ersten Mal können wir beide Tanks fast mit dem Nenninhalt befüllen.

Bis zuletzt sind wir uns nicht schlüssig, ob es Gökceada oder Bozcaada sein soll. Erst am letzten Abzweig entscheiden wir uns für Bozcaada, also für die kleinere der beiden Inseln. Bis die Fähre ablegt, lungern wir noch in einem Café rum. Die Überfahrt ist spottbillig. Der Ticketkontrolleur lässt sich von der Schlange hinter mir nicht beeindrucken, zu wichtig ist ihm, mir noch zu erklären, dass er eine Transalp fährt, mit der er super zufrieden ist. Halbe Stunde Überfahrt, nach kurzer Befragung einiger türkischer Biker ist die Pension Tena schnell gefunden, mitten im Gassengewirr. Frisch gemacht und ab zum Essen. Auch so gut wie nur türkische Touristen. Das Publikum wirkt fast etwas mondän, das Essen im Lodos-Restaurant ebenfalls. Oder hat schon mal jemand Seetang oder Klatschmohn als türkische Vorspeise gegessen? Auf Bozcaada gibt es vier Weingüter. Ich habe nicht alle Weine probiert, aber wenn alle so gut sind wie der von mir genossene Merlot der Kellerei Talay … Da kann die Massenware von Kavaklıdere, Doluca etc. dann doch nicht mithalten.

Am nächsten Tag besichtigen wir die Burg und das kleine Amphorenmuseum, außerdem ist mal wieder Berber-Tag. Mittags essen wir im Park, wo es an einer Bude leckeren Hähnchen-Kebab gibt. Beim Tee in einer Çayhane lernen wir eine Engländerin kennen, die nach hier geheiratet hat. Es stellt sich heraus, dass sie früher eine Art Kollegin von mir war, hat in einem Londoner Bildband-Verlag gearbeitet. Wir erinnern uns, dass wir die Frau und ihren Mann schon beim vormittäglichen Spaziergang gesehen haben. Er saß auf der Treppe, während sie die Blumen pflegte, wobei wir einen Blick in ihr Haus und den Innenhof erhaschen konnten. Sehr gepflegt und etwas putzig. Bozcaada ist, ein wenig wie noch vor einiger Zeit Kalkan, erkennbar griechisch geprägt, was zum Beispiel an den Holzerkern festzumachen ist. Bozcaadas griechische Bevölkerung war auch von dem 1923 geschlossenen Vertrag von Lausanne betroffen, der einen türkisch-griechischen Bevölkerungsaustausch in manchen Gebieten vorsah. Noch heute lebt eine Handvoll Griechen auf Bozcaada, eine orthodoxe Kirche wird gerade restauriert. (Zur Wiedereröffnung soll sich Ministerpräsident Erdoğan angesagt haben, eine Geste, die sicher auch im Zusammenhang mit dem fürchterlichen Gemetzel an Christen in Malatya zu sehen ist.)

Etwas abseits der Mole und mit Blick auf die Festung steht am Ufer eine Bank. Ich klemme mir zum Sonnenuntergang eine Flasche besagten Merlots unter den Arm, plopp, gluck, gluck, gluck – hmmmh! Dazu die Atmosphäre. Nur schön.

Die beiden Abende auf Bozcaada verbringen wir zumeist auf der Treppe sitzend. Tatsächlich spielt sich das abendliche Leben hier zum Großteil auf den Eingangstreppen ab. Da wird geschwätzt, gelacht, gestritten. Auch wir kommen mit einigen Leuten ins Gespräch, unter anderem mit einer deutschen Familie. Der kleinen Tochter, seeehr tierliebend, habe ich abends im Restaurant erklärt, dass gegrillte Katze auch seeehr lecker ist. Rendel kann seeehr böse kucken. Auch der Ehemann der Engländerin hält kurz zu einem Pläuschchen an, wichtiger Bestandteil seines Wortschatzes ist wohl »Wein trinken«. Wenn man auch die Freundlichkeit der Türken kaum mehr erwähnen muss, so fällt die der Einwohner von Bozcaada doch noch einmal besonders auf. Wir können uns nicht erinnern, an einem anderen Ort von wildfremden Leuten derart herzlich begrüßt oder willkommen geheißen worden zu sein.

Bozcaada hat einige sehr schöne Strände und eignet sich prinzipiell für einen etwas längeren Badeurlaub. Mangels sonstiger Sehenswürdigkeiten sollte man sich aber mit ausreichend Lesestoff o. ä. eindecken. Zudem ist ein Bargeldvorrat angesagt, da der einzige Bankautomat zumindest die Annahme meiner EC-Maestro-Karte verweigerte. Und das scheint die Regel zu sein, denn der Bankangestellte verwies mich wie selbstverständlich nach Çanakkale.

