Harran Ebene und aufdringliche Kinder
Nur einen „Steinwurf“ entfernt von der Grenze nach Syrien, etwa 44 km südlich von Sanliurfa liegt das urtümliche Dorf Harran, das kulturhistorisch bedeutend aus für die Region typischen Lehmhäusern besteht.
Der Weg nach Harran führt teilweise über pistenähnliche Straßen bis wir zunächst zum Ruinenhügel Sultantepe gelangen. Unter dem Ruinenhügel Sultantepe wurden seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Überreste einer antiken Stadt ausgegraben. Man fand einen Tempel des Mondgottes Sin aus dem späten 3. Jahrtausend vor Christus, Stelen und Inschriften aus der Zeit Nabonids, der zwischen etwa 550 und 539 vor Christus dort residierte sowie als eines der eindrucksvollen Bauwerke, die Reste einer großen Moschee aus frühislamischer Zeit, deren gewaltiges Minaret noch immer über 33 m in die Höhe ragt. Beeindruckend ist auch die Zitadelle, die offenbar aus oder auf den Resten eines sabaäischen Tempels im 11. Jahrhundert gebaut wurde.
Folgt man der kleinen Straße durch Harran etwa 15 km weit nach Osten, gelangt man zu den Bazda-Steinbrüchen, in denen jahrhundertelang Baumaterial für Harran, Jethro und die Han al-Ba'rur-Karawanserei gewonnen wurde. Übrig geblieben sind Hohlräume gewaltigen Ausmaßes, deren Besuch auf jeden Fall lohnenswert ist. Auch die etwa 5 km weiter südöstlich gelegene Han al-Ba'rur-Karawanserei selbst ist sehenswert. Leider sind die Kinder in Harran ein abschreckendes Beispiel für tourismusbedingte Erziehungsschäden, und es bleibt zu hoffen, dass die Erwachsenen dort irgendwann in der Lage sein werden, die teilweise unverschämte Bettelei und Drängelei der Kinder zu beenden.
Die bösen Kinder von Harran
Also Harran war ein besonderes Erlebnis. Deshalb ist diesem Ort auch ein eigenes Kapitel gewidmet. Eigentlich ist es ein schönes Ruinendorf mit Resten einer gewaltigen Moschee, Bienenkorbhäusern und den Ruinen einer imposanten Zitadelle. Wir fanden nichts darüber im Reiseführer, wahrscheinlich, weil eh keiner so weit in den türkischen Osten reist. Wir aber schon, weil wir ja weiter nach Syrien wollten. Harran war als Sehenswürdigkeit auf der Karte eingezeichnet, und der Oberboss hatte auch schon mal was davon gehört. Folglich wollten unsere Menschen diesen Ort anschauen. Nach dem letzten Einkauf in Sanliurfa nahmen wir also die Straße nach Süden. Wir wackelten im Rhythmus der Schlaglöcher mit den Köpfen, so dass ein jeder annehmen musste, wir würden den härtesten Hardrock hören, den es gibt. In bester Laune bogen wir dem Schild "Harran" folgend nach Osten ab. Nichts ahnend, was auf zukommt, fuhren wir bald darauf in den Ort ein und wurden gleich mal von einer Horde Jugendlicher empfangen. „I am your friend.
I am your guide! Don't forget me! No other guide but me! I have license!”. Die Stimmen überschlugen sich schier. Vielleicht zehn schreiende und gestikulierende Jugendliche rannten neben unserem Bus her, unterstützt von jüngeren Kumpanen auf Fahrrädern.
