Nie mehr braver Türke / Von Kristina Tirier, Istanbul
Sie sind gut ausgebildet und ehrgeizig - dennoch kehren jedes Jahr Tausende hochqualifizierte Deutsch-Türken in die Heimat ihrer Eltern zurück.
Dort sind die Perspektiven besser, und die Heimkehrer müssen nicht ständig beweisen, wie gut sie integriert sind.
"Ausschlaggebend war diese Wohnung", sagt Ibrahim Karaman, 37, und blickt hinaus auf den Bosporus. Dort tuckern Dampfer vorbei, und an der Uferpromenade gibt es Yachten jeder Preisklasse zu mieten. Karaman wohnt in Arnavutköy, einem schmucken Istanbuler Stadtteil mit osmanischen Holzhäusern. Als er hier vor zwei Jahren sein neues Zuhause entdeckte, wusste er: jetzt oder nie.
Ibrahim Karaman ist Werberegisseur, geboren im anatolischen Malatya und aufgewachsen in Berlin. Der Umzug nach Istanbul war für ihn ein Karrieresprung: In Berlin rang er um Aufträge, in der Türkei bekam er schnell die Chance, Werbefilme für große Konzerne zu produzieren. Gerade hat er den Fernsehspot eines deutschen Internetanbieters abgedreht. Zielgruppe des Beitrags sind Deutsch-Türken, ausgestrahlt wird er im europäischen Satellitenprogramm türkischer Sender. "Ethno-Marketing" scheint für ihn eine Zukunftsbranche zu sein.
Die Türkei kannte Ibrahim zuvor nur aus den Ferien. Sie war für ihn jahrelang ein Ort der Sehnsucht: Wenn er als Kind als letzter beim Sport aufgerufen wurde, obwohl er so sportlich war. Wenn er an der Discotür abgewiesen wurde, weil er sicher gewalttätig sei, wenn nicht gar ein Terrorist. "In Berlin war ich zwar bei allem dabei, aber ich durfte nur zugucken. In Istanbul habe ich das wohlige Gefühl, dazuzugehören."
Das Problem ist nicht Integration
Auch Rahükal Turgut, 36, fühlt sich pudelwohl in der energiegeladenen Metropole Istanbul. Seit zwei Jahren ist sie bei einem Unternehmen angestellt, das die Lernmaterialien eines renommierten deutschen Bildungsverlags in derTürkei vertreibt. "Bildung ist ein großes Thema in meinem Leben", sagt sie.
Rahükals Eltern kamen als Gastarbeiter nach Wesel. Ihr Vater hat nur einen Grundschulabschluss, die Mutter hat nie eine Schule besucht. Trotzdem setzten sie alles daran, dass ihre vier Kinder die Universität besuchten. Bei der Jüngsten hat es geklappt: Rahükal schaffte den Sprung von der Hauptschule aufs Gymnasium, studierte Englisch, Amerikanische Literatur und Medienwissenschaften. Zuletzt arbeitete sie in Köln für die größte Naturschutzstiftung der Türkei. Dort setzte sie sich leidenschaftlich für Aufforstung und interkulturelle Bildung ein.
Die Rückkehr war für sie immer ein Traum, unzählige Male aufgeschoben.
Denn wie viele Gastarbeiter wollten auch Rahükals Eltern nur kurz in Deutschland bleiben. Schon als Rahükal ein Jahr alt war, kehrte sie mit Mutter und Geschwistern zurück ins anatolische Heimatdorf bei Denizli. Der Vater wollte in ein, zwei Jahren nachkommen, wenn er genug Geld gespart hätte. Nach sieben Jahren war er immer noch nicht zurück. Schließlich entschloss sich die Mutter, mit den jüngeren Kindern erneut nach Deutschland zu gehen. Die beiden Schwestern heirateten und blieben in der Türkei. Zerrissen ist die Familie bis heute.
"Viele Familien pendeln seit langem zwischen beiden Staaten", erklärt die US-Anthropologin Susan Rottmann. Sie forscht seit drei Jahren über das Phänomen der Rückkehrer. "1984 gab es kurzzeitig einen Rückkehrerboom, weil der deutsche Staat eine Prämie zahlte. Damals kehrten etwa 200.000 Türken zurück. Heute liegen die Rückkehrerzahlen bei jährlich circa 35.000 Personen, das sind die Migranten ohne deutschen Pass. Wie viele von ihnen dauerhaft bleiben, wissen wir nicht."
Neu aber ist, dass seit ein paar Jahren auch gut ausgebildete Migranten der zweiten und dritten Generation zurückkehren, weil sie bessere Berufschancen in der Türkei sehen. "Deren Problem ist nicht ihre gescheiterte Integration," erklärt Susan Rottmann, "sondern die fehlenden Perspektiven in Deutschland."