Am Abreisemorgen soll uns das Pensions-Faktotum rechtzeitig wecken, damit wir die Frühfähre bekommen, aber die Schnarchnase weckt uns nicht nur nicht, er hat auch noch kein Frühstück vorbereitet. So müssen wir uns sputen. Auf dem Weg zum Hafen fotografieren wir noch einen Polizei-Motorroller – mit Blaulicht auf dem Topcase, so was brauch ich auch (nee, nicht den Schminkkoffer, aber die Leuchte).

Mit diesem Morgen bricht die letzte echte Motorradetappe dieser Reise an. Nach kurzer Überfahrt haben wir wieder türkisches Festland unter den Füßen. Auch unter dem Gesichtspunkt war die Zeit auf Bozcaada etwas Besonderes, denn türkische Inseln gibt es ja nicht gerade »wie Sand am Meer«. Bislang hatten wir mit dem Wetter unheimliches Glück. Zwar regnete es in Eğirdir und Patara, jedoch immer nachts und ohne unsere Fahrt zu behindern. Heute ist der Himmel wolkenverhangen, könnte wirklich Regen geben. Also zunächst flott in RichtungÇanakkale, wo wir noch einmal auf die Fähre müssen, um die legendären Dardanellen zu queren. Am richtigen Fähranleger angekommen, meine ich doch, es sei der Falsche. Also nochmal durch die engen Straßen, nur um dann wieder zu besagtem Anleger zu gelangen. Als wir die Fähre verlassen, fängt es tatsächlich »am Regnen an«. Rendel hat Bedenken, ich meine, dass es noch geht, versuche, solange die Straße noch halbwegs trocken ist, Kilometer zu machen. Auf der Höhe Gallipoli (einer Art türkisches Nationalheiligtum, auf diesem Schlachtfeld hat Mustafa Kemal Paşa, besser bekannt als Atatürk, den Grund für seine spätere Karriere gelegt) hört es dann aber wieder auf und wir können ungehindert weiterfahren. Die Strecke Keşan/ Uzunköprü/ Edirne ist ziemlich öde. Um uns langsam wieder an zu Hause zu gewöhnen, essen wir in Keşan beim Burger King. Okay, wirkliche Heimatgefühle stellen sich hier auch nicht ein …

Laut Reiseführer sollen die Minarette der riesigen Selimiye-Moschee in Edirne schon von Weitem zu sehen sein. Da es an diesem Tag recht diesig ist, lässt dieser Anblick auf sich warten. Das Tuna-Hotel liegt mitten in Edirne, uns graut vor dem Suchen. Kurz nach dem Ortsschild halten wir an und versuchen uns zu orientieren. Da hält hinter uns ein 5er-BMW mit deutschem Kennzeichen. Der Fahrer, augenscheinlich Türke, fragt auf Deutsch: »Kann ich euch helfen?« Und ob! Wir erläutern unser Problem, woraufhin der Mann zum Handy greift, eine kurze Absprache trifft und dann sagt: »Mir nach!« Er eskortiert uns bis direkt vors Hotel und besorgt uns für die nächsten zwei Tage noch einen kostenfreien Dauerparkplatz in Sichtweite – hier in Innenstadtnähe eine Rarität. Dann erzählt er uns noch kurz, dass er Süleyman heißt, in Edirne geboren wurde, in Deutschland aufwuchs und nun vonİstanbul aus eine Spedition betreibt. Zum Abschied gibt er uns noch seine Handynummer und sagt: »Wenn ihr irgendwelche Probleme habt, und sei es beim Zoll mit den Motorrädern: Ruft mich an. Ich komme sofort oder schicke einen meiner Leute. Tschüss.« – Also wirklich …

Das Tuna ist eher ein Hotel für Geschäftsreisende als für Touristen. Aber die Zimmer sind schön, wir schauen direkt auf unsere Moppeds. Außerdem liegt es zentral, alles ist fußläufig zu erreichen. Auf der Suche nach einem Lokal laufen wir etliche Male im Kreis, können uns nicht entscheiden: »Sag du!« – »Nee, du!« Schließlich gehen wir in ein ganz schlichtes Lokanta, wo anscheinend viele Berufstätige ihr Abendessen einnehmen. Einfache Tische, dicht an dicht. Hinter der Theke dampfen Suppen, Eintöpfe, Gemüse und Fleisch. Wir mögen’s auch mal »feiner«, aber das hier ist im Moment so ganz nach unserem Geschmack!