Der Oberboss erklärte den Jungen, dass wir Harran anschauen wollten, zunächst aber mal ohne Führer, und dass wir überhaupt erst mal richtig in den Ort wollten. „Come here!“, zeterte einer der Burschen, „No, come there, there better“, kreischte ein anderer. Schließlich erreichten wir dem eigenen Instinkt folgend den Ortsplatz an der Zitadelle. Fast lautlos glitt ein Fahrzeugder türkischen Polizei heran, was zur Folge hatte, dass die Kinder und Jugendlichen schlagartig auseinander stoben und es für einige Minuten fast ruhig wurde. Die Polizisten schauten uns aber nur an, hoben kurz die Hand zum Gruß und glitten dann ebenso lautlos weiter um vielleicht 100 m von uns entfernt zu parken. Da ich inzwischen ein Auge auf die Polizei habe, kann ich sagen, die haben uns genau beobachtet. Inzwischen kam ein rundlicher Mann daher gerannt und erklärte unseren Menschen mit breitem Grinsen, sie müssten bei ihm nun ein Ticket für Harran kaufen. Also wurden zwei mal 5,- Lira Eintritt berappt. Wir Hunde waren frei und Parken war inklusive. Inzwischen war vor unserem Bus eine mittlere Menschenansammlung angewachsen, wobei ein stiller, europäisch gekleideter junger Mann auffiel, der vielleicht Mohammed hieß und den unsere Menschen schließlich als Führer engagierten, als klar wurde, dass ohne solch eine Begleitung die Besichtigung der Burg zum Horrortrip werden würde. Sicherheitshalber mussten wir Hunde im Bus bleiben und aufpassen. Um uns herum tobte inzwischen die Menschenmenge, die hauptsächlich aus "Money-Money"-schreienden Kindern bestand, und immer wieder klopfte einer an die Bustüren, sogar den Spiegel auf der Beifahrerseite haben sie verstellt. Schließlich hörte ich den Oberboss hoch oben vom Kastell herunterbrüllen. So was wie „Finger weg von der Steckdose“. Durchs Heckfenster konnte ich einen vielleicht 8-Jährigen Bengel sehen, der mit seinen Fingern in der 220 Volt Steckdose des Anhängers herumbohrte. Seit Onkel Aris Erlebnissen mit den Schweizer Starkstromleitungen kennen wir Hunde uns mit Strom aus und wissen wie
gefährlich es sein kann damit herumzuspielen. Der Bengel drehte kurz seinen Kopf in Richtung von Oberbosses Brüllen um dann aber ungeniert weiterzumachen. Dann brüllte auch die Chefin los, und endlich rief ein Erwachsener aus der Menschenmenge den dummen Jungen zu sich. Wir konnten zwischendurch immer mal wieder Chefin und Oberboss auf den Ruinen sehen, gefolgt von einer Herde Kinder, die ständig an Kameras und Hosen unserer Menschen zupften, und ich sah am Blick vom Oberboss, dass er mehr als genervt war.
Als unsere Menschen zurück am Bus waren, rückte der Oberboss zuerst mal wieder die Spiegel vom Fahrzeugzurecht und klappte den Deckel der Steckdose wieder zu und erklärte unserem Führer, wie gefährlich es sei, wenn die Kinder hier einfach so am Auto herumspielten. Mohammed lud uns ein zu seinem Haus zu kommen, doch unsere Menschen kapierten den Sinn der Einladung zunächst noch nicht, sondern wollten erst mal das Licht der Nachmittagsonne nutzen um die anderen Ruinen von Harran zu fotografieren. Ich hab's gleich kapiert, Mohammed wollte uns vor den Kindern und Menschen schützen, damit die nichts am Auto kaputt machten und so. Aber der Oberboss fuhr hinauf auf einen kleinen Hügel und stellte unser Gespann dort auf den Parkplatz. Mohammed zeigte uns Ausgrabungen, die von deutschen Archäologen geleitet wurden und führte uns über ein schönes Ruinenfeld, das mich ein wenig an Palmyra erinnerte. Hier oben waren es etwas weniger Kinder, die hinter uns herrannten. Lara hielt sie uns mit gutmütigen Scheinattacken vom Hals. Tante Kyra und Onkel Ari bewachten den Bus. Ich hatte gleich kein so gutes Gefühl dabei, den Bus dort alleine stehen zu lassen. Als wir schließlich zurück waren, stellte der Oberboss fest, dass wieder alle Spiegel verdreht waren, an allen Klappen und Verschlüssen herumgefingert worden war und dass außerdem irgendein Arsch auf unseren Anhänger gekackt hatte. Wirklich draufgekackt! So etwas würde ein Hund ja nie tun. Ich war gleich ganz außer mir vor Zorn. Der Oberboss schloss die Bustür auf und Ari und Kyra stürzten gleich wutentbrannt heraus und verbellten die Kinder und jagten sie den Hang hinunter. Sie hatten sich die Rädelsführer genau gemerkt, wollten aber noch immer ein friedliches Auskommen mit den Kindern. Darum haben sie sie nur verjagt. Nach dieser Erfahrung entschlossen sich unsere Menschen das Angebot unseres Führers anzunehmen und den Bus in seinen Hof zu fahren. Als Mohammed dann noch vorschlug, hier zu übernachten, willigten sie gerne ein, zumal er versprach uns am nächsten Tag die weitere Umgebung von Harran zu zeigen. Weil wir Hunde alle noch dringend aufs Klo mussten, gingen wir – brav an der Leine – nochmals hinaus aus dem Hof zu einer kleinen Wiese in der Nähe des Ausgrabungsgeländes. Darauf schienen die Kinder nur gewartet zu haben, denn kaum waren wir auf der Straße empfingen sie uns mit einem Hagel von Steinen. Der Oberboss erklärte den Kindern, dass sie das sein lassen sollten, weil wir Hunde sonst böse würden, doch das fruchtete alles nichts. Polizei war keine mehr da, und die Erwachsenen kümmerten sich nicht um das Theater. Die Kinder schrien ständig „Money, Money und Bonbon“ und warfen weiter Steine, bis Tante Kyra und Onkel Ari schließlich erneut wutentbrannt ein stückweit auf sie zuliefen. Da rannte die Meute teilweise heulend davon. Jetzt schimpften aber die Weiber, die sich das Spektakel in aller Ruhe von den Haustüren aus angeschaut hatten auf uns Hunde und hoben drohend die Fäuste. Na ja, letztlich haben wir es uns verkniffen an diesem Abend zu kacken und haben den Rückzug zum. Bus angetreten, vor allem nachdem Mohammed herbei gerannt kam und uns eindringlich bat mitzukommen. Er erklärte uns bei dieser Gelegentheit auch, dass die Polizei nur wegen den Kindern hier Patrouille fahre und Harran für diese Art von Kinderterror leider berühmt sei.
Die Nacht war unruhig, ich träumte von einem Krieg mit bösen Kindern und nahm mir im Traum vor, bei der nächsten Gelegenheit nicht mehr den Schwanz einzuziehen, sondern so einen Bengel in den Arsch zu beißen. Als ich Lara das am Morgen erzählte, war sie gleich Feuer und Flamme. Genau so würden wir es machen. Wenn uns wieder Kinder attackieren rennen wir einfach rasch hin und beißen die allerfrechsten in den Arsch…
Mohammed zeigte uns am nächsten Morgen noch einen gigantischen Höhlensteinbruch und eine alte Karawanserei. Das war alles nur einige Kilometer entfernt von Harran, aber die Leute waren viel netter und auch die Kinder waren dort anständig. Trotzdem waren wir alle froh, als unsere Menschen gegen Mittag verkündeten, wir würden nun nach Syrien weiterfahren. Die Grenze war nicht weit und schon eine halbe Stunde später waren wir in Akcakale, dem türkischen Grenzort. An einer Art Güterbahnhof stand in einem kleinen Holzhäuschen ein Soldat, den der Oberboss fragte, wo denn nun der Grenzübergang sei. Er sei hier, meinte der Soldat, nur sei er gerade geschlossen bis um 14:00 Uhr wegen Mittagsschlaf der Zöllner. Trotzdem öffnete man uns ein ziemlich schmales Tor, durch das wir in einen winzigen Hof fuhren, auf dem kaum mehr als 3 Fahrzeuge Platz hatten. Dort warteten wir bis die Zöllner aufwachten und machten inzwischen selber Mittagspause.
Später kam einer und checkte die Autopapiere und Pässe und tatsächlich um 14:00 Uhr wurde ein anderes kleines Tor geöffnet und wir fuhren nach Syrien. Hinter uns schloss sich das Tor sofort wieder, vermutlich um zu verhindern, dass türkische Kinder uns folgten.
Erzählt von Lucy, dem weitgereisten Hund
Mit freundlicher Genehmigung von Hans-Michael Hackenberg
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