Auch aus Rahükals Freundeskreis sind viele Akademiker zurückgekehrt. Sie haben sehr gute Universitätsabschlüsse, internationale Erfahrungen, "haben scheinbar alles richtig gemacht und kriegen trotzdem keinen Job. Das frustet".
"Da merke ich plötzlich, wie korrekt und deutsch ich doch bin"
Als Rahükal vor einem Jahr ein Jobangebot in Istanbul erhielt, sagte sie sofort zu. Der Übergang war für sie fließend. Sie kannte das Berufsleben, fand sich in der türkischen Mentalität und Arbeitswelt sofort zurecht. Besonders hilft ihr, dass sie akzentfrei Türkisch spricht. Sie wohnt in Cihangir, dem europäischsten Viertel der Stadt, "Klein-Berlin" genannt. Dort tingelt sie abends zwischen hippen Cafés, hört an jeder Ecke Deutsch und kann als Single-Frau ungezwungen leben.
Gleichzeitig weiß sie um die türkische Wirklichkeit. Viele alte Leute halten sich als Straßenverkäufer über Wasser, weil die Rente nicht reicht, ein gutes Gesundheitssystem gibt es nur für die Reichen. Politisch ist das Land tief gespalten zwischen der islamisch-konservativen Regierung und der kemalistischen Opposition. Hier wird nicht um ein Prozent Kindergelderhöhung gestritten, sondern gleich um die Änderung von 26 Verfassungsartikeln.
Ähnliche Probleme hatte auch Filiz, 34, vor Augen, als sie 1996 nach ihrer Heirat mit Ziya, 38, nicht in die Türkeiziehen wollte. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, er in der Türkei. Vor zwei Jahren wanderten sie dann doch aus, zogen samt ihrer drei Kinder in Ziyas Heimatstadt Çorlu, einer expandierenden Industriestadt 120 Kilometer entfernt von Istanbul. Die Arbeit rief, Ziya stieg in die Ledergerberei seiner Familie ein.
Und Filiz vermisst seither Deutschland
In der Türkei kann sie ihren Beruf als pharmazeutisch-technische Assistentin nicht ausführen, die Bürokratie ist schwerfällig und die türkische Mentalität manchmal fremd. "Viele Zusagen werden hier nicht so genau genommen. Da merke ich plötzlich, wie korrekt und deutsch ich doch bin." Andererseits genießt sie die türkische Herzlichkeit. Damit die Kinder ihre Zweisprachigkeit nicht verlieren, spricht sie mit ihnen zu Hause Deutsch. Wenn Schulfreunde zu Besuch sind, hören sie das nicht gerne: "Mama, du bist peinlich." Filiz lacht, vom nächsten Deutschlandbesuch wird sie einen neuen Stapel Lernhefte mitbringen.
Richtig schlimm wurde es nach dem 11. September 2001
Rahükals Erinnerungen an Deutschland sind zwiespältig. Obwohl sie sich als Kölnerin fühlte und eine Menge deutscher Freunde hat, empfand sie seit den neunziger Jahren eine "wachsende Diskriminierung", wie sie sagt. "Richtig schlimm wurde es nach dem 11. September 2001. Da musste ich mich auf einmal nicht nur für alleTürken, sondern auch für alle Muslime dieser Welt rechtfertigen. Selbst vor liberalen Freunden. Das fand ich so unfair." Istanbul bedeutet für sie auch eine Pause von den ständigen Integrationsdebatten, "eine Auszeit davon, mich immer erklären zu müssen".
Ibrahim Karaman kommt gerade aus Berlin zurück und hat dort die Sarrazin-Debatte miterlebt, "noch ein Grund mehr, warum es gut war, dass ich gegangen bin". Er wolle nicht der "brave Türke" sein, wie man es in Berlin von ihm erwarte - "bloß nicht auffallen", ein Vorbild sein für die anderen. "Doch zum Glück muss ich das nicht mehr persönlich nehmen."
Rahükal nimmt die Debatte sehr wohl persönlich. "Deutschland und die Türkei sind wirtschaftlich so eng miteinander verbunden. Aber sie sind noch keine Familie. Sie sind eher wie Stiefgeschwister aneinander gekettet. Warum nutzen sie nicht ihre Chancen - mit Einfühlungsvermögen und auf gleicher Augenhöhe?"
Trotz aller Anfeindungen haben die Rückkehrer ihre Liebe zu Deutschland nicht verloren. Für Ibrahim ist Berlin seine alte Heimat und Istanbul seine neue. Für Filiz bleibt Deutschland die Heimat. Und Rahükal stellt selbstbewusst fest: "Ich kann mich eigentlich überall integrieren." Oder wie es die Wissenschaftlerin Susan Rottmann ausdrückt: Heimat ist ein vielfältiger Ort geworden.
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