Am nächsten Morgen fahren wir zunächst die Strecke zum Autoreisezugterminal ab, um am Abreisetag keine böse Überraschung zu erleben. Der Bahnhof ist jedoch völlig problemlos zu finden. Also wieder geparkt und dann los, um die Stadt noch etwas zu erkunden.

Ein Reiseautor, der die Türkei auch mit dem Motorrad eroberte, behauptete, dass der, welcher Edirne kennt, die ganze Türkei kennen würde. Sicher eine Übertreibung, aber wer die Türkei kennt und dann nach Edirne kommt, weiß, was der Mann meint. Zwar fehlen die ausgeprägter orientalischen Elemente, aber ansonsten ist Edirne, wiewohl schon weit in Richtung Europa angesiedelt, doch typisch türkisch. Am augenfälligsten sind natürlich die beiden großen Moscheen Selimiye, entworfen vom legendären Baumeister Sinan, und die Alte Moschee. Als wir in Richtung Selimiye laufen, zieht ein kräftiges Gewitter auf. Die blitzumzuckten Minarette und die Kuppel vor schwarzbewölktem Himmel – das sieht faszinierend und etwas bedrohlich zugleich aus. Wir sprechen ein holländisches Paar an, das den ganzen Weg von den Niederlanden bis hier im Fahrradsattel hinter sich gebracht hat und jetzt vor dem Gewitter Schutz sucht. Sie wollen noch bis İstanbul und dann mit dem Flieger zurück. Sie freuen sich über die Tipps, die wir ihnen noch geben können. Die beiden haben uns echt Respekt abgenötigt.

Ich glaube, ich habe noch nie so viele Döner-, Kebab-, Çorba-(Suppen-) und andere »Salonus« gesehen wie hier inEdirne. Und alle nebeneinander, vor allem um den Bedesten, die alten Markthallen. Auch hier sieht man in den älteren Stadtteilen noch unverkennbar griechische Einflüsse, kein Wunder, die Grenze ist nicht weit weg.

Westlich des Stadtkerns fließen die Flüsse Tunca und Meriç, letzterer bildet streckenweise die Grenze zu Bulgarien, die zu Fuß zu erreichen ist. Die Gegend wird als recht lauschig beschrieben, am Flussufer soll es nette Restaurants geben, von denen eins vielleicht als Gastgeber für unser Abschiedsdinner dienen könnte. Also marschieren wir in Richtung Fluss. Die Viertel, durch die wir kommen, sind recht runtergekommen, unter anderem sehen wir die Trümmer einer alten Synagoge. Überall begegnen uns Pferdefuhrwerke, die Mensch und Material bewegen.

Die Gegend um den Meriç ist wirklich schön, sehenswert die alten Steinbrücken, die wohl aus irgendwelchen Gründen vorübergehend abgebaut werden, Stein für Stein lückenlos durchnummeriert. Direkt an der größten Brücke unterhält die Stadtverwaltung einen schönen Teegarten, der mich irgendwie an alte Sultanszeiten erinnert. Nur schade, dass ich hier das einzige Mal auf unserer Reise so richtig beschissen wurde.

Muss ein ziemlich fetter Vogel gewesen sein.

Letzter Abend. Vom Hotelzimmer können wir auf ein Lokal auf der anderen Straßenseite blicken, das Melek Anne. Tagsüber gut besucht, darunter viele jüngere Leute. Der Inhaber wirkt etwas freakig, das könnte was für uns sein. Da äußerlich nichts darauf hinweist, fragt Rendel zur Vorsicht an, ob es auch Bier gäbe. Ja, kein Problem. Als wir dann rübergehen, um zu essen, drucksen die Inhaber ein wenig herum. Es habe sich eine »sehr konservative Muslim-Reisegruppe« angemeldet. Ob wir vielleicht draußen im Garten …? Okay, ist zwar etwas frisch. Das Essen ist wie immer lecker, das zweite Bier bekomme ich im Voraus mit der Bitte, es etwas versteckt zu deponieren. Zum Nachtisch stellt uns der Wirt, der lange in Belgien gelebt hat, eine Leiter an einen der Obstbäume. Die angekündigte Gruppe kommt wohl erst später. Wir pflücken ein paar Kirschen, zahlen und gehen aufs Zimmer, um schon ein wenig zu packen. Dabei können wir beobachten, dass gegenüber mittlerweile alle Frauen Kopftücher aufgesetzt haben. Dann hält in der Nähe ein Bus und eine Gruppe von über 50 Frauen und Männern, der Kleidung nach wohl tatsächlich »sehr konservativ muslimisch«, füllt das Lokal. Doch schon kurz darauf kommen die ersten wieder raus, einige sichtlich erregt bis böse. Irgend etwas scheint ihren Unmut erregt zu haben, weswegen sie das Lokal wieder verlassen. Schade, die Wirtsleute hatten wohl Unmengen an Essen vorbereitet. Vielleicht sollten wir jetzt nochmal …?

Das war’s. Ein letztes Mal bepacken wir die treuen Lasttiere und machen uns auf in Richtung Bahnhof. Da die Streckenführung durch EU- und Nicht-EU-Länder geht, darf der Zug keine Lebensmittel zum Verkauf (bis auf Getränke) mitführen. Darum wissend, haben wir uns noch gut mit Proviant eingedeckt. Als wir das Bahnhofsgelände erreichen, fährt ein Pickup auf uns zu. Der Fahrer will uns nur mitteilen, wie toll er es findet, dass wir auf diese Weise sein Land bereisen. – Keine Ursache!

Mit uns warten nur sieben PKW mit Insassen auf die Abfertigung. Das beinhaltet die Chance, dass die Waggons, vor allem die sanitären Anlagen, die Fahrt über in akzeptablem Zustand bleiben (was sich auch bewahrheiten sollte). Die Formalitäten gehen recht fix. Die Auffahrt auf die Transportwaggons gestaltet sich schwieriger als bei denen der Deutschen Bahn. Diese sind zwar niedriger, bei denen von Optima Tours gibt es aber zwischen den Waggons nur schmale Überfahrbrücken – rechts und links gähnt ein Abgrund. Rendel, bei den DB-Zügen mittlerweile souveräner als mancher Mann, kommt diesmal nur mit der Hilfe eines freundlichen Bahnangestellten in ihre Parkposition. Wir haben ein ganzes Abteil für uns alleine gebucht, können uns also ausbreiten. Der erste Teil der Strecke durch Bulgarien ist nicht elektrifiziert, der Dieselgestank penetrant. Bulgarien muss immer noch ein bitterarmes Land sein. Bei kurzen Stopps drücken sich Bettler an den Abteilfenstern die Nase platt, alles rechts und links der Gleise wirkt alt, trist und desolat. An jeder Grenze werden die Loks gewechselt und die Pässe kontrolliert, gerade nachts etwas nervig. Zum Glück besteht für uns in keinem der Länder Visumspflicht. Die Strecke geht über die Türkei, Bulgarien, Serbien, Kroatien und Slowenien nach Österreich. Landschaftlich hat es uns bei der Durchfahrt vor allem Slowenien angetan, sicher ein Land, dass es auch zu bereisen lohnt.

Nach nur etwa 30 Stunden fahren wir durch den Karawankentunnel (der unendlich scheint), kurz drauf die Endstation Villach. Ich habe mir ein bikerfreundliches Hotel vorgemerkt, bei dem ich anrufe. Leider ist alles belegt, die Dame empfiehlt mir jedoch einen Kollegen, der auch auf Motorradfahrer eingestellt ist. Das Hotel ist schnell gefunden, ein sicherer Stellplatz auch vorhanden. Nach dem Duschen ein kurzer Stadtbummel, dann Abendessen in einem Wirtshaus mit angeschlossener Brauerei. Jooo, auch nicht schlecht.

Der Zug nach Düsseldorf geht am nächsten Tag erst abends, der Tag kann also noch genutzt werden. Ich fühl mich nicht so gut – die Hitze – und bin ein wenig mürrisch und unentschlossen. Letztlich fang ich mich aber wieder und wir machen noch eine kleine Kärnten-Tour: Wörthersee, Faaker See, Ossiacher See, Millstätter See und die Karnische Dolomitenstraße bilden den endgültigen Abschluss eines unvergesslichen Urlaubs, von dem Rendel sagt, dass es, trotz des Sturzes, der schönste ihres Lebens gewesen sei.

Die paar Kilometer von Düsseldorf nach Lüdenscheid sind nur noch ein Klacks, morgen erwartet man mich schon wieder im Verlag. Ein paar Tage muss das Erlebte sacken, nächstes Jahr wohl ’ne Nummer kleiner.

Doch dann die ersten Andeutungen … ich möchte gerne mal den Ararat sehen. Müssten nur die Motorrädergünstiger da runter bekommen. – Na, schaun wir mal.

Stand: 12.01.2008

© 2008 Detlev Simon